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Betreff: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik
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- From: moneymind <moneymind AT gmx.de>
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- Subject: Re: [AG-GOuFP] Vortrag "Was ist Geld?" am 1.2.2016
- Date: Thu, 18 Feb 2016 20:19:06 +0000
- List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-geldordnung-und-finanzpolitik>
- List-id: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik <ag-geldordnung-und-finanzpolitik.lists.piratenpartei.de>
Hallo Gerhard,
Von einem positivistischen Standpunkt sind Erwartungen (Präferenzen oder
wie auch immer man das nennen mag) von Grund auf innerste Ideen und als
solche unbeobachtbar. Daher können sie auch nicht Gegenstand
wissenschaftlicher Theorien sein.
Gegenstand der Ökonomie ist menschliches Handeln (etwas tun, um Ziele zu erreichen, im Kontext und in bestimmten typischen Beziehungen zu anderen, die das ebenso tun). Menschen "machen" Geschichten, zusammengenommen ergeben diese Geschichten "die Geschichte". Die ist keine isolierte Sammlung von Einzelfakten, sondern zeigt Muster. Die lassen sich erkennen und beschreiben, wenn auch bestenfalls näherungsweise.
Wenn man menschliches Handeln erklären könnte, indem man menschliches Handeln ausklammert, wäre das sicher schön. Tatsächlich erscheint (mir) schon die Idee, daß das ginge, gelinde gesagt, nicht die schlaueste zu sein. In etwa so, wie wenn man ein Auto oder Dreirad erklären wollte und dabei die Räder ausklammern würde.
Sinnvoll streiten kann man sich dagegen über die Frage, WIE sich menschlichen Handelns sinnvoll in ein ökonomisches Modell sinnvoll "einbauen" läßt (was ja schon impliziert, daß es perverserweise bereits schon mal "ausgebaut" wurde - so ähnlich wie der Versuch, einen Ferrari noch schneller und leichter zu machen, indem man den Motor ausbaut).
Es GIBT auch Aspekte der Geldwirtschaft, die von jedem menschlichen Handeln unabhängig sind, nämlich buchhalterische Identitäten, auf die Stützel sich konzentriert. Er macht das aber in vollem Bewußtsein, daß sich "wirtschaftswissenschaftliche Vollaussagen" so nicht gewinnen lassen, daß verhaltensunabhängige Saldenmechanik zwar unbedingt notwendig, aber niemals hinreichend ist, um (kollektive) ökonomische Prozesse zu verstehen.
Vielleicht kann man sogar Wissenschaft ohne die Person des Wissenschaftlers betreiben? Schaut man sich die objektivistische Sprache vieler Sozialwissenschaftler an, könnte man meinen, daß viele das tatsächlich glauben. Was mich dabei wundert, ist, daß es offensichtlich nur den wenigsten auffällt, wie absurd das ist.
Auch das ist natürlich eine Illusion, nicht größer als die, man könne menschliches Handeln 1:1 "vorhersagen" (was auch gar nicht das Ziel von Sozialwissenschaft sein kann; es geht aus meiner Sicht vielmehr darum _typische Handlungsmuster_ verständlich und damit auch grob erwartbar zu machen).
Samuelsons Grundidee war, das beobachtbare Verhalten von Konsumenten zu
untersuchen, in dem sich die individuellen Präferenzen quasi offenbaren.
Ausgehend von einem Konsistenzpostulat das folgendermassen lautet:
Wenn ein Individuum Güterbündel 1 gegenüber Güterbündel 2 vorzieht, dann
wird es nicht gleichzeitig Bündel 2 gegenüber 1 vorziehen.
Zusammen mit der Annahme gegebener Nachfragefunktionen sowie der
Annahme, dass das Einkommen vollständig ausgegeben wird, konnte er die
zentralen Ergebnisse der herkömmlichen Nutzentheorie herleiten. Konkret
sind das folgende mathematische Eigenschaften:
* Eindeutigkeit und Homogenität vom Grade 0 der Nachfragefunktion
* negativ semidefinite Substitutionsmatrix
Später wurde (meines Wissens durch John von Neumann / Oskar Morgenstern)
bewiesen, dass dies nur dann zutrifft, wenn
a) rationales Verhalten beim Konsumenten unterstellt wird und
b) dieser unveränderliche Präferenzen hat, die gewissen Eigenschaften
genügen müssen:
* Vollständigkeit: für zwei beliebige Güterbündel A und B kann der
Konsument entscheiden ob er A gegenüber B vorzieht (also A>B), B über A
(B>A) oder indifferent ist (A~B).
