ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de
Betreff: AG Gesundheit
Listenarchiv
- From: Reinhard Schaffert <reinhard.schaffert AT piratenpartei-hessen.de>
- To: ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de
- Subject: [AG-Gesundheit] Diffenzierte Diskussion des Gesundheitssystems
- Date: Fri, 05 Jun 2015 21:01:03 +0000
- List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-gesundheitswesen>
- List-id: AG Gesundheit <ag-gesundheitswesen.lists.piratenpartei.de>
Schönen guten Tag allerseits, lieber Wofgang,
ich mache mal einen neuen Thread auf, damit sich die Diskussionsstränge nicht überlagern. Das hier ist ja doch etwas differenzierter und umfassender, als die sich im Kreis drehende Ausgangsdiskussion.
Wolfgang Gerstenhöfer schrieb:
Hallo Reinhard,
über Antworten auf meine Fragen würde ich mich gelegentlich sehr freuen.
Ich weiß nicht, ob Du es mir glaubst, aber ich bin wirklich an ihnen interessiert.
Mir ist Deine Meinung wichtig.
Vielen Dank! Dann werde ich auch gerne Antworten.
Zunächst grundsätzlich: Ich unterscheide zwischen Zielen bzw. grundlegenden Interessen auf der einen und Maßnahmen bzw. Positionen auf der anderen Seite. Hinter einer Position (z.B. Forderung nach Abschaffung der PKV) über die wir uns heftig auseinandersetzen, liegen ja durchaus Ziele und Interessen, die wir alle teilen können, z.B. der Wunsch nach Gerechtigkeit.
Meistens nehmen wir eine Position ein oder befürworten Maßnahmen und vertreten diese, wobei wir Versuchen diese Position mit Belegen oder Daten zu untermauern. Dabei interpretieren wir die Daten bereits im Sinne unserer Position. Ich nehme mich da persönlich keineswegs aus, halte aber eigentlich den anderen Weg für sinnvoller: Zuerst sollte das Ziel benannt und Kriterien für die Zielerreichung definiert werden. Dann sollte anhand dieser Kriterien und der zugrundeliegenden Daten untersucht werden, ob und wie weit wir von dem Ziel entfernt sind und erst dann sollte offen, kreativ und ohne Schranken und Voreingenommenheit mögliche Maßnahmen und Schritte entwickelt und diskutiert und hinsichtlich ihrer Durchführbarkeit und möglichen Zielerreichung geprüft werden.
Das hört sich sehr theoretisch an, ist jedoch aus meiner Erfahrung durchaus auch pragmatisch machbar. Schaun wir mal anhand deiner Fragen:
Wolfgang Gerstenhöfer schrieb:
Was willst Du an unserem Gesundheits- und Krankenversicherungssystem verändern und warum?
Das Ziel wäre ein finanzierbares Gesundheitssystem das weitgehenden Zugang für jeden zu einer ausreichenden und qualitätsorientierten Gesundheitsversorgung gewährt.
Wenn wir uns die Daten ansehen (z.B. hier: https://data.oecd.org/health.htm oder hier https://www.gbe-bund.de/ ) sehen wir, dass Deutschland gemessen am BiP und auch pro Kopf zwar relativ viel für Gesundheit ausgibt, anderseits jedoch der Zugang im Vergleich sehr umfassend und die Zahlungen aus eigener Tasche (abgesehen von den Versicherungsbeiträgen) sehr gering ist. Wir erkaufen uns also das Ziel eines zugänglichen Gesundheitssystems in dem das Krankheitsrisiko für einen großen (und in der Regel wirtschaftlich schwächeren) Teil die Gesellschaft trägt mit (im internationalen Vergleich) relativ hohen gesellschaftlichen Kosten. Diese werden über Beiträge finanziert, die sich – bis zu einem gewissen Grad („Beitragsbemessungsgrenze“) – nach der wirtschaftlichen Leistungskraft der Beitragszahler richten. Da magst du (aus versicherungstechnischer Sicht möglichweise zurecht) als ungerecht empfinden, weil gleiche (potentielle) Leistung unterschiedlich viel Kostet und auch das persönliche Krankheitsrisiko keine Rolle spielt, ist jedoch erst einmal ein Status quo, dessen Änderung zumindest erheblichen Widerstand verursachen würde (wie sich ja schon einmal gezeigt hat, als die CDU den Beitrag vereinheitlichen wollte). Trotzdem ist natürlich das Denken erlaubt.
Die Wirkung des Gesundheitssystems auf die Gesundheit ist schwer zu messen und noch schwerer zu vergleichen, da der Gesundheitszustand von ganz vielen Faktoren (Ernährung, Umwelt, Klima, Kultur,…) abhängt und nur zu einem Teil von der Gesundheitsversorgung. Deshalb sehe ich entsprechende Vergleiche kritisch. In den oben verlinkten OECD-Statistiken zum „health status“ liegt Deutschland in der Regel im Mittelfeld oder besser. Das ist nicht sehr gut und immer noch verbesserungswürdig, aber ich halte es auch nicht für so schlecht um eine Begründung dafür zu liefern, dass das deutsche Gesundheitssystem revolutioniert werden müsste.
