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ag-geldordnung-und-finanzpolitik - Re: [AG-GOuFP] Kapitalismus - Definition für Vision

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ag-geldordnung-und-finanzpolitik AT lists.piratenpartei.de

Betreff: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik

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Re: [AG-GOuFP] Kapitalismus - Definition für Vision


Chronologisch Thread 
  • From: moneymind <moneymind AT gmx.de>
  • To: ag-geldordnung-und-finanzpolitik AT lists.piratenpartei.de
  • Subject: Re: [AG-GOuFP] Kapitalismus - Definition für Vision
  • Date: Tue, 12 Aug 2014 13:41:01 +0000
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-geldordnung-und-finanzpolitik>
  • List-id: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik <ag-geldordnung-und-finanzpolitik.lists.piratenpartei.de>

Hallo Arne,

ich denke, wir sind hier an einem zentralen Diskussionspunkt.

Ja, den Kernideen unserer westlichen Zivilisation und ihres Rechtssystems.
Der von dir angesprochene Grundsatz der Gleichheit ist m.E. die Lebenslüge des Rechtsstaates.


Inwiefern?

Der Grundsatz der Gleichheit ist eine Errungenschaft und entscheidendes Qualitätsmerkmal einer Rechtsordnung.

Das ist ein Werturteil. Es geht hier um Definitionen dessen, was Kapitalismus "ist", oder nicht?

Aber er ist eine Lebenslüge in sofern, weil „*formal*“ die Gleichheit vor dem Gesetz nicht nur suggeriert, sondern auch in hohem Maße eingehalten wird, - aber - und das ist der entscheidende Punkt - „*inhaltlich*“ diese Gleichheit durch bestimmte Gesetze systematisch verletzt und ausgehebelt wird.

Was soll "inhaltliche Gleichheit" denn genau sein? Gleichheit in Bezug worauf?

"Gleichheit" ist per se formal, weil sie von allen Unterschieden ja gerade absehen muß.

Nun ist klar, daß - wenn man ungleiche Vertragspartner gleich behandelt - dieselbe Behandlung für beide Partner eine ganz unterschiedliche Bedeutung haben muß.

Das ist nicht irgendwie ein "Fehler", sondern eine dem Rechtsgrundsatz der "Gleichheit" inhärente "Paradoxie", die ich (mit dem Rechtswissenschaftler Johann Braun) "Dialektik der Gleichheit" genannt habe.

Diese Paradoxie ist nicht Gott gegeben, sondern die Folge bestimmter gesetzlicher Regelungen.

Als Ursache für diese Paradoxie sehe ich, dass sich Vertragspartner bis zur Sittenwidrigkeit über den Tisch ziehen können und dürfen.


Gib mir bitte ein Beispiel, nein, besser: erkläre das bitte anhand des Beispiels, das ich verwendet habe (Arbeitsvertrag, Arbeitsrecht), damit wir pille-palle-Beispiele wie Handyverträge etc. mal außen vor lassen und uns auf existenziell wichtiges konzentrieren.

Was genau soll beim Arbeitsvertrag zwischen einem produktionmittellosen Lohnarbeiter und einem Produktionsmitteleigner die von Dir angestrebte "inhaltliche Gleichheit" sein, oder wie soll sie hergestellt werden können?

Und wie soll sich das vom bestehenden Arbeitsrecht unterscheiden?
Die von mir vorgeschlagenen *standardisierten und ausgewogenen* Vertragsvorlagen haben die Funktion, dass das über den Tisch ziehen erheblich eingedämmt wird und damit die formale und inhaltliche Gleichheit auf einem Teilgebiet der Rechtsverhältnisse hergestellt wird.

Das Arbeitsrecht beinhaltet wie gesagt solche Standardisierungen. Worin sollen sich Dein Konzept von solchen Regelungen unterscheiden?

Mein Kernpunkt ist, es ist Ergebnis eines Machtkampfs zwischen Interessengruppen (Gewerkschaften = "Arbeitnehmer"-Verbänden und Unternehmerverbänden) um politische Macht.

Dabei wird über die angesprochene Problematik zwischen Mächtigen und Schwächeren hinausgegangen. Auch gleich Mächtige ziehen sich über den Tisch, indem der eine Vertragspartner z.B. erheblich mehr Erfahrung als der Andere.


Auch Wissen ist natürlich Macht.

Ein weiterer Baustein in diese Richtung wäre, wenn Freiheit und Verantwortung eng verbunden werden würden oder Firmen für ihre Werbeaussagen haften müssten.

Bitte komme mal auf das Beispiel Arbeitsvertrag zurück, danke.

Es wäre nett, wenn Du auch sonst auf die Kernpunkte meiner Modifikation Deiner Kapitalismusdefinition eingehen könntest, nämlich: Staat mit Gewaltmonopol als notwendige Grund- und Vorbedingung jedes Kapitalismus, und Lohnarbeit, d.h. einen Klassenkonflikt.

Mein Vorschlag besteht nicht aus „standardisierten“, sondern "*standardisierten und ausgewogenen*“ Vertragsvorlagen, die von den betroffenen Vertretern der Vertragsparteien und den Gerichten erarbeitet und speziellen Fachgerichten beschlossen werden.

Was ist daran neu (bitte am Beispiel Arbeitsrecht, z.B. Tarifvertrag)?

Die von mir vorgeschlagenen standardisierten und ausgewogenen Vertragsvorlagen (saVs) sollen wie gesagt nicht nur den Schwachen gegen die Mächtigen dienen, sondern insbesondere dem Allgemeininteresse auf folgende Weise:

* Analog zu DIN-Normen im technischen Bereich, würden saVs Rechtsgeschäfte erheblich vereinfachen und dadurch erhebliche Sysnergieeffekte schaffen.

