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ag-gesundheitswesen - Re: [AG-Gesundheit] (kein Betreff)

ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de

Betreff: AG Gesundheit

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Re: [AG-Gesundheit] (kein Betreff)


Chronologisch Thread 
  • From: "Martin E. Waelsch" <dr.m.e.waelsch AT t-online.de>
  • To: "'AG Gesundheit'" <ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de>
  • Subject: Re: [AG-Gesundheit] (kein Betreff)
  • Date: Sat, 14 Apr 2012 21:42:03 +0200
  • Importance: High
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-gesundheitswesen>
  • List-id: AG Gesundheit <ag-gesundheitswesen.lists.piratenpartei.de>

Ich habe sicher nicht vor, hier ein Seminar über Psychiatrie und
Psychotherapie abzuhalten. Über die Konzepte, Einzelheiten und medizinischen
Ziele der psychiatrisch -psychotherapeutischen Behandlung kann man sich
umfassend informieren.
Beispiele:

Leitlinien:
http://www.awmf.org/leitlinien/aktuelle-leitlinien/ll-liste/deutsche-gesellschaft-fuer-psychiatrie-psychotherapie-und-nervenheilkunde-dgppn.html

Leitlinien Kooperationen Links:
http://www.awmf.org/leitlinien/ll-partner-links.html

Infos der Leitlinien für Patienten:
http://www.awmf.org/leitlinien/patienteninformation.html

Die Antipsychiatrie-Diskussion werden moderne Psychiater nicht wieder führen.
Wir haben ein anderes Problem:

Den Vormarsch der biologischen Psychiatrie: Auswirkungen siehe USA, wo
Psychiater nur für Psychopharmaka verordnen zuständig sind und sein sollen,
für das "reden" Psychotherapie haben sie dort die Psychologen und
Sozialarbeiter usw. auserkoren und es auf die delegiert. Gegen diesen Trend
hat sich die europäische Psychiatrie bislang erfolgreich verwahrt, wie lange
sie es allerdings unter dem Druck der Sparillusionen der Regierungen und dem
Druck der Pharmalobby machen können ist unter anderem auch von der Umsetzung
der von dir angesprochenen Konvention.

Hier ist ein Missstand, der schon von der falschen Übersetzung herrührt (d.h.
Deutschland u.a. haben sich da politisch gewollt was anderes (Integration)
reingeschrieben. Die gleiche Politikzielsetzung ist dafür verantwortlich,
dass die seit Enquete und der Empfehlungen der Expertenkommission erreichten
Fortschritte nun mehr demontiert werden sollen. So ist auch die halbherzige
Umsetzung der WHO Konvention zu verstehen.

Nebenbei: Behinderungen setzen eine Erkrankung voraus.

Behandlungen sollten darauf ausgelegt sein, Behinderungen möglichst zu
verhindern, was nicht die billigste Behandlungsart ist. Die pauschalierte
Medizin ist darauf ausgelegt, sie kalkuliert Behinderungen ein.

In der Psychiatrie wird dieser Rückschritt gerade vorbereitet, in dem in der
Psychiatrie auch Pauschale eingeführt werden sollen.

Damit die Psychiatrie Personal Verordnung (PsychPV) abgeschafft. Die einzige
Personalberechnung in der Medizin überhaupt, die eine valide
Personalberechnung für eine auskömmliche Behandlung erlaubt. Anstatt diese
Berechnungssystem analog in allen medizinischen Bereichen einzuführen, wird
es aus der Psychiatrie verbannt, weil zu transparent und damit Machtspiele
der Kassen solange es besteht, verhindert. Das passt den Kassen nicht.

Die Tendenz der Politik und der Kassen geht konform mit der Pharmaindustrie:
es wird alles auf Psychopharmaka kalkuliert:
Diagnostik
Behandlung
Behandlungsdauer
Behinderungen
Arbeitsfähigkeit
Berentung
Fahrtauglichkeit
Berufsunfähigkeit
Schwerbehinderung
Usw.

Weshalb ich das so aufschreibe?

Weil ich es unsinnig finde, wenn sich eine Bewegung, wie die Piraten beim
"ändern" mit alten Kamelen beschäftigt, die kein Fachmann, keinen Patienten,
keinen Angehörigen interessieren. Die sind ausdiskutiert. Aber die Probleme
nicht überwunden, nicht Veränderungen zu Teilen wieder auf rückwärts
geschaltet.

Es spielen sich auch alle wunderbar in die Hände. Auch die Leitlinien kann
man nicht ohne ausreichend Erfahrung einfach 1:1 in der Behandlung ansetzen,
sie sind eine Richtschnur, an die sich alle halten sollten, damit sie zum
Ziel kommen. Bedeutet: sie sind ein Geländer auf der Treppe zu Problemlösung.
Gehen muss jeder selbst und überlegen, wie man geht und was man unterwegs
ändern muss genauso. Dafür ist eine gute Ausbildung erforderlich.