Bliebe als Antwort nach dem „Warum“ noch der immer wieder beschworene demographische Wandel und der daraus resultierende Kollaps der Sozialsysteme. Diese Problematik ist jedoch unabhängig von der Ausgestaltung der Finanzierung, denn finanziert werden muss das Gesundheitssystem so oder so durch diejenigen, die Einkommen erwirtschaften. Man kann über Effizienz und Optimierungsressourcen nachdenken, aber selbst wenn Deutschland bei den Kosten auf dem Rang des besten vergleichbaren OECD-Landes wäre, würde sich der Kollaps theoretisch nicht wesentlich weiter hinauszögern. Das gilt auch für alternative Finanzierungsmodelle (auch ein kapitalgedecktes System müsste ja erst einmal das Kapital einsammeln und bei den derzeitgen Zinsen haben auch die klassischen Versicherungsmärkte Probleme, oder?). Die zur Verfügung stehenden Mittel sind begrenzt und selbst eine besserer Nutzung der Ressourcen (wenn denn eine Reform dies tatsächlich als Ergebnis brächte) bringt da nur wenig weiteren Spielraum.
Bleibt also nur Rationierung (die keiner möchte) oder die Erhöhung des Anteils der arbeitenden Bevölkerung. Dies könnte das Heraufsetzen des Rentenalters sein (möchte auch ein Großteil nicht, jedenfalls der Betroffenen), eine Steigerung der Geburtenrate (sieht derzeit mau aus: Deutschland liegt ganz hinten; dauert außerdem 20 Jahre bis diese Kinder dann erwerbstätig sind) oder Zuwanderung. Weitere kreative Ideen sind willkommen.
Die gleichen Lösungsmöglichkeiten böten sich dann auch für das zweite große Problem unserer Gesundheitsversorgung an, den Fachkräftemangel. Ärzte gibt es vielleicht noch genug (sie arbeiten zum Teil nur nicht mehr in der Gesundheitsversorgung) und man könnte in diesem Bereich durch Aufhebung der Sektorengrenzen zumindest auf der Facharztebene Synergien zwischen Niedergelassenen und Krankenhäusern nutzen. Aber ich sehe eigentlich nicht, wer uns in 20 bis 30 Jahren noch pflegen soll!
Die beiden großen Probleme des Gesundheitssystems (aus meiner Sicht) sind also gar nicht so sehr durch die Struktur und Finanzierung des Gesundheitssystems bedingt, als vielmehr durch eine Reihe anderer Faktoren, die zumindest auch, wenn nicht vor allem, durch andere Maßnahmen als eine Gesundheitsreform gelöst werden müssten.
Hinzu kommt, dass im gesamten Gesundheitsbereich rund 300 Mrd. Euro umgesetzt werden. Von diesem Geld hängen eine Menge Menschen gesundheitlich aber auch mit ihren Arbeitsplätzen ab (größter Arbeitgeber!). Unter diesen Bedingungen möchte ich einen solchen Betrag nicht einfach so und aus dem Bauch heraus radikal umverteilen.
Persönliches Resümee (neudeutsch TLDR): Vor allem die Probleme außerhalb des Gesundheitssystems angehen. Das Gesundheitssystem unter Berücksichtigung der Ziele und Indikatoren vorsichtig und schrittweise reformieren. Dabei in erster Linie vorhandene Ressourcen besser nutzen.
Wolfgang Gerstenhöfer schrieb:
Macht man es sich mit der Formulierung im Grundsatzprogramm nicht ein bißchen zu einfach - als Partei?
"Alle Bürger beteiligen sich an der Finanzierung des Gesundheitswesens. Die individuelle finanzielle Leistungsfähigkeit wird berücksichtigt. Privilegien der Privaten Krankenversicherungsunternehmen sind im Interesse einer einkommens- und vermögensunabhängigen Gesundheitsversorgung abzuschaffen."
Aus dem eingangs genannten Prinzip heraus hätte ich mich noch viel mehr auf die dahinterliegenden Ziele beschränkt. Nur weil alle anderen Parteien das machen, müssen wir nicht schon die vermeintlich perfekte Lösung anbieten, die am Ende (entweder wegen der Machtlosigkeit der (außer- oder ggf. innerparlamentarischen) Opposition oder wegen der notwendigen Kompromisse) dann sowieso nicht in Reinform umgesetzt wird. Statt ausgehend von einer Position letztlich einen schlechten Kompromiss (weil keiner der Parteien sein Ziel erreicht) zu schließen, halte ich ein Verhandeln über die Ziele und das gemeinsame offene Suchen nach der besten Lösung um die gemeinsamen Ziele zu erreichen für deutlich besser. Das war auch mal in ähnlicher Form ein Grundsatz der Piratenpartei („wir sind die mit den Fragen, nicht den Lösungen“)
Wolfgang Gerstenhöfer schrieb:
Welche Privilegien der Privaten Krankenversicherungsunternehmen sind gemeint?