* Transitivität: Wenn A>B und B>C dann A>C
* Nichtsättigungsannahme: Mehr wird immer weniger bevorzugt
* Konvexität: Grenznutzen ist positiv aber fallend mit jeder
zusätzlichen Konsumption eines beliebigen Gutes
Syll zitiert in dem Artikel weitere Kritiker
Wong (2006): 'keine zwei unterschiedlichen Theorien; bestenfalls zwei
unterschiedliche Wege den selben Sachverhalt auszudrücken'
Kornai (1971): 'die Theorie ist leer, tautologisch'
Hicks (1956): 'In der Praxis gibt es keinen Test, die Präferenzhypothese
zu testen'
Reinhard Sippel wies 1997 in einem empirischen Experiment nach, dass
eine nennenswerte Anzahl von Verletzungen der Axiome auftreten und die
Theorie daher von sehr eingeschränktem Wert ist.
Soweit meine Zusammenfassung.
Steve Keen arbeitet die obigen Kritikpunkte sehr detailliert aus und
weist zudem darauf hin, dass das Problem schon für einigermassen
überschaubare Sortimente unter denen der Konsument wählen kann, so
komplex wird, dass es schlichtweg nicht mehr berechenbar ist und daher
schon das Axiom der Vollständigkeit nicht mehr erfüllt ist. Bei
Interesse kann ich Keens Vorlesung gerne auch mal aufbereiten.
Man tut gut daran, anderswo zu suchen als in der "Ökonomie", wenn man menschliches Handeln besser verstehen möchte.
Das entscheidende Argument liefert imho aber Hicks, der mit der
Nichtfalsifizierbarkeit die individuellen Erwartungen aus dem Kanon der
Wissenschaftlichleit rauskickt.
Es geht bei menschlichem Handeln - WIssenschaft eingeschlossen - nicht primär um Falsifizierbarkeit oder richtige Vorhersagen, sondern um das /Erreichen von Zielen/ - bei unbekannter Zukunft.
Es erstaunt mich immer wieder, in welche Sackgassen sich "Wissenschaftler" so verstricken. Da täte ein wenig historische Wissenschaftssoziologie der Sozialwissenschaften ganz gut.
Keynes war da immerhin von der Grundidee her weiter (wenn er auch sprachlich tief in den Fallstricken der Neoklassik gefangen war und das auch wußte), und Mehrling ist schlau genug, das aufzugreifen:
/"Promises to pay are made and accepted today, but the future to which they refer inevitably turns out different than anyone imagined at inception, so some failure is to be expected. More important, all credit (non-bank as well as bank credit) seems to be subject to a kind of positive feedback loop since, as more and more people come to have a common view of the possible future, promises to pay in that possible future get bid up in value and that makes it easy, indeed inevitable, to overpromise.
This fact of inherent instability is something we have an especially hard time confronting, since it goes to the heart of our existential dilemma. We don’t know the future but we are nevertheless required to behave as though we do. Indeed, the commitments we make to one another to perform in various ways in the future form the very fabric of the society in which we live. Marriage is like that, and so is credit. The fact of financial instability threatens that fabric, indeed constitutes a kind of unraveling of that fabric, as default on one set of promises undermines another set as well. As economists, we cling to conceptions of equilibrium, including intertemporal equilibrium, which have the reassuring property of excluding instability, but the resulting psychological comfort is bought at the price of abstraction from a fundamental feature of the actual system in which we live." ("Why is Money Difficult?" http://www.perrymehrling.com/2015/06/why-is-money-difficult/%20)/
Keynes' confession:
/"The composition of this book has been for the author a long struggle of escape, and so must the reading of it be for most readers if the author’s assault upon them is to be successful,— a struggle of escape from habitual modes of thought and expression. The ideas which are here expressed so laboriously are extremely simple and should be obvious. The difficulty lies, not in the new ideas, but in escaping from the old ones, which ramify, for those brought up as most of us have been, into every corner of our minds.(GT, Preface https://www.marxists.org/reference/subject/economics/keynes/general-theory/preface.htm)/
Das gilt in meinem Augen gerade auch für "old ideas" darüber, was "Wissenschaft", v.a. "Sozialwissenschaft" eigentlich ist und wie sie sinnvollerweise zu betreiiben wäre.
