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ag-geldordnung-und-finanzpolitik - Re: [AG-GOuFP] Kapitalismus - Definition für Vision

ag-geldordnung-und-finanzpolitik AT lists.piratenpartei.de

Betreff: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik

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Re: [AG-GOuFP] Kapitalismus - Definition für Vision


Chronologisch Thread 
  • From: moneymind <moneymind AT gmx.de>
  • To: ag-geldordnung-und-finanzpolitik AT lists.piratenpartei.de
  • Subject: Re: [AG-GOuFP] Kapitalismus - Definition für Vision
  • Date: Sun, 10 Aug 2014 22:18:42 +0000
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-geldordnung-und-finanzpolitik>
  • List-id: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik <ag-geldordnung-und-finanzpolitik.lists.piratenpartei.de>

Hi Thomas,

hierzu:

_Auf Platz 1 gehört der Staat und sein Gewaltmonopol_. *
Denn ohne den Staat (ob nun als antiker Stadt- oder moderner
Nationalstaat) als rechtssetzende und rechtsgarantierende Instanz kann
es Eigentum, Freiheit, Gleichheit und Vertrag (=bürgerliches Recht,
Privatrecht, Zivilrecht) nicht geben (auch wenn Anarcholiberale meinen,
das Gegenteil behaupten zu können).
In other words: Staat ohne Kapitalismus (d.h. ohne eine Sphäre des
Zivilrechts/Privatrechts, also ohne Eigentum, Freiheit, Gleicheit und
Vertrag) kann es jederzeit geben und hat es historisch auch viel öfter
und geographisch verbreiteter gegeben als Staat "mit" Kapitalismus. Aber
_Kapitalismus ohne Staat ist schlicht eine logische und praktische
Unmöglichkeit_, auch wenn Anarcholiberale meinen, das Gegenteil
behaupten zu müssen und glauben, ALLE Staatsfunktionen "privatisieren"
zu können.
Damit sähe meine Kapitalismusdefinition folgendermaßen aus:
/1.) Staat mit Gewaltmonopol und Steuerhoheit (geregelt im öffentlichen
Recht)
2.) Eigentum, Freiheit, Gleichheit und Vertrag (geregelt im Zivilrecht)
"Staat" ist die Sphäre des öffentlichen Rechts, deren Grundprizip
"Herrschaft" ist (weswegen eine nominale Steuerforderung auch etwas ganz
anderes ist als eine nominale Forderung aus einem Vertrag zwischen
Privaten, denn sie beruht nicht auf Konsens, sondern herrschaftlicher
Aufoktroyierung).

hast Du geschrieben:

Interessante logische Struktur. Das stellt den globalen Kapitalismus
grundsätzlich in Frage, d.h. erklärt ihr sogar für unmöglich.

Keineswegs. Beim internationalen Handel über Staatsgrenzen hinweg könnte es so aussehen, als ob es keine übergeordnete rechtssetzende Instanz gäbe. Tatsächlich ist jeweils nur die Frage, welche nationale Rechtsordnung dabei angewendet wird, die des einen Handelspartners oder die des anderen. Dafür gibt es das internationale Privatrecht, das das regelt:

http://de.wikipedia.org/wiki/Internationales_Privatrecht

Anders ist es beim Verhältnis von /Staaten/ zueinander, auch wenn es zwei Rechtsstaaten sind. Hier gibt es bisher keine wirksame übergeordnete Rechtsinstanz mit Gewaltmonopol, die die Rechtsförmigkeit der Beziehungen zwischen zwei Staaten wirksam herstellen könnte (Internationalen Organisationen wie der UN fehlt eben dieses Gewaltmonopol). Zwischen Staaten geht es deshalb real nicht um Recht, sondern um Macht.

Vor diesem Hintergrund: In welche Richtung spielen TTIP und TiSA? Wie können wir das bezeichnen, wenn multinationale Konzerne *ohne* staatliche (Rechts-)infrastruktur global operieren?

Als Versuch großer Konzerne, in einem internationalen Raum, in dem die gesetzgebenden Instanzen schwach sind, ihre Machtinteressen durchzusetzen - über Politiker, die bereits jahrzehntelang ideologisch marktfundamentalistisch beeinflußt wurden, sodaß es eine Chance gibt, ihnen diese Machtinteressen als "im Allgemeininteresse" zu verkaufen und so durchzudrücken.

Zu folgendem:

Daß die bisherigen Wirtschaftstheorien dabei allesamt kläglich
gescheitert sind und die Gründe für den Erfolg derjenigen, die es
"geschafft" haben (Südkorea z.B.) für die meisten Ökonomen recht dunkel
sind (weil diese ja per definitionem Märkte immer und überall am Werk
sehen und daher glauben, diese würden sich selber herstellen, wenn man
nur den Staat zurückdrängt) dürfte bekannt sein.
Vielleicht hilft es ja bei der Schärfung unserer Kapitalismusdefinition,
uns ganz konkret und praktisch zu fragen:
Wenn wir "Kapitalismus" (z.B. in Nordkorea) einführen wollten: was
würden wir (auf der Basis unserer Kapitalismusdefinition) als erstes
machen/einführen? Was als zweites? Usw.
Das nur als Anregung.

hast Du geschrieben:

gute Idee, ich sehe hier aber schon sich einen Konflikt anbahnen. Wenn wir über Südkorea sprechen, dann unterstellen wir implizit, dass diese
ein kapitalistisches System wünschen.


