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ag-gesundheitswesen - Re: [AG-Gesundheit] Privates Gesundheitssystem?

ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de

Betreff: AG Gesundheit

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Re: [AG-Gesundheit] Privates Gesundheitssystem?


Chronologisch Thread 
  • From: Jürgen Junghänel <junghaenel-hannover AT gmx.de>
  • To: AG Gesundheit <ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de>
  • Subject: Re: [AG-Gesundheit] Privates Gesundheitssystem?
  • Date: Fri, 05 Jun 2015 23:13:07 +0200
  • Importance: normal
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-gesundheitswesen>
  • List-id: AG Gesundheit <ag-gesundheitswesen.lists.piratenpartei.de>

Was soll man dazu sagen als +1

Gute Schilderung der Situation.

Jürgen




Von Samsung-Tablet gesendet



-------- Ursprüngliche Nachricht --------
Von syna <syna AT news.piratenpartei.de>
Datum: 04.06.2015 10:33 (GMT+01:00)
An ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de
Betreff Re: [AG-Gesundheit] Privates Gesundheitssystem?


Jetzt mal "in medias res":

Was ist denn das Problem
mit der privaten Krankenversicherung?

Ein Kern-Charakteristikum des deutschen Gesundheitssystems ist die "Duale
Vergütung" im Gesundheitssystem. Die "Duale Vergütung" ist die Ursache
für viele Schieflagen, Ungerechtigkeiten und hohe, vermeidbare Kosten
im Gesundheitssystem. Deshalb ist es wichtig, sich einmal mit der "Dualen
Vergütung" zu beschäftigen. Aber was ist eigentlich die "Duale
Vergütung"?

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Duale Vergütung
===========================================

Kurz gesagt drücken wir mit "Dualer Vergütung" aus, dass
Ärzte und Krankenhäuser für die gleiche Leistung unterschiedlich -
also dual - bezahlt werden.

Die "Duale Vergütung" bedeutet, dass einige Patienten, nämlich
alle GKV-Versicherten, nach einem Standard-Tarif abgerechnet
werden. Das ist der EBM (Einheitlicher Bewertungsmaßstab) bzw.
EBMA (für zahnärztliche Leistungen).

Und dass andere Patienten, nämlich alle PKV-Patienten nach einem
höheren Tarif abgerechnet werden. Dieser höhere Tarif heißt GOÄ
(Gebührenordnung für Ärzte) bzw. GOZ (für Zahnärzte). Die Bezahlung
der PKV-Patienten kann sogar alternativ - vor der Behandlung -
wie in normalen privatwirtschaftlichen Verträgen üblich - frei
ausgehandelt und festgelegt werden.

Zur Erklärung:
------------------------
GKV = Gesetzliche Krankenversicherung. 90% der Bevölkerung
sind "gesetzlich" versichert.

PKV = Private Krankenversicherung. Etwa 10% der Bevölkerung
in Deutschland sind "privat" versichert. Manche nennen diese 10%
auch die "Privilegierten".

------------------------

Die Bezahlung der Ärzte und Kliniken durch die PKV-Patienten ist sehr
viel höher. So bekommt ein Arzt bei Behandlung eines PKV-Patienten
oft mehr als das Doppelte, oft sogar mehr als das Dreifache wie er für
die gleiche Behandlung eines GKV-Patienten bekommen würde. Das ist
die "Duale Vergütung".

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Beispiel "Shop"
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"Ja und? Macht doch nichts!" könnte man sagen. So einfach
ist es aber nicht. Gucken wir uns an einem Beispielen mal an,
was denn so eine "Duale Vergütung" bewirkt.

Nehmen wir an, wie haben einen Sportartikel-Laden, in guter
Lage - in der Innenstadt. Und nehmen wir an, dort gäbe es eine
"Duale Vergütung". D.h. bestimmte Kunden, erkennbar an einer
besonderen Kundenkarte, zahlen für dieselben Artikel mehr als
das Doppelte. Was würde das bewirken?

Nun - so sozial und humanistisch idealistisch der Ladeninhaber
auch eingestellt sein mag: Insgeheim bevorzugt er diese besonderen
Kunden mit Kundenkarte. Bei schlechten Zeiten, also Konjunkturkrise,
schlechten Verkaufszahlen usw. - guckt er noch gieriger auf die
Kunden mit Kundenkarte, ja er hofiert diese. Er denkt sich
Werbestrategien aus, genau diese Kunden anzulocken. Für das
Überleben seines Ladens kann dies existenziell sein.