* Der Wettbewerb würde sich verstärkt auf die Leistungen konzentrieren und weniger auf eine mögliche Übervorteilung des Vertragspartners durch den Vertrag.

* Da die Rechtsfolgen bei Vertragsverletzungen bis ins Detail ausgearbeitet wären, würde die Rechtssicherheit erheblich erhöht werden.

* SaVs dienen der vorbeugenden Bekämpfung von Rechtsstreiten.

* Die Eindämmung der Ausbeutung im Schein des Rechtes dämmt auch die Vermögenskonzentration ein.


Ist alles geschenkt, aber längst Praxis - und eben Ergebnis von Machtkämpfen, in denen natürlich jede Seite ihr jeweiliges Interesse als "Allgemeininteresse" darstellt.

* Last, but not least: Ein Rechtssystem, dass nicht nur formal, sondern auch inhaltlich „gerecht“ ist, dient dem Zusammenhalt der Gesellschaft.



Bitte erkläre mir, was "inhaltliche Gleichheit" und "inhaltliche Gerechtigkeit" genau sein sollen.

Hier haben wir einen Dissens, den wir vertiefen sollten:
M.E. ist nicht der Staat per se der Urgrund allen Kapitalismus, sondern ganz bestimmte Rechtsnormen, die ich in den Punkten 1-3 meiner Kapitalismusdefinition angesprochen habe.


Natürlich. Der Staat ist NOTWENDIGE BEDINGUNG des Kapitalismus und dann natürlich (via Eroberung politischer Macht, verbunden mit Gesetzgebungsgewalt) Machtinstrument der Interessengruppen bei der Durchsetzung ihrer jeweiligen Partialinteressen (via Lobbyismus und Öffentlichkeitsarbeit, sprich: Propaganda).

Wir müssen den Staat nicht abschaffen, um den Kapitalismus abzuschaffen, sondern lediglich ein paar ordnungspolitische Rahmenbedingungen ändern.

Dann hast Du mich komplett mißverstanden.

Ich habe nirgends gesagt, man müsse den Staat abschaffen um Kapitalismus abzuschaffen. Ich will nicht mal den Kapitalismus abschaffen, sondern ihn überhaupt erst mal richtig erklären.

Ein korrektes Modell des Kapitalismus kann dann sowohl seine Herstellung als auch seine Abschaffung als auch seine Regulierung so anleiten, daß hinterher das, was die Theorie vorhergesagt hat, auch dabei herauskommt. Und das ist der Test dafür, ob die Theorie etwas taugt.

Bei diesem Test sind z.B. sowohl Marx als auch die Neoklassik hinten und vorne durchgefallen.

Zur Zeit erleben wir ja den interessanten Versuch, wie die Staaten entmachtet und neutralisiert werden sollen und dabei der Kapitalismus erheblich gestärkt werden soll. Dieser Versuch nennt sich TTIP.

Richtig. Weil Kapitalismus Staat und staatliches Gewaltmonopol zwar voraussetzt und unbedingt benötigt, Privatrecht aber im Grunde GEGEN den Staat gerichtet ist (staatsfreie Privatsphäre garantieren) und das Grundprinzip - "Vertrag" - auf rechtlicher (notwendig formaler) Gleichstellung der Partner beruht, das Grundprinzip des Staates (und öffentlichen Rechts) aber das der Herrschaft ist, das eines Über- und Unterordnungsverhältnisses.

Dieses widersprüchliche Verhältnis von Staat und Markt - Markt setzt Staat voraus und kann ohne ihn nicht existieren, ist jedoch gleichzeitig gegen ihn gerichtet - muß man verstehen, wenn man "Kapitalismus" und Politik im Kapitalismus verstehen will. Kann man auch in jeder Einführung in die Rechtswissenschaft nachlesen, sehr gut z.B. bei Johann Braun: Einführung in die ReWi http://books.google.de/books?id=AHHO3e2hD78C&printsec=frontcover&hl=de#v=onepage&q&f=false in den Kapiteln zum Privatrecht und zum ÖffRecht http://books.google.de/books?id=AHHO3e2hD78C&printsec=frontcover&hl=de#v=onepage&q&f=false.

Das war mein Punkt, warum ich den Staat in die Kapitalismusdefinition aufgenommen sehen will. Und zwar an erster Stelle, weil zwar ein Staat ohne Kapitalismus, aber kein Kapitalismus ohne Staat existieren kann.

Darauf bist Du bisher noch gar nicht eingegangen, offensichtlich habe ich mich nicht klar ausgedrückt, Du hast mich offensichtlich völlig mißverstanden (du meinst, ich wolle den "Staat abschaffen" - davon war nirgends irgendeine Rede).

Den Begriff der "Dialektik der Gleichheit http://books.google.de/books?id=AHHO3e2hD78C&printsec=frontcover&hl=de#v=onepage&q&f=false"; habe ich übrigens auch von ihm (etwas runterscrollen zum unteren Teil der Seite, dort beginnt der Abschnitt).

Anscheinend konnte ich mich irgendwie nicht klar genug ausdrücken bzw. verständlich machen. Vielleicht habe ich ja auch generell an Eurer Diskussion zur Kapitalismusdefinition etwas mißverstanden. Wofür genau wollt ihr eine "Kapitalismusdefinition" haben?

Ich bin einfach an einem schlüssigen Erklärungsmodell des real existierenden "Kapitalismus" interessiert, das hohe Erklärungskraft auch für all die Dinge besitzt, an denen bisherige Theorien scheitern (Finanzkrisen inclusive), und das deshalb als verläßliche Landkarte für seine politische Gestaltung und Regulation dienen kann.

Gruß
Wolfgang




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