Grüße
Wolfgang
- Re: [AG-GOuFP] Vortrag "Was ist Geld?" am 1.2.2016, (fortgesetzt)
- Re: [AG-GOuFP] Vortrag "Was ist Geld?" am 1.2.2016, moneymind, 10.02.2016
- Re: [AG-GOuFP] Vortrag "Was ist Geld?" am 1.2.2016, Rudolf Müller, 01.02.2016
- Re: [AG-GOuFP] Vortrag "Was ist Geld?" am 1.2.2016, moneymind, 03.02.2016
- Re: [AG-GOuFP] Vortrag "Was ist Geld?" am 1.2.2016, Rudolf Müller, 04.02.2016
- Re: [AG-GOuFP] Vortrag "Was ist Geld?" am 1.2.2016, moneymind, 05.02.2016
- Re: [AG-GOuFP] Vortrag "Was ist Geld?" am 1.2.2016, Rudolf Müller, 06.02.2016
- Re: [AG-GOuFP] Vortrag "Was ist Geld?" am 1.2.2016, moneymind, 10.02.2016
- Re: [AG-GOuFP] Vortrag "Was ist Geld?" am 1.2.2016, Rudolf Müller, 06.02.2016
- Re: [AG-GOuFP] Vortrag "Was ist Geld?" am 1.2.2016, moneymind, 05.02.2016
- Re: [AG-GOuFP] Vortrag "Was ist Geld?" am 1.2.2016, Rudolf Müller, 04.02.2016
- Re: [AG-GOuFP] Vortrag "Was ist Geld?" am 1.2.2016, moneymind, 03.02.2016
- Re: [AG-GOuFP] Vortrag "Was ist Geld?" am 1.2.2016, Rudolf Müller, 02.02.2016
- Re: [AG-GOuFP] Vortrag "Was ist Geld?" am 1.2.2016, Jürgen, 04.02.2016
- Re: [AG-GOuFP] Vortrag "Was ist Geld?" am 1.2.2016, Gerhard, 17.02.2016
- Re: [AG-GOuFP] Vortrag "Was ist Geld?" am 1.2.2016, moneymind, 18.02.2016
- Re: [AG-GOuFP] Vortrag "Was ist Geld?" am 1.2.2016, Gerhard, 17.02.2016
- Re: [AG-GOuFP] Vortrag "Was ist Geld?" am 1.2.2016, Winrich Prenk, 17.02.2016
- Re: [AG-GOuFP] Vortrag "Was ist Geld?" am 1.2.2016, Jürgen, 17.02.2016
- Re: [AG-GOuFP] Vortrag "Was ist Geld?" am 1.2.2016, Winrich Prenk, 17.02.2016
- Re: [AG-GOuFP] Vortrag "Was ist Geld?" am 1.2.2016, Jürgen, 18.02.2016
- Re: [AG-GOuFP] Vortrag "Was ist Geld?" am 1.2.2016, Marco Schmidt, 18.02.2016
- Re: [AG-GOuFP] Vortrag "Was ist Geld?" am 1.2.2016, Alexander Raiola, 18.02.2016
- Re: [AG-GOuFP] Vortrag "Was ist Geld?" am 1.2.2016, Winrich Prenk, 20.02.2016
- Re: [AG-GOuFP] Vortrag "Was ist Geld?" am 1.2.2016, Jürgen, 18.02.2016
- Re: [AG-GOuFP] Vortrag "Was ist Geld?" am 1.2.2016, Winrich Prenk, 17.02.2016
- Re: [AG-GOuFP] Vortrag "Was ist Geld?" am 1.2.2016, Alexander Raiola, 18.02.2016
- Re: [AG-GOuFP] Vortrag "Was ist Geld?" am 1.2.2016, Christoph Mayer, 18.02.2016
- Re: [AG-GOuFP] Vortrag "Was ist Geld?" am 1.2.2016, Jürgen, 17.02.2016
- Re: [AG-GOuFP] Vortrag "Was ist Geld?" am 1.2.2016, Winrich Prenk, 17.02.2016
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