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ag-gesundheitswesen - Re: [AG-Gesundheit] Privates Gesundheitssystem?

ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de

Betreff: AG Gesundheit

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Re: [AG-Gesundheit] Privates Gesundheitssystem?


Chronologisch Thread 
  • From: Wolfgang Gerstenhöfer <wolfgang.gerstenhoefer AT gmx.de>
  • To: "'AG Gesundheit'" <ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de>
  • Subject: Re: [AG-Gesundheit] Privates Gesundheitssystem?
  • Date: Thu, 4 Jun 2015 15:56:22 +0200
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-gesundheitswesen>
  • List-id: AG Gesundheit <ag-gesundheitswesen.lists.piratenpartei.de>

Hallo Syna,

vielen Dank für Deine ausführlichen Beiträge. Dazu nehme ich sehr gern
Stellung.

Einig sind wir uns darin, daß alle Menschen - unabhängig von ihrem Einkommen,
ihrem Vermögen und ihrer sozialen Herkunft - einen Anspruch auf medizinische
Versorgung haben sollen. Du sagst bestmöglich, ich sage angemessen, was auch
immer das im Einzelfall heißen mag. (Daher plädiere ich für einen Ausbau der
evidenzbasierten, der Leitlinienmedizin und eine Optimierung des Gemeinsamen
Bundesausschusses.)

Du siehst das Hauptproblem unseres Gesundheitswesens in der Tatsache, daß
Privatpatienten für die gleichen medizinischen Leistungen mehr Geld bezahlen
(müssen) - und dafür bestenfalls etwas mehr an Service und Zeit geboten
bekommen bzw. erwarten können.

Für mich besteht das Hauptproblem mit Blick auf die aktuelle Finanzierung
unseres Gesundheitssystems im demographischen Wandel, also in der Tatsache,
daß es immer weniger junge und immer mehr alte Menschen gibt. Aus der
Alterspyramide, die wir hatten als das Umlageverfahren in den 1880er Jahren
eingeführt wurde, ist inzwischen ein Altersbaum mit einer immer größeren
Baumkrone geworden. Das paßt nicht (mehr), und das wissen alle Beteiligten
bereits seit den 1960er Jahren.

Du malst ein Bild, in dem die Privatpatienten, die Privatversicherten zu
Lasten der Kassenpatienten, der Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen
behandelt würden und indirekt sogar öfter für deren Tod verantwortlich wären.

Diese Sicht der Dinge kann ich nur sehr eingeschränkt teilen. Es ist so, aber
das bestreitest Du meines Wissens, daß die Selbstzahler, Du nennst sie
Privilegierte, überproportional zur Finanzierung unseres Gesundheitswesens
beitragen.

Ich habe zumindest noch keine andere Statistik zu sehen bekommen. Außerdem
ist es kein Geheimnis, daß der Bundestag Kürzungen bei den Kassenpatienten z.
B. in Form der Budgetierungen gerade in den 1980er und 1990er Jahren ganz
bewußt in dem Wissen beschlossen hat, daß Einkommenseinbußen bei den
Privatpatienten kompensiert werden können.)

Trotzdem wird der Einsatz der Ärzte vor allem in den Krankenhäusern - unter
anderem mit Blick auf mögliche rechtliche Konsequenzen - in erster Linie nach
medizinischen Gesichtspunkten geplant, auch wenn die ökonomische Seite nicht
vernachlässigt werden darf. Das darf sie aber auch nicht. (Die DDR war nach
40 Jahren pleite ...)

Jeder soll einen Anspruch auf medizinische Versorgung haben, jeder Mensch ist
gleich wertvoll. Da besteht völlige Übereinstimmung.

Die entsprechenden Sach- und Dienstleistungen müssen bezahlt werden. Auch
darin sind wir uns wahrscheinlich einig. Niemand kann und will unentgeltlich
arbeiten.

Wenn ich Dich richtig verstanden habe, möchtest Du, daß Privatpatienten nicht
mehr für ihre Versorgung bezahlen sollen als Kassenpatienten, bei denen Ärzte
heute zum Zeitpunkt ihrer Behandlung in der Regel überhaupt nicht wissen, wie
viel sie für deren Behandlung bekommen.

Du möchtest aber, daß Menschen mit höherem Einkommen für den gleichen
Anspruch auf medizinische Versorgung jeden Monat einen höheren Beitrag
bezahlen sollen als Menschen mit geringeren Einkünften. Ist das richtig?

Warum sollen sie das tun? Warum soll jemand für die gleichen Leistungen mehr
bezahlen als ein anderer? Ist das (sozial) gerecht?

