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ag-liquid-democracy - Re: [AG Liquid Democracy] Diskussionsstand

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ag-liquid-democracy AT lists.piratenpartei.de

Betreff: Liquid Democracy in der Piratenpartei

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Re: [AG Liquid Democracy] Diskussionsstand


Chronologisch Thread 
  • From: Thomas <entropy AT heterarchy.net>
  • To: ag-liquid-democracy AT lists.piratenpartei.de, lynX AT pirate.my.buttharp.org
  • Cc: Magnus Rosenbaum <piraten AT cmr.cx>
  • Subject: Re: [AG Liquid Democracy] Diskussionsstand
  • Date: Tue, 08 Oct 2013 22:15:24 +0200
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-liquid-democracy>
  • List-id: Liquid Democracy in der Piratenpartei <ag-liquid-democracy.lists.piratenpartei.de>

Das Nachfolgende werde ich genauer ausgeführt noch verbloggen.

On 08.10.13 20:16, Slash wrote:
> Ich will hier gar nicht sagen:
> "Delegated Voting ist Mist; es gehört durch ein Rätesystem ersetzt."

Ich halte Delegated Voting für Mist. Auf den ersten Blick eine nette
Idee, aber wenn man es sich genauer überlegt, ein demokratischer
Rückschritt.

Je nach Variante führt es mehr oder weniger zu:

1. Verantwortung:

- Förderung von Verantwortung an andere abzuschieben anstatt sich selbst
mit Inhalten auseinander zusetzen und zu entscheiden (fire&forget)

- Weiterübertragung des Stimmrechts, obwohl bestenfalls dem ersten
Delegierten die fachliche Kompetenz zugetraut wird (Alles oder Nichts
Vertrauen)

- wenn Delegation auf Grund mangelnder Kompetenz geschieht, kann auch
kaum die Kompetenz eines anderen richtig eingeschätzt werden können
(Blender)

- Zwang für mehr als seine eigene Stimme Verantwortung zu übernehmen
(jeder ist Delegierter - Abschaffung des freien Souveräns)

- es wird suggeriert, mit einer Enthaltung würde die wertvolle Stimme
"verloren" gehen. Aber bewusste Enthaltung kann u.a. Unschlüssigkeit,
Ahnungslosigkeit oder Überlassen der Verantwortung an die Abstimmenden
bedeuten

2. Machtkonzentration:

- höhere Gefahren von Missbrauch durch Machtkonzentration (effektive
Diktaturmöglichkeit, erleichterter Lobbyismus durch Fokussierung auf
weniger Personen)

- Förderung von Oligarchien, in denen sich Superdelegierte ihre Macht
durch Absprachen gemeinsam noch erhöhen

- Förderung von Superdelegierten durch Anreiz an Weiterdelegierende zu
delegieren um Stimme nicht verloren gehen zu lassen -> de facto
repräsentatives System, jedoch mit ungleichem Stimmgewicht (Verletzung
Gleichheit)

- Es ist leichter viele Teilnehmer dazu zu bringen, eine dauerhafte
Delegation zu setzen, als jedes mal gemäß einer Vorgabe selbst
abzustimmen (Stimmenkauf)

3. Verletzung von Geheimheit, Freiheit, Allgemeinheit, Gleichheit,
Anonymität:

- Negation des Wahlgrundsatzes der Geheimheit, der ebenso auf
Delegation anzuwenden ist, da durch sie ebenso Ver-/