Erstens, Nordkorea, und zweitens, nein. Ich will nirgends Kapitalismus einführen, ich habe nur gesagt, der Test für eine Kapitalismus-Theorie oder -Definition ist: kann man damit erfolgreich Kapitalismus herstellen?

In den postozialistischen Transformationsländern hat man mit marktfundamentalistischen Theorien unendliches Chaos angerichtet, indem man gesagt hat: der Staat muß sich einfach nur zurückziehen, dann entwickeln sich funktionsfähige dynamische Märkte von ganz alleine. Man hat kein wirksames Zivilrecht institutionalisiert. Das hat seit Gorbi dort einen absolut irren Prozess in Gang gesetzt.

Doch auch die Keynesianer haben für die institutionellen Grundlagen des Kapitalismus (ÖffRecht -->Privatrecht) keinerlei Sensorium und erzählen daher entwicklungspolitischen Stuß.

Warum ist das für uns relevant? Nicht nur für die Weltwirtschaft (Entwicklungsländer, Entwicklungshilfe und -Beratung etc.), sondern direkt für die EU - für postsozialistische Beitrittskandidaten wie Bulgarien z.B., etc.

Selbst wenn sich klar nachweisen ließe, dass das Modell für alle Beteiligten besser wäre, dann bleibt doch ein Widerspruch zu einem allgemein gefassten Freiheitsbegriff. "Man kann ja niemanden zu seinem Glück zwingen."

Natürlich, mir ging es doch aber gar nicht darum. Sondern darum, ein gedankliches "Testmodell" für die Kapitalismusdefinition bereitzustellen, und ein Erfolgskriterium für eine Theorie.

Der Kapitalismus im Westen ist nicht von Ökonomen geschaffen worden, sondern von Juristen, und die wurden vorbereitet von Rechtsphilosophen (Kant, Hegel, preußische Reformen, Savigny etc.). Die Entwicklungs- und Transformationsberatung hat man dann Ökonomen anvertraut, und die haben völlig versagt - weil ihre Theorien des Kapitalismus nichts taugen und dessen Essenzen eben gerade NICHT erkennen, weswegen sie im Praxistest nicht zu den Ergebnissen führen, zu denen sie führen sollen.

Nochmal: jenseits eines bloßen gedanklichen Tests für die Kapitalismusdefinition der AG ist das auch DIREKT relevant nicht nur für die Weltwirtschaft, sondern auch für die EU (s.o.).

Letztlich ist, was du als Staat bezeichnest, in einer modernen freiheitlichen Bürgergesellschaft auch ein Vertrag (Gewaltmonopol gegen weitläufige Rechts- und Sicherheitsgarantien).

Formal gesehen nach Rousseaus Gesellschaftsvertragstheorie ja, weil Recht/Gesetz und Vertrag eben die ideologische Kernidee der westlichen Welt bilden und auch die Grundidee der demokratischen Staatsform und des Rechtsstaats liefern. Real sind Staatsbildungen - wie auch Verträge - von Machtkämpfen getriebene Prozesse.

Und diesen Vertrag nicht einzugehen zu dürfen, ist Teil der Freiheit.

Natürlich, darum ging es mir nicht.

Ich habe nirgends gesagt, man SOLLE Nordkorea oder sonst irgendein Land in einen Kapitalismus verwandeln (auch Arne hat mich da anscheinend mißverstanden, anscheinend hab ich mich nicht klar ausgedrückt).

Ich habe gesagt, eine zureichende Kapitalismusdefinition/-Theorie müßte einen solchen Prozess erfolgreich anleiten können und nicht zu solchen epic fails führen wie die herrschenden Theorien in den Transformations- und Entwicklungsländern, die (meinen) Kapitalismus (zu) WOLLEN.

Genauso muß eine zureichende Theorie als Anleitung bei der ABSCHAFFUNG von Kapitalismus zum Erfolg führen - ohne daß ich damit sagen würde, er MÜSSE oder SOLLE abgeschafft werden. Mir ging es allein um ein Testkriterium für die Theorie.

M.E. gibt es da eine kulturelle Basis und ich denke, um bei
Gedankenexperimenten zu bleiben, eine Rekapitulierung der deutschen
Wiedervereinigung wäre ein besseres Experimentierfeld.

Nein, die deutsch-deutsche Wiedervereinigung eignet sich als Beispiel gerade nicht, weil die DDR einfach dem Rechtsgebiet der BRD beitreten konnte und damit ihren Kapitalismus wie ja gewünscht ("kommt die DM nicht, kommen wir zu ihr") direkt bekam (mit allen Konsequenzen).

In RU dagegen fehlte wie in vielen Entwicklungsländern jegliche Privatrechtstradition - plus dem Bewußtsein, daß die Installierung eines funktionierenden, durchsetzbaren privaten Vertragsrechts der erste Schritt der Transformation hätte sein müssen (Jeffrey Sachs - "nachrangiger Schritt"). Stattdessen beseitigte man die Mengenplanung und wollte den Staat einfach aus der Wirtschaft rausnehmen. Ein anarchokapitalistisches Realexperiment, Ergebnis: völliges Chaos, ungeheures Ausmaß an Leiden der Bevölkerung, Lebenserwartung im Vergleich zu den sozialistischen Jahren davor um Jahre gefallen.

Falsche Theorien führen eben zu anderen als den erwarteten/versprochenen Ergebnissen.




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