Immer wenn ein Mensch seinen Laden betritt, sieht er jetzt schon
am Äußeren - an ganz subtilen Dingen - ob das ein Kunde mit der
Kundenkarte ist oder nicht. Und wenn der Ansturm auf den Laden
groß ist - und er zuwenig Personal hat, um alle Kunden zu bedienen,
dann sollen auf jeden Fall die Kunden mit Kundenkarte zuvorkommend
bedient werden. So hat er es seinen Mitarbeitern eingeschärft. Die
anderen Kunden müssen schon mal länger warten - oder werden
bisweilen gar nicht bedient.

Wir sehen bei diesem Beispiel, dass so eine "Duale Vergütungsstruktur"
ganz automatisch Kunden in Kunden erster Klasse und in Kunden zweiter
Klasse separiert. Der Markt richtet sich immer nach der Bezahlung aus und
generiert damit die Separation in die erste Klasse und die zweite Klasse.

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Beispiel "Niedergelassener Allgemeinarzt"
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Was bedeutet die "Duale Vergütungsstruktur" aber im Gesundheitswesen?
Stellen wir uns also einen jungen, niedergelassenen Allgemeinarzt vor.
Sein Studium hat er mit großem Impetus und viel Idealismus absolviert,
er möchte ja den Menschen helfen, er hat den hippokratischen Eid geleistet
und er ist hochmotiviert.

Aber für seine erste Praxis muss er einen hohen Kredit aufnehmen. Und
er ist erstmals mit den ökonomischen Bedingungen konfrontiert: Er muss
jetzt jeden Patienten mit "der Kasse abrechnen" - und darauf achten, dass
er
die Gehälter seiner Angestellten und den Kredit zeitgerecht bedienen kann.

Ihm fällt sofort auf, dass er für PKV-Patienten mehr als doppelt soviel
abrechnen kann als für andere Patienten. Mit der Zeit entdeckt er, dass er
bei PKV-Patienten schon mal öfters lächelt, sich sogar mehr Zeit nimmt
und
bereitwilliger auf deren Wünsche eingeht. Damit die auch wirklich
wiederkommen.

Als er sich mit seinen früheren Kommilitonen trifft, und die von ihrer
Yacht
auf dem Mittelmeer erzählen, da kommt er schon mal ins Grübeln: Er hat so
lange studiert - und sich dabei mit BAFÖG und Jobben über Wasser
gehalten -
und kann seine Praxis jetzt "gerade so" finanzieren. Er beschließt also,
dass
seine Finanzlage endlich besser werden müsse. Aber wie?

Da kommen ihm die Privatpatienten wie gerufen. Der frühere Studienkollege
mit der Yacht im Mittelmeer behandelt am Starnberger See ausschließlich
Privatpatienten! Unser Jungarzt beschließt also, einige "Verfahrensweisen"
in seiner Praxis zu ändern: Die Privatpatienten bekommen einen eigenen
Praxis-Zugang - also eine andere besondere Tür - und haben in Zukunft
keine Wartezeit mehr. Er wird sie sofort empfangen. Die anderen Patienten
im Wartezimmer ahnen davon nichts. Das Personal wird angehalten, bei
Terminwünschen genau zwischen GKV- und PKV-Patienten zu unterscheiden:
Privatversicherte sollen noch in der Woche einen ihnen genehmen Termin
bekommen. Gesetzliche Patienten werden normal "hinten in die Schlange"
eingereiht.

Denn es gilt sich einen Ruf für Privat-Kunden-Patienten zu erarbeiten.
Über
Weiterempfehlungen von Patient zu Patient in seinem Stadtteil will er sich
den
Ruf erarbeiten, besonders schnell, zuvorkommend und kompetent zu sein -
und zwar für Privatpatienten. Es ist für ihn wichtig, den Anteil der
Privatpatienten
stark zu erhöhen, nur so kann er seine Kredite bedienen und selbst auch
mal
Urlaub am Mittelmeer machen.

