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ag-geldordnung-und-finanzpolitik - Re: [AG-GOuFP] Kapitalismus - Definition für Vision

ag-geldordnung-und-finanzpolitik AT lists.piratenpartei.de

Betreff: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik

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Re: [AG-GOuFP] Kapitalismus - Definition für Vision


Chronologisch Thread 
  • From: Arne Pfeilsticker <Arne.Pfeilsticker AT piratenpartei-hessen.de>
  • To: moneymind <moneymind AT gmx.de>
  • Cc: ag-geldordnung-und-finanzpolitik AT lists.piratenpartei.de
  • Subject: Re: [AG-GOuFP] Kapitalismus - Definition für Vision
  • Date: Sun, 10 Aug 2014 00:50:48 +0200
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-geldordnung-und-finanzpolitik>
  • List-id: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik <ag-geldordnung-und-finanzpolitik.lists.piratenpartei.de>



Am 08.08.2014 um 22:56 schrieb moneymind <moneymind AT gmx.de>:

Habe gesehen, daß ihr im mumble an der Kapitalismusdefinition der AG als Grundlage für die Vision gearbeitet habt.

Super - hier zu einer klaren Definition der Essenzen zu kommen, halte ich für absolut zentral für die Visionsarbeit. Deshalb möchte ich dazu einen Vorschlag in die Diskussion geben.

Ich würde dabei gern an Arnes Definition anknüpfen, die mir schon sehr gut gefallen hat, und sie aus meiner Sicht etwas präzisieren, ergänzen und modifizieren.

Arnes Definition von "Kapitalismus" war:

/1. Privat-Eigentum an Produktionsmitteln / Produktionsfaktoren (incl. Markenrechte, Patente)
2. Beteiligungsrechte an anderen Unternehmen (Aktien, Anteile, etc.)
3. Vertragsfreiheit (im schuldrechlichen Sinne) (incl. Rechtssicherheit, Haftung)
4. Gewinnabsicht | Inkaufnahme /Absicht der Zufügung von Verlust (unter massiv asymmetrischen Handels- respektive BonitätsPositionen)
( Quelle: https://aggeldordnungundfinanzpolitik.piratenpad.de/14? )/

Diese Definition finde ich schon recht nah am Kern und sehr gut aufs wesentliche eingedampft.

Ich würde aber einiges modifizieren wollen:

Zunächst zu *Punkt 3*: Vertragsfreiheit (schuldrechtlich) impliziert Rechtssicherheit und Vermögenshaftung, aber auch schon Eigentum.

Hallo Wolfgang,
diese Implikation sehe ich nicht. Nach meinem Rechtsverständnis liegen die Dinge wie folgt: (Ich bin für andere Argumente offen und freue mich auf deinen Einspruch.)

Vertragsfreiheit impliziert m.E. lediglich eine Rechtsordnung, in der die Rechtssubjekte die Erlaubnis haben, im eigenen Namen handelnd sich oder einen anderen rechtsgeschäftlich zu verpflichten.  Die hier formulierte Verpflichtungsbefugnis ist m.E. ein guter Kandidat für die Definition des Begriffs Vertragsfreiheit.

Der Nachweis dieser rechtsgeschäftlichen Verpflichtung nennen wir Vertrag.

Rechtssicherheit ist eine ganz andere Baustelle und bedeutet, dass 
  1. der gleiche rechtsrelevante Sachverhalt zur gleichen Rechtsfolge führt und 
  2. diese Rechtsfolge durchgesetzt wird.  
Aber hiervon sind wir selbst im Hochkapitalismus weit entfernt. Gerade die wachsende Komplexität der Gesetze führt zu immer wendiger Rechtssicherheit. Der Spruch der Juristen: "Vor Gericht und auf Hoher See ist der Mensch in Gottes Hand.“ ist leider nicht ganz abwegig und im Grunde eine Bankrotterklärung des Rechtsstaats und der Rechtssicherheit.

Anstelle der Vermögenshaftung könnte die persönliche Haftung in Form von Auspeitschung, Verstümmelung oder auch die Sippenhaft bei Vertragsverletzung treten.

Was bedeutet Vertragsfreiheit?
Das einzige freie an der Vertragsfreiheit ist die Fiktion, dass hier freie und gleiche Partner auf Augenhöhe einen Vertrag schließen - aber es genau so gut sein lassen könnten.

