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ag-geldordnung-und-finanzpolitik - Re: [AG-GOuFP] Vortrag "Was ist Geld?" am 1.2.2016

ag-geldordnung-und-finanzpolitik AT lists.piratenpartei.de

Betreff: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik

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Re: [AG-GOuFP] Vortrag "Was ist Geld?" am 1.2.2016


Chronologisch Thread 
  • From: Arne Pfeilsticker <Arne.Pfeilsticker AT piratenpartei-hessen.de>
  • To: moneymind <moneymind AT gmx.de>
  • Cc: ag-geldordnung-und-finanzpolitik AT lists.piratenpartei.de
  • Subject: Re: [AG-GOuFP] Vortrag "Was ist Geld?" am 1.2.2016
  • Date: Wed, 20 Jan 2016 13:15:18 +0100
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-geldordnung-und-finanzpolitik>
  • List-id: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik <ag-geldordnung-und-finanzpolitik.lists.piratenpartei.de>


Am 19.01.2016 um 14:55 schrieb moneymind <moneymind AT gmx.de>:

Grüß Dich Arne,

Arne ...
Deine mathematische Analogie beschreibt einige Aspekte des Verhältnisses von common law und civil law ganz gut. Was mich allerdings wundert, ist, daß Du eine Analogie benutzt und das nicht abstrakt auf den Begriff bringst.
Weil ich nett zu dir bin und mir gedachte habe, dass ein „extensionaler" Denker besser mit Analogien zurecht kommt, als mit funktionalen Beschreibungen. :-)

Bei mir kommt das eher so an, als ob Du dem Problem, das ich angesprochen habe, ausweichst und mich zum "Dummy" erklären magst, der Deiner Wahrnehmung nach noch nicht auf den Höhen der rein mathematischen Betrachtung angekommen ist.

Hi Wolfgang,
OK, die Botschaft ist angekommen.


Weil das mathematische Beispiel den Unterschied einer extensionalen und funktionalen Beschreibung am prägnantesten auf den
Punkt bringt.

Am besten aus DEINER Perspektive.

Viel mehr bleibt m.E. jedem von uns nicht übrig, weil jeder mit seinem eigenen Kopf denkt und durch die eigenen Augen sieht. :-)

Ich betrachte das aus einem epistemologisch anderen Blickwinkel, dem sich auch Deine Perspektive als Teilperspektive subsumieren läßt. Laß uns auf die epistemologischen Fragen ein andernal zurückkommen, ich bin gerade mit Arbeit zugesch...üttet. Das ginge in ein paar kurzen Sätzen nicht ausreichend klar.

Ich werde auf den konkreten Punkt, den ich meinte: nämlich Eigentums- und Besitzrechte im BGB einerseits, und Entsprechungen für diese unterschiedlichen Rechtskonstrukte in vorstaatlichen Gesellschaften, anhand eines ganz konkreten Beispiels zurückkommen, das glaube ich sehr gut verdeutlicht, warum der Begriff "Eigentum" (Vermögensrecht, über das unabhängig vom Besitz verfügt werden kann und das daher bilanziert wird) für vorstaatliche Sozialbeziehungen keinerlei Sinn ergibt, der Begriff "Besitz" und "Besitzrechte" dagegen sehr wohl (d.h. es gibt zum Besitz berechtigte - wie den Mieter eines Autos - zum Besitz unberechtigte (wie den Dieb eines gemieteten Autos) und tatsächliche Besitzer.

Sobald ein Rechtsubjekt über eine Sache rechtlich verfügt und auch dazu das Recht hat, ist er nach dem heutigen juristischen Sprachgebrauch Eigentümer und hat nicht nur ein Recht auf Besitz.

Ich glaube der Streit kann ganz einfach beigelegt werden, wenn du und ich ganz genau definieren, was sie jeweils unter den Begriffen Eigentum, Besitz, Besitzrecht verstehen.


Der zum Besitz berechtigte darf gegenüber dem Dieb (der durch den Diebstahl zu tatsächlichen Besitzer wurde) nämlich zur Selbsthilfe greifen und sich "seinen" Gegenstand zurückholen. Das ist universell in allen Gesellschaften so, auch im BGB ist hier Selbsthilfe - sonst verboten! - erlaubt.

Du verwechselst die Aussage, "der Eigentümer darf vom Besitzer die Herausgabe der Sache fordern" mit obigem, das verleitet Dich dazu, "Eigentum" als auch in vorstaatlichen Gesellschaften als gegeben anzusehen.