Diese Ausrichtung für Privatpatienten gelingt in Gebieten wie Starnberger
See oder Hamburg Blankenese sehr einfach: Dort gibt es eigentlich nur
Privatpatienten. Aber in ländlichen Bereichen oder prekären Stadtteilen -
etwa in Berlin Neukölln - da funktioniert das nicht. Denn da gibt es gar
keine Privatpatienten. Entsprechend unattraktiv - oder sogar ökonomisch
gar nicht tragbar - ist es dort für einen jungen Arzt, sich
niederzulassen.

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Beispiel "Krankenhaus-Chirurg"
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Krankenhäuser sind seit den 90igern einem starken ökonomischen Druck
ausgesetzt. Nicht nur, dass die Krankenkassen die Pflegesätze nicht
erhöhen
wollen. Nein, durch immer neue gesetzliche Vorgaben der Abrechnung, durch
Regelungen für Fallpauschalen und Sonderentgelte, für Liegezeiten u.a.
ist
die Krankenhausleitung angehalten, sich immer neue Verfahren zur
"ökonomischen Optimierung" auszudenken. Die Stadt oder Kommune droht
jedes Jahr auf's Neue mit Privatisierung. Und falls die Klinik schon einem
privaten Betreiber gehört, dann ist das Controlling sowieso die oberste
Stelle,
die letzlich "das Sagen" hat.

In diesem Umfeld wird die "Duale Vergütung" von Behandlungsleistungen
natürlich ganz besonders berücksichtigt. Dem Controlling fällt ja
täglich auf,
dass PKV-Patienten lukrativ sind. GKV-Patienten dagegen eher weniger.
Deshalb wird die interne Organisation so gestaltet, dass PKV-lern jedes
Diagnoseverfahren und jede Therapie offen steht und angeboten wird.

Je mehr Druck die Stadt oder Kommune macht, je diffiziler die Verhandlungen
mit den Krankenkassen werden, desto höher ist der Kostendruck auf den
kaufmännischen Direktor. Sein Posten hängt oft am seidenen Faden, am
"Kostenfaden". Deshalb wendet er alle Energie auf, um möglichst viele
Kosten
über die Patientenbehandlung hereinzuholen. Deshalb richtet er sein
Augenmerk ganz stark auf die Privatpatienten. Deshalb wird die interne
Organisation umgebaut und das Controlling angewiesen, entsprechende
Vorschläge zu machen. Einige Kliniken richten sogar einen baulich
getrennten,
eigenen Bereich ein, um Privatpatienten angemessen hofieren zu können.
Das nennen sie dann "Privita" oder so ähnlich.

Diese Umorganisation hat natürlich Auswirkungen auf die Behandlung. An
Unikliniken und anderen Kliniken "höchster Exzellenz" spezialisieren sich
Chirurgen auf bestimmte komplizierte OPs und OP-Verfahren. Sie erwerben
sich damit eine besondere Reputation. Diese Reputationen werden z.B. in
der Zeitschrift Focus regelmäßig veröffentlicht.

Die Klinikleitung strebt danach, solche Spezialisten in der Chirurgie
einzustellen - um mit deren Reputation auch die Reputation der Klinik für
PKV-Patienten auszubauen. Damit möglichst viele PKV-Patienten in ihre
Klinik kommen. Und damit sie dadurch eine gute Jahresbilanz ausweisen
können.

Deshalb wirbt die Klinikleitung diese Spezialisten aus Unikliniken oder
anderen
Kliniken ab, indem sie ein besseres "Gehalt" anbietet. Dies kann sie aber
nur
zahlen, wenn sie konsequent das Geschäftsmodell "Reputation bei PKV-
Patienten" einhält.

Die interne Krankenhausorganisation sorgt dafür , dass der neue,
bekannte hochbezahlte Spezialist fast nur PKV-Patienten behandelt, weil da
die
"Kostenstruktur stimmt". Dabei ist es egal, ob diese Privatpatienten
gerade die
OP benötigen, auf die sich der Spitzenchirurg spezialisiert hat oder
nicht. Der
hochbezahlte Spezialist muss sich dann auch dafür hergeben, Blinddarm-OPs
in großer Zahl durchzuführen. Weil diese Blinddarm-OPs bei PKV-Patienten
viel besser dotiert sind - und so die Kosten überhaupt erst wieder
hereinkommen.
Der kaufmännische Direktor, die Klinikadministration und das Controlling
bestehen darauf, dass es so gemacht wird!