Beispiel für die mittlerweile perverse Situation in der Alltagsversorgung:

85 jährige Mann wird mit Herzrhythmusstörungen ins Krankenhaus eingeliefert,
bekommt dort Herzstillstand, wird schnell rausgeholt und bekommt einen
Herzschrittmacher implantiert. Alles funktioniert wunderbar bis auf die
Auswirkungen der Sauerstoffmangelversorgung des Gehirns während der Asystolie
(Herzstillstand) = hirnorganische Psychosyndrom mit Verwirrtheit,
Desorientierung, ungerichtete Aggressionen, Tag-Nacht Umkehr,
Gedächtnisprobleme, Probleme bei der selbstpflege (fehlendes Verständnis und
Übersicht für Körperabläufe/Funktionen/Kleidung usw.). Kurz um, dauert dieser
Zustand bereits 2 Wochen und der behandelnde Internist behauptet, das sei nun
mehr ein Dauerzustand und der Mann müsse ins Heim - geschlossenes Heim
versteht sich bei dem Zustand. Auf meinen Einwand, dass es eindeutige
Veränderungen in dem Zustand des Patienten gibt, kleine aber mit deutlichen
Hinweisen, das eine Restrukturierung des Gehirns und seiner Funktionen zur
Normalisierung zu beobachten sind. Er meinte, es würde schließlich in den
Leitlinien stehen, dass ein über 14 Tage bestehendes Durchgangssyndrom nun
mehr als Dauerzustand zu betrachten sei.
Ich musste ihm sehr deutlich sagen, dass vom Befund und nicht von den
Leitlinien abhängig ist, wie ein Zustand und dessen Prognose überhaupt
halbwegs valide beurteilt werden können.
Wollte es nicht akzeptieren, mit einem Hinweis als Garnierung, dass die
Pauschale auch keinen längeren Aufenthalt erlauben würden, man habe sich ja
was dabei gedacht beiden DRGs, eben diesen Leitlinien folgend die Pauschale
festgelegt.

Ein weitere Diskussion auf Fachebene war nicht möglich. Mit dem Hinweis, ich
werde den Fall vor die Ärztekammer bringen konnte für den Mann eine weitere
Behandlung mit entsprechenden Maßnahmen wie Logopädie, Physiotherapie und
Ergotherapie mit passenden medikamentösen Unterstützung fortsgestezt und
entwickelt werden.

Der Mann fährt wieder Auto und ist unauffällig, freut sich seines Lebens.

Und so ist es oft.

Die Psychiatrie wird auf alle möglichen Arten in Frage gestellt (auch
antipsychiatrisch), anstatt die Möglichkeiten der Behandlung zu verbessern.
Die Pauschale bringen es mit sich, dass die somatischen Abteilungen sobald
einer psychische Störungen zeigt denken, das ist psychiatrischer Fall, hören
auf medizinisch zu denken, schalten auf Speditionsdenken um und schauen, dass
sie den Patienten schnellstens in die Psychiatrie bekommen. So kommen immer
mehr blutige Verlegungen zustande. Unsere Aufnahmen steigen, die Kompetenz
für komplexe Erkrankungen in der somatischen Medizin sinkt. Die Psychiatrie
wird tatsächlich am Ende dann zu einem Endbahnhof der Medizin.

Hier beginnen Sie mit Ihrer Argumentation dann wieder recht zu bekommen.
Leider.

Die Frage ist, ob es das Ziel ist, die Psychiatrie-Psychotherapie zu diesem
Endbahnhof der pauschalierten Medizin werden zu lassen. Damit wären wieder
etwa im Jahre 1870, da stand schon mal solche Entscheidung vor der
Ärzteschaft und der Gesellschaft.

Wie weit weg von der Gesellschaft müssen psychisch kranke Menschen behandelt
werden - örtlich, sozial und medizinisch. Damals hat man sich gegen
Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern zu Gunsten von Psychiatrieanstalten im
Grünen (Landeskliniken; die gibt es heute noch).

Es ist also mehr die Frage, welche politische Ziele eine Partei wie die
PIRATEN für die psychiatrische Versorgung haben, als alte Diskussionen wieder
von neuem anzufangen.