Andererseits sagst Du: nur Eigentumsrechte können bilanziert werden. Genau. In vorstaatlichen Gesellschaften (meistens schriftlos) wird nicht bilanziert, es gibt dort keine bilanzierbaren, abstrakt quantifizierten Vermögensrechte. Also ist es selbst Deiner Definition nach in dieser Hinsicht falsch, dort von Eigentum zu reden.

Wenn nicht bilanziert wird, heißt das nicht, dass nicht bilanziert werden könnte.

Eine Bilanz ist eine Vermögensaufstellung eines Rechtssubjektes und Vermögen im juristischen Sinne sind die Rechte (= Aktiva) und Pflichten (= Passiva) die einem Rechtssubjekt zu einem Stichtag zugeordnet werden können.

Eine Bilanz im betriebswirtschaftlichen Sinne lässt jedoch einige Rechte und Pflichten unberücksichtigt und bewertet die Rechte auch nach bestimmten Regeln.


Widersprüchlich wird Deine Perspektive dann, wenn Du qua "der Eigentümer kann vom Besitzer die Herausgabe fordern" das Eigentum den vorstaatlichen Gesellschaften doch zusprechen willst.

Eine Rechtsordnung in dem von mir verwendeten allgemeinen Sinne ist nicht an etablierte staatliche Strukturen gebunden. Ich verstehe darunter ein System von Verhaltensregeln und Verhaltensdurchsetzung. Siehe Folie 34 https://www.hidrive.strato.com/lnk/OTAkvW7K (Bitte neu laden, weil ich ständig an der Präsentation arbeite und auch versuche die Argumente in der Diskussion aufzugreifen.)


Sobald erkannt ist, daß die Beziehungen in vorstaatlichen Gesellschaften mit Besitzrechten nicht nur ausreichend, sondern treffend beschrieben ist, ist dieser Widerspruch in Deiner Perspektive aufgelöst.

Daher sagt der Rechtsanthropologe William Seagle auch völlig zu recht:

/" Auf die primitiven Einrichtungen passt der Begriff “Besitz” weit besser als der des Eigentums. Ein Eigentum in unserem Begriffe kann sich nur aus einem langen kontinuierlichen und ungestörten Besitz entwickeln, und auch dann erst, wenn man beginnt, den Besitz öfter zu übertragen, nachdem sich Rechtsgeschäfte herausgebildet haben, die solche Besitzübertragungen ohne Aufgabe des Rechts an der Sache ermöglichen, wie z.B. die Verpfändung (sic!). Ehe die Begründung von Schuldverhältnissen üblich wurde, war für ein Rechtsinstitut wie das des Eigentums gar kein Bedürfnis gegeben." (Seagle: Weltschichte des Rechts, München 1958, S. 84/

q.e.d.

oder auch nicht. Was hier angesprochen wird ist, dass mehr oder weniger alle Rechtsordnungen eine Regel haben, wie ein unrechtmäßiger Besitzer zum Eigentümer wird. Das Motto dieser Regeln ist: Die Zeit heilt alle Wunden.

Selbst zu jedem herrenlosen Gut gibt es ein Eigentum, denn sonnst könnte man sich ein herrenloses Gut nicht einfach aneignen.

Gruß
Arne


Folglich betrachtet er auch die

/"… Unterscheidung zwischen materiellen und immateriellen Güterrechten als Charakteristikum für ein entwickeltes Rechtssystem." (ebd., 85)/

Er erkennt übrigens im Kulturvergleich und im historischen Vergleich auch ganz klar, daß die "Isolierung des Individuums" und der Zerfall großfamiliärer Clans eine der Hauptvoraussetzungen für die Entstehung von Eigentum und Vertrag darstellen (ebd., s. 100 passim).

Rein begrifflich-abstrakte Arbeit ist wichtig, ersetzt aber nicht den konkreten Kulturvergleich, sondern muß darauf rückbezogen werden. Verzichtet man auf diesen zugunsten einer a priori-Betrachtung plus empirie-freier evolutionistischer Konstruktion (wie Du in Deiner Interpretation von Commons), dann macht man einen gängigen empirischen Denkfehler, der für Europäer immer eine ideologische Funktion hatte, nämlich die ideologische Rechtfertigung einer angeblichen Überlegenheit der eigenen Kultur qua angeblich evolutionär "höherer" Entwicklungsstufe, die man eben für den Kolonialismus brauchte, um das eigene Gewissen (angesichts situativer Zwänge) ruhigzustellen.