Weil ein Vertrag ein Kind einer bestimmten Rechtsordnung ist, erbt dieses Kind die Möglichkeiten und Grenzen, die durch diese Rechtsordnung gesetzt werden. Inhaltlich kann es deshalb keine Vertragsfreiheit geben. Als Vertrags“freiheit" wird das Zustande kommen eines Vertrages innerhalb der rechtlichen Möglichkeiten und Grenzen verstanden. Wie sehr die eine oder andere oder beide Seiten unter Druck standen ist unerheblich.

Eigentum:
Nach meinem Rechtsverständnis ist die Behauptung Vertragsfreiheit impliziert Eigentum ungefähr so, wie wenn man sagen würde, dass die Entscheidung in Urlaub zu fahren, impliziert Ballermann. 

Die Übertragung von Eigentumsrechten ist zwar sehr häufig der Inhalt von Verträgen, aber Vertragsfreiheit impliziert kein Eigentum. Ich würde sogar so weit gehen und behaupten, dass sich diese Begriffe gar nicht implizieren können, weil hier zwei grundlegend verschiedene Dimensionen einer Rechtsordnung angesprochen werden.

Eigentum ist ein Herrschaftsrecht an Sachen. Eigentum ist ein Gruppe unter vielen Gruppen subjektiver Rechte.

Eigentum gehört zum rechtlichen Vermögen eines Rechtssubjektes, während Vertragsfreiheit zum potentiellen rechtlichen Handeln eines Rechtssubjektes gehört. 

Die subjektiven Rechte bestimmen das rechtliche Sein und die Befugnisse das rechtliche Verhalten eines Rechtssubjektes.
 
*Nur freie Eigentümer treten zueinander durch Vertrag in Beziehung.
Das ist die Lebenslüge des Kapitalismus.

*Damit kann Punkt 1 als in Punkt 3 enthalten wegfallen. Der Terminus "Privat"-Eigentum ist überflüssig, "Eigentum" genügt.
Ursprünglich war ich auch dieser Auffassung, aber ich denke, dass der Zusatz „Privat“ entscheidend ist. 

Privat-Eigentum an Produktionsmittel ist m.E. das entscheidende Kriterium zwischen einem kapitalistischen und nicht-kapitalistischem Wirtschaftssystem. 

Ein wesentlicher Unterschied zwischen der DDR und BRD bestand im Privat-Eigentum an Produktionsmittel.

Arnes Punkt 3 wird damit zu meinem Punkt 1 als absolute Essenz des Kapitalismus. Ich möchte es aber noch etwas weiter eindampfen bzw. hoch-chunken auf:

*1.) "Eigentum, Freiheit, Gleichheit" (im Sinn des bürgerlichen Rechts = Zivilrechts / Privatrechts). *

Hilf mir auf die Sprünge. Du sagst: „Eigentum, Freiheit, Gleichheit“ und meinst vermutlich: „Eigentum, Hohn und Spot?!“

Hohn: Die real existierende Freiheit vieler morgens aufzustehen, um den Tag im „Hamsterrad" zu verbringen für Wasser auf die Mühlen anderer.
Spot: Und dann auch noch so zu tun, als ob das die freie Entscheidung war, weil ja ein Millionär oder Milliardär die gleichen Chancen hat wie ein Bettler.


Arne hat im Mumble gesagt, Vertragsfreiheit gäbe es wohl auch außerhalb eines Kapitalismus. Das sehe ich nicht so. Warum nicht?

Stammesmitglieder treten zueinander zwar "frei" in Beziehung in dem Sinn, daß keine staatliche Zentralmacht ihrer arbeitsteiligen Beziehungen plant. *Aber definitiv nicht per Vertrag. * Sondern über etwas, das Ethnologen "Reziprozität" oder "informellen Tausch" nennen.

Wir kennen das von nachbarschaftlichen oder familären Beziehungen. Man gibt dem Nachbarn etwas, das dieser braucht, schließt aber keinen Vertrag, in dem eine äquivalente Gegenleistung spezifiziert wird. Man erwartet zwar eine im großen und ganzen "angemessene" Gegenleistung. Das ist aber nicht etwas, das einen äquivalenten abstrakten, in Geldeinheiten gemessenen und verbuchten Vermögenswert hat. Sondern etwas, das dem "Gegenleister" etwas bedeutet, das der Bedeutung des ursprünglich gegebenen für den ursprünglichen Geber vergleichbar ist.