Personal-> Erhaltung der PsychPV
Gleichstellung -> Die Vollversorgung durch Psychiatrische Abteilungen an
Allgemeinkrankhäusern zu gewährleisten
Gemeindepsychiatrische Versorgung weiter flächendeckend ausbauen:
Gemeindepsychiatrischer Verbunde mit
Klinikkern
Tagesklinik
Tagesstätte
Sozial-Psychiatrischen Dienst
Kleine Heime
Gerontopsychiatrische Dienste
Gerontopsychiatrische Tageskliniken
Usw.

Es gibt wichtigere Kataloge für politische Arbeit als die Frage, ob es
Erkrankungen gibt oder nicht.

Inclusion - Integration
http://www.netzwerk-artikel-3.de/

HG

Dr. M. E. Waelsch

> -----Ursprüngliche Nachricht-----
> Von: ag-gesundheitswesen-bounces AT lists.piratenpartei.de [mailto:ag-
> gesundheitswesen-bounces AT lists.piratenpartei.de] Im Auftrag von Black
> Sun
> Gesendet: Samstag, 14. April 2012 16:37
> An: ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de
> Betreff: Re: [AG-Gesundheit] (kein Betreff)
>
>
> Martin E. Waelsch schrieb:
> > Daneben gibt es aber Menschen in wachsender Zahl, die sich nicht
> zurecht
> > finden. Die auf verschieden Art und Weise auf innere Emigration gehen
> und
> > darunter leiden. Weil es einsam ist.
>
> Was genau meinst du damit?
>
> Martin E. Waelsch schrieb:
> > Wollen Sie die Menschen leiden lassen oder denen eine Möglichkeit
> geben
> > zu reden, andere Wege zu finden. Das wäre dann die
> > psychiatrisch-psychotherapeutische Hilfe.
>
> Könnest du das, was du unter "psychiatrisch-psychotherapeutische Hilfe"
> verstehen, bitte näher ausführen und beschreiben? Sonst redet man
> eventuell auch einfach aneinander vorbei.
>
> Martin E. Waelsch schrieb:
> > Diese Diskussion haben wir schon lange hinter uns. Wir sind mit den
> > sozialpsychiatrischen Konzepten und mit den modernen
> > psychiatrisch-psychotherapeutischen Strategien schon lange über die
> > Anti-Psychiatrie-Diskussion hinweg.
>
> Neue Forschungserkenntnisse benötigen in vielen Fällen ein gutes
> Jahrzehnt und mehr, um vollends in der Praxis anzukommen. Ansonsten ist
> die Anti-Psychatrie-Diskussion weiterhin insoweit aktuell, dass damit
> vor
> allem sehr viel Geld verdient wird, was die Motivation der Psychatrien
> (welche damit abreiten) und vor allem dem Oligopol im Sozialsystem
> (welche
> maßgeblich davon profitiert), etwas gegen überholte aber profitable
> Praktiken zu unternehmen, reduziert und im Gegenzug das Misstrauen von
> Seiten der "Kunden" gegenüber der Psychatrie und dem Sozialsystem
> wachsen
> lässt. Die bei dieser Konfrontation entstehenden Querschläger tendieren
> dazu, an der falschen Stelle Schaden anzurichten, im System bestehende
> Probleme allerdings nur langsam zu lösen.
>
> Sofern die UN-Konvention über Rechte von Menschen mit Behinderung
> http://de.wikipedia.org/wiki/UN-
> Konvention_%C3%BCber_die_Rechte_von_Menschen_mit_Behinderungen
> (die zu lesen ich nahelege, Wikipedia in Deutsch und Englisch bietet
> allerdings eine akzeptable Zusammenfassung) endlich in ihrer
> eigentlichen
> Form in Deutschland (die deutsche Bürokratie ist wie üblich langsam,
> die
> Bundesregierung erweckt zudem nicht gerade den Eindruck, etwas in eine
> für Behinderte positive Richtung bewegen zu wollen) umgesetzt und die
> WHO
> ihre diesbezüglichen Standards der Realität (s. UN-Konvention) anpasst,
> ist viel gewonnen.
>
> Martin E. Waelsch schrieb:
> > Wollen wir die im 21. Jahrhundert wieder beleben oder ist es nicht
> > besser, den eingeschlagenen Weg zu mehr Sozialkompetenz weiter zu
> gehen.
>
> "Eingeschlagender Weg zu mehr Sozialkompetenz"? Meinst du damit die
> "psychiatrisch-psychotherapeutische Hilfe", bei der ich dich (s. oben
> in
> meinem Post) darum bitte, sie näher auszuführen und zu beschreiben?
> Wenn
> nicht - was genau meinst du damit?
>
> Sofern wir aneinander vorbei schreiben, sag bitte einfach bescheid.
> --
> AG-Gesundheitswesen mailing list
> AG-Gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de
> https://service.piratenpartei.de/listinfo/ag-gesundheitswesen





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