(Ich kenne nur Privilegien der Krankenkassen als Körperschaften des öffentlichen Rechts z. B. im Steuer- und im Wettbewerbsrecht, aber auch auf anderen Rechtsgebieten.)
Das kann ich aus dem Stand nicht beantworten, vermutlich ist es eine unscharfe Formulierung die sich aus der Historie der Entstehung dieses Abschnitte ergeben hat (siehe unten), und eigentlich ist gemeint, was im nächsten Abschnitt des Programms konkretisiert wird (z.B. Wartezeiten).
Wolfgang Gerstenhöfer schrieb:
Ist im Wahlprogramm von 2013 nicht letztendlich doch die "Bürgerversicherung" gemeint?
Dazu muss man ein wenig in die Historie der Entstehung dieses Abschnittes: Er entstand letztlich aus zwei unabhängig voneinander erstellten und diskutierten Vorschlägen, die – nach vorausgegangener heftiger Auseinandersetzung der beteiligten Gruppen – dann letztlich doch nach einigen Verhandlungen und gemeinsamen Diskussionen in einen gemeinsamen Antrag für den Parteitag in Bochum eingeflossen sind. Es handelt sich also um einen Kompromiss. In einem der zugrundeliegenden Anträge war eine Bürgerversicherung gefordert, im Kompromiss wurde dies durch die oben genannte Formulierung wenigstens ein Stück weit geöffnet.
Wolfgang Gerstenhöfer schrieb:
Kann man mit einem Volksentscheid einen gesellschaftlichen Konsens erreichen?
Nein, es wird in diesen Fragen auch keinen gesellschaftlichen Konsens geben. Die Beteiligung der Bevölkerung stellt die Entscheidung jedoch auf eine breitere Grundlage und Legitimation (Ich weiß, dass da auch eine Reihe von Problemen zu bedenken sind)
Wolfgang Gerstenhöfer schrieb:
"Die Finanzierung des Gesundheitssystems betrachten wir als gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Daher sehen wir in der Einbeziehung sämtlicher Bürgerinnen und Bürger in die Sozialversicherung unter Berücksichtigung möglichst aller Einkommensarten ein sinnvolles Modell zur Finanzierung dieses Systems. Wir erkennen allerdings die Einschränkungen der Wahlfreiheit in dieser Art der Finanzierung für Bürgerinnen und Bürger sowie die Anbieter privater Krankenversicherungen an und verstehen ihre Bedenken. Daher setzen wir uns für einen Volksentscheid ein, um einen gesellschaftlichen Konsens in dieser wichtigen Frage des gemeinschaftlichen Zusammenlebens zu erreichen."
Ist das die aktuelle Beschlußlage?
Das ist aus dem Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2013. Diese ist vorbei, somit ist dies auch (formal) nicht mehr aktuell.
Wolfgang Gerstenhöfer schrieb:
"Die PIRATENPARTEI befürwortet die Schaffung einer solidarischen Bürgerversicherung, welche die bisherige gesetzliche und private Kranken- und Pflegeversicherung sowie Rehabilitationsleistungen umfasst.
Alle Menschen mit Lebensmittelpunkt in Deutschland werden dort unabhängig vom Berufsstatus einbezogen. Alle Versicherten erhalten diskriminierungsfrei die gleichen verfügbaren Leistungen. Somit kann jeder gleichberechtigt an der Gesundheitsversorgung teilnehmen, unabhängig davon, in welchem Umfang medizinische Leistungen in Anspruch genommen werden müssen und unabhängig von der eigenen Finanzkraft."
Das ist aus einem der beiden oben genannten Anträge, die schließlich in das Grundsatzprogramm mündeten. Es gab auch mal eine LiquidFeedback-Initiative dazu, die Zustimmung erhielt (ebenso wie der andere Antrag). Eine Gegenüberstellung der beiden ursprünglichen Anträge findest du hier: http://wiki.piratenpartei.de/Gesundheitspiraten/grundsatzantrag
Wolfgang Gerstenhöfer schrieb:
Vielen Dank für Deine Mühe.
Bitte sehr!
Ich wünsche noch einen schönen Abend
- [AG-Gesundheit] Diffenzierte Diskussion des Gesundheitssystems, Reinhard Schaffert, 05.06.2015
- Re: [AG-Gesundheit] Diffenzierte Diskussion des Gesundheitssystems, Wolfgang Gerstenhöfer, 07.06.2015
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