Beispiel: man schenkt seinem Kind zum Geburtstag ein teures Fahrrad, das sich das Kind nie hätte leisten können. Als "Gegenleistung" akzeptiert man aber sehr gern ein vom Kind mit Fingerfarben gemaltes Blumenbild - weil die Mühe, die es dem Kind gemacht hat, das Bild zu malen, für das Kind etwas bedeutet, das in etwa der Bedeutung vergleichbar ist, die es für uns hatte, das Fahhrad zu besorgen. Man wollte sich gegenseitig nämlich eine Freude machen.

Der Tausch basiert nicht auf abstrakter Gleichheit von äquivalenten Werten wie im Vertrag, sondern auf der Bedeutung von Leistung und Gegenleistung für die unterschiedlichen Geber und Nehmer. Völlig klar, daß diese sich hier nicht als freie und gleiche Rechtspersonen gegenübertreten wie in einem Vertrag, sondern als konkrete Menschen. Es geht nicht nur um die getauschten Güter, sondern primär darum, die Beziehung zu pflegen, die eine des gegenseitigen /konkret situations- und personangemessenen/ Ausgleichs von Geben und Nehmen ist.

Ein weiterer Unterschied zwischen Vertrag und informellem, reziprokem Tausch ist: für die Gegenleistung wird kein konkreter Termin spezifiziert (wie typischerweise in einem Vertrag). Ein weiterer Unterschied: die Gegenleistung kann nicht von einer unabhängigen Instanz eingeklagt werden und notfalls vollstreckt werden lassen.
Deine Ausführungen sind m.E. richtig, aber kein Einwand gegen meine Aussage.

Was du beschreibst sind eine Art informelle Vertragsverhältnisse in überschaubaren gesellschaftlichen Gruppen. Man kann so informell bleiben und in den von dir beschriebenen Situationen ist das auch die angemessene Form. - Aber man muss das nicht. Es soll Ehepaare geben, die einen Ehevertrag haben. :=) 

Und selbst diejenigen die keinen Ehevertrag geschlossenen haben, haben durch die Eheschließung implizit einen Vertrag mit sehr weitreichenden und tiefgreifenden Konsequenzen geschlossen.

Befugnisse und insbesondere Verpflichtungsbefugnisse (= Vertragsfreiheit) sind zentrale Bausteine eines jeden Rechtssystems. Ohne diese Befugnisse hätten die Rechtssubjekte (= natürliche und juristische Personen) keine Erlaubnis zum rechtlichen Handeln. 

Eine Rechtssystem ohne Privat-Eigentum am Produktivvermögen ist nicht nur denkbar, sondern war eine historische Realität.

Ein Rechtssystem ohne Verpflichtungsbefugnis (= Vertragsfreiheit) wäre ein Rechtssystem, in dem es nur Verträge gibt, in denen Leistung und Gegenleistung gleichzeitig ausgetauscht werden. Das Bedeutet, dass es insbesondere keine Kreditverträge gibt.


*Fazit: Eigentum, Freiheit, Gleichheit und Vertrag sind nicht universell, sondern Kernmerkmale des Kapitalismus.*

Wau! - Ich bin mir aber nicht sicher, ob wir über die gleiche Welt reden. :=)

Mein Fazit wäre: Grenzenloses Privat-Eigentum, Unfreiheit, Ungleichheit und Ausbeutung von Menschen und Umwelt sind die Kernmerkmale des Kapitalismus.

Erhellend dazu fand ich "Das Kapitel vom Eigentum" in Heinsohn/Steiger: Eigentum, Zins und Geld (ein Buch, das zwar makroökonomisch wenig taugt, aber in seiner konsequent kulturvergleichenden Herausarbeitung der Grundbegriffe neben Marx einzigartig und unter diesem Aspekt sehr lesenswert ist).

Damit komme ich aber zu einem absolut zentralen Punkt:

*Eigentum, Freiheit, Gleichheit und Vertrag (als Kernprinzipien des bürgerlichen Rechts bzw. Zivilrechts und des Kapitalismus) setzen eine staatliche Zentralgewalt immer schon voraus. *

*Deshalb gehören "Eigentum, Freiheit und Gleichheit" nicht auf Platz 1, sondern Platz 2 der Kapitalismusdefinition.