Du reproduziertst diese Denkfigur offensichtlich unbewußt, Deine Verweigerung der kulturvergleichenden und historischen Empirie ist typisch europäisches Denkenn.

Darum ging es aber doch gar nicht, sondern um folgendes, dem Du - wie üblich - ausgewichen bist:
/"Aus meiner Sicht ist das, was wir hier bei Commons lesen, der Beginn eines Abstraktionsvermögens, das uns heute weitgehend selbstverständlich ist." /
Ist die Geschichte so verlaufen ("Commons = Beginn (common law), dann "Evolution", bis zum "heutigen Abstraktionsvermögen" des civil law)?
Oder nicht.
Eher nicht. Ich vermute, es war eher eine glückliche historische Fügung, dass sich im Civel Law die funktionale Beschreibung bevorzugt durchgesetzt hat.


Eben. Und warum genau es so war, kann man nur über eine eine konkrete historische Rekonstruktion zu klären versuchen.

Ganz allgemein ist meine Erfahrung, dass sich Juristen eher schwer tun mit abstraktem mathematischem Denken.

Natürlich, weil sie das für ihre Praxis nicht brauchen. Logik dagegen - der Umgang mit Syllogismen - gehört für Juristen aus dem kontinentaleuropäischen Rechtskreis (civil law) zum täglichen Brot (schau in jede beliebige juristische Methodenlehre), für Anglojuristen ist eben Analogiebildung wichtiger (wenn auch sie nicht ohne abstrakte Begriffe auskommen, und wenn auch für die civil-law-Tradition Präzedenzfälle natürlich wichtig bleiben, vor allem für die Rechtsentwicklung).

Gesetzgebung ist zwangsläufig funktionale, weil hier Regeln (= Funktionen) formuliert werden.

Ja, aber die Regeln werden im civil law ganz explizit formuliert und in ein System (Kodifikation) gebracht, während sie im "analogical reasoning" des common law eher implizit bleiben und daher eben nur in Ansätzen ausformuliert und überhaupt nicht in ein schlüssiges System (Kodifikation) gebracht werden.

Ein analoger Unterschied besteht zwischen einem Jazzmusiker, der intuitiv hervorragend improvisieren kann, ohne dafür theoretische Erklärungen bringen zu können, und einem, der auch letzteres beherrscht (heute zunehmend die Regel).

Oder zwischen einem Muttersprachler, der sich perfekt und grammatikalisch Korrekt in seiner Sprache ausdrücken kann, ohne die grammatikalischen Regeln, die er dabei befolgt, bewußt zu kennen oder benennen zu können, und einem Linguisten oder Sprachpädagogen, der zusätzlich auch die zugrundeliegenden grammatikalischen Regeln explizit formulieren und systematisieren kann.

Man muß Regeln nicht bewußt beschreiben, benennen und systematisieren können, um sie systematisch ANWENDEN zu können.

Man könnte auch vermuten, dass in der Entwicklung des Civil Laws die Gesetzgebung tendenziell stärkere war und daher klarere Gesetze formulieren konnte,


Das hätte eine genauere vergleichende historische Analyse der Entstehung des common law und der Entstehung der kontinentaleuropäischen Rechtskodifikationen präziser zu klären.

wären man im Common Law öfter auf „faule“ Kompromisse zurückgreifen musste,

Das beinhaltet bereits wieder eine Wertung.

was sich in der unklaren Formulierung der Gesetze niederschlug.

Wie gesagt, man muß Regeln nicht explizit formuliert und systematisiert haben, um sie systematisch anwenden zu können - siehe oben.

M.E. kann man an der Entwicklung der Mathematik erkennen, dass abstraktes Denken ein evolutionärer Prozess in der menschlichen Entwicklung ist.

Nein, man kann daran erkennen, wie sich die Mathematik historisch entwickelt hat - dort, WO sie sich so entwickelt hat. Wo sie sich NICHT so entwickelt hat, nicht, und es besteht kein Grund, anzunehmen, daß sie sich auch dort genauso entwickeln wird.

Hier beginnen m.E. die typisch europäischen evolutionistischen Fehlverallgemeinerungen, s.o.

Auf das Beispiel mit Eigentums- vs. Besitzrechten komme ich genauer zurück, sobald ich etwas mehr Luft habe.

Gruß
Wolfgang

--
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