Umgekehrt steht der Spezialist für ernste OPs von GKV-Patienten kaum zur
Verfügung. Weniger erfahrene, manchmal noch junge Chirurgen, oder
Chirurgen,
die "alles querbeet machen", werden bei GKV-Patienten die komplizierte
Bauchspeichel-OP durchführen müssen.

Man kann sich leicht vorstellen, was das bedeutet: Stellen Sie sich vor,
sie
müssten bei ihrem Auto den Vergaser austauschen. Wenn Sie das erst ein
oder zweimal gemacht haben, werden Sie sich schwer tun: Sie müssen
erstmal gucken, wo der Vergaser überhaupt ist, was für Anschlüsse der
hat.
Sie müssen sich überlegen, in welcher Reihenfolge sie welche Schraube
lösen usw. Zuletzt springt Ihr Auto nicht an, weil Sie eine Kleinigkeit
übersehen haben.

Der Spezialist, der schon 1000 Vergaser ausgetauscht hat, macht das alles
schnell und routiniert. Und er kann sich auf die üblichen Fehlerstellen
konzentrieren - und das Auto fährt nach dem Eingriff besser als je zuvor.

So ähnlich ist es in der Chirurgie leider auch. Nur mit dem Unterschied,
dass es dort um Leben oder Tod geht: Die Überlebensrate hängt sensibel
von der Routine der Operateurs ab. Das zeigen zahlreiche Studien aus
den USA:

Wenn der GKV-Patient ernsthaft operiert werden muss, dann geben
Controlling und OP-Planung vor, welcher Chirurg gerade "offen" ist. Das
kann ein erfahrener Chirurg sein, das ist aber oft ein "Allgemein-Chirurg",
der so alles macht, oder es kann sogar der unerfahrene Neuling sein, der
gerade eingestellt wurde.

Wenn der PKV-Patient ernsthaft operiert werden muss, dann - auch das
gibt das Controlling vor - wird der Operateur mit der hohen Reputation -
der Spezialist für diese OP - selbstverständlich für die OP geplant und
diese
durchführen.

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Was bedeutet das also?
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Jeder kann sich vorstellen, was das für die Überlebensaussichten im Falle
einer Krebs-OP für PKV-Patienten und für GKV-Patienten bedeutet.

Man nennt dieses Phänomen, das die reputierten Spezialisten in den
Kliniken
betrifft, "Fehlallokation": Die Fähigkeiten solcher Spezialisten werden
lieber
für Trivialeinsätze bei PKV-lern verschwendet. Sie stehen dabei für
komplexe,
über Leben oder Tod-entscheidende Eingriffe bei GKV-Patienten nicht zur
Verfügung.

Und das ist die schwerwiegendste Konsequenz der "Dualen
Vergütungsstruktur": Da die internen Abläufe in den Kliniken, der
existenzielle Druck des kaufmännischen Direktors und des Controllings
dem Außenstehenden selten bewusst werden, erkennen Außenstehende
nicht so leicht, wie die Fehlallokation zustande kommt - und was für
Konsequenzen sie hat.

Wer das selbst einmal überprüfen will, der mache doch einfach mal den
Selbstversuch: Suchen Sie sich einen reputierten OP-Spezialisten für eine
schlimme Krebsart heraus. Die finden Sie bei der Zeitschrift Focus oder
auf vielen medizinischen Such- und Online-Portalen. Rufen Sie dort in der
Uniklinik an, in der Absicht, einen Termin zu bekommen. Die entscheidende
Frage, die das Sekretariat Ihnen stellen wird, wird sein: "Wie sind Sie
versichert?". Wenn Sie dann "gesetzlich" oder "Kasse" sagen, ist das
Gespräch
hier beendet. Manchmal bekommen Sie noch einen Phantasie-Termin in 6
Monaten oder so - aber das war's dann.

Was dahinter steckt, habe ich versucht, oben zu schildern und kausal zu
entwickeln. Ich finde: Wenn wir verantwortungsvolle Politik für alle
Bürger
machen wollen, dann müssen wir uns der Fehlallokation mit ihren
"versteckten", aber dennoch bestimmenden Abläufen bewusst sein!

So far, ich glaube das reicht erstmal,

Grüße,

Syna.
--
AG-Gesundheitswesen mailing list
AG-Gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de
https://service.piratenpartei.de/listinfo/ag-gesundheitswesen


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