_Auf Platz 1 gehört der Staat und sein Gewaltmonopol_. *

Einspruch: Auch in der ehemaligen Sowjetunion und China hatte der Staat das Gewaltmonopol - aber wir hatten mit Sicherheit kein Kapitalismus in dem von dir diskutierten Sinne.


Abschließend stelle ich nach den Erläuterungen nochmal meine modifizierte Version von Arnes Kapitalismusdefinition zur Diskussion:

*/1.) Staat mit Gewaltmonopol und Steuerhoheit (geregelt im öffentlichen Recht)
2.) Eigentum, Freiheit, Gleichheit und Vertrag (geregelt im Zivilrecht)
3.) Nominalforderungen aus Verträgen, die Gläubiger zu Zahlungs- und Verrechnungszwecken an Dritte weiterreichen können und in denen die Gläubiger die forderungslosen haftenden Sicherheiten ihrer Schuldner in Bezug darauf bewerten, wie sie deren Einkommensaussichten beurteilen (=anonymisierbare Wertpapiere) = Basis für Kreditgeld und - weil unabhängige Eigentümer im Eigeninteresse prozyklisch bewerten und Kredite vergeben müssen - selbstverstärkende Boom/Bust-Zyklen.
4.) Lohnarbeit (optional, durch Genossenschaften oder Sklaverei ersetzbar). /*

Entscheidend ist, daß in dieser Definition ganz klar derjenige (logische) Primat der Politik (Staat, öffentliches Recht) über die Ökonomie (bürgerliche Gesellschaft, Markt, Wirtschaft - Privatrecht/Zivilrecht, bürgerliches Recht) erkennbar ist, der von Marktfundamentalisten aller Art (Anarchokapitalisten inclusive) immer geleugnet wird.

"Staat" ist die Sphäre des öffentlichen Rechts, deren Grundprizip "Herrschaft" ist (weswegen eine nominale Steuerforderung auch etwas ganz anderes ist als eine nominale Forderung aus einem Vertrag zwischen Privaten, denn sie beruht nicht auf Konsens, sondern herrschaftlicher Aufoktroyierung).

"Markt" oder "Kapitalismus" ist die Sphäre (das Teilsystem) des Privatrechts, von Eigentum, Freiheit und Gleichheit, deren Grundprinzip der Vertrag ist. Steht übrigens in jeder Einführung in die Rechtswissenschaft, z.B. bei Johann Braun: Einführung in die ReWi http://books.google.de/books?id=AHHO3e2hD78C&printsec=frontcover&hl=de#v=onepage&q&f=false (sehr gutes Buch über die Essentials), aber welcher Ökonom liest sowas schon?

*Die Piraten sind eine Partei, die politisch (herrschaftlich) gestalten möchte. Politik findet in der Sphäre des Staates statt. Sie schafft den Markt überhaupt erst, und kann und soll ihn gestalten und managen. Sie kann ihn - wenn gewünscht - auch jederzeit beseitigen. In other words: der Markt ist kein Naturphänomen.
*
Zum Abschluß noch: der ultimative Test für jede Kapitalismusdefinition und -Theorie besteht darin, Kapitalismus _herzustellen_, d.h. "Entwicklungsplanung" zu machen, also den Versuch zu machen, in einem Land "Kapitalismus einzuführen". Viele sog. "Entwicklungsländer" versuchen das, postsozialistische "Transformationsländer" ebenfalls.

Die Kapitalismusdefinition muß einen Leitfaden fürs *Herstellen *(und nicht nur fürs wirtschaftspolitische "managen") eines Kapitalismus liefern können.

Sag mir, dass du die letzten Absätze unter dem Einfluss eines zynischen Schocks geschrieben hast. - Ansonsten wäre ich ziemlich fassungslos.

Ich jedenfalls bin überzeugt, dass der Kapitalismus kein Modell einer gerechten und nachhaltigen Wirtschaft ist, die den Menschen ein hohes Maß an freier Entfaltung ihrer Persönlichkeit ermöglicht.

Viele Grüße
Arne

PS: Meine überarbeitete Kapitalismusdefinition:
  1. Grenzenloses Privat-Eigentum an Produktionsmitteln
  2. Grenzenlose Beteligungsrechte zwischen Unternehmen
  3. Vertragsfreiheit ohne Verantwortung, aber mit Ausbeutung
  4. Grenzenloses Gewinnstreben

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