In der gesetzlichen Krankenversicherung besteht seit ihrem Entstehen in den
1880er Jahren das Umlageverfahren mit einkommensabhängigen Beiträgen. Warum
ist das so?

Das Umlageverfahren begründete sich in dem Umstand, daß auch vor der Gründung
einer Sozialversicherung die Menschen viele Kinder hatten, zu deren
ungeschriebenen Pflichten es gehörte, für ihre Eltern im Alter zu sorgen. Das
nennt man auch den Generationenvertrag.

Dieser Generationenvertrag wurde in Form des Umlageverfahrens
institutionalisiert. Das mit den kinderreichen Familien ist aber bereits seit
langer Zeit Geschichte, auch wenn Dr. Konrad Adenauer als Bundeskanzler in
den 1950er Jahren gesagt haben soll: "Kinder kriegen die Leute immer." Auch
in diesem Punkt hat er sich getäuscht ...

Einkommensabhängig sind die Beiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung,
weil sie vom damaligen Reichskanzler Fürst Otto von Bismarck als reine
Kranken(tage)geldversicherung begründet wurde - bekanntlich als Mittel, um
den Zulauf zu den Sozialdemokraten zu stoppen.

Wenn sich die Hauptleistung am Einkommen orientiert, dann ist es nur
konsequent, wenn sich auch die Beiträge nach dem Einkommen richten.

Die Hauptleistung ist das Krankengeld aber schon sehr lange nicht mehr.
Bereits vor Jahren hat das Bundesverfassungsgericht deshalb dem
Bundesgesetzgeber ins Stammbuch geschrieben, daß die Einkommensabhängigkeit
gewisse Grenzen hat. Es muß ein gewisses Äquivalenz zwischen Beiträgen und
Leistungen geben.

In der gesetzlichen Rentenversicherung und auch in der
Arbeitslosenversicherung ist das insofern anders, als sich hier die
Hauptleistung, also die Rente oder das Arbeitslosengeld, nach wie vor am
Einkommen, am Verdienst orientiert.

Das Bundesverfassungsgericht hat aber auch - und das ist noch gar nicht so
lange her - deutlich gemacht, daß auch die Privatversicherten und die
Unternehmen der privaten Krankenversicherung unter dem Schutz unserer
Verfassung, unseres Grundgesetzes stehen.

Eine direkte oder auch indirekte Abschaffung der privaten Krankenversicherung
und eine Verstaatlichung oder Vergesellschaftung der Alterungsrückstellungen,
die die Privatversicherten für das mit dem Alter steigende Krankheitsrisiko
aufgebaut haben, ist also nicht so einfach möglich.

Gilt der Spruch "Wir halten uns an das Grundgesetz, da sind wir konservativ."
aus dem Jahr 2012 für die Piratenpartei noch? Ich habe da leider hin und
wieder große Zweifel.

Aber selbst wenn es möglich wäre, die Privatversicherten in die gesetzliche
Krankenversicherung einzubeziehen, zu zwingen, wäre das Problem der
"Zwei-Klassen-Medizin" nicht gelöst. Es würde nur verschärft.

Denn Privatpatienten gab es immer - auch schon vor den ersten Unternehmen der
privaten Krankenversicherung - und wird es immer geben. Dann wären es
tatsächlich nur die "oberen Zehntausend", die sich den Arzt und das
Krankenhaus ihrer Wahl aussuchen und leisten können.

Mir geht es deshalb darum, die Trennung zwischen Privat- und Kassenpatienten
zu überwinden, alle Patienten quasi zu Privatpatienten zu machen und die
Finanzierung der Krankenversicherung und damit unseres Gesundheitswesens auf
eine Grundlage zu stellen, die sowohl dem demographischen Wandel endlich als
auch der durchaus nicht unberechtigten Kritik am Kapital- oder
Anwartschaftsdeckungsverfahren Rechnung trägt, - und gleichzeitig die
Grundrechte aller Betroffenen zu wahren.

Dabei bin ich davon überzeugt, daß die Finanzierbarkeit, aber auch die
Qualität nicht ohne Wettbewerb sowohl zwischen den Trägern des
Krankenversicherungsschutzes als auch der Erbringer medizinischer Leistungen
und nicht ohne Konsumenten- bzw. Patientensouveränität gewährleistet werden
kann.

Ich freue mich auf Deine "Gegenrede" und bin sehr gespannt darauf.

Beste Grüße
Wolfgang

Individuelle Freiheit für wen? Für alle! (Deshalb bin ich auch für die
(liberale) Forderung nach einem (bedingungslosen) Grundeinkommen, einem
Bürgergeld oder einer negativen Einkommensteuer, wie auch immer man es nennen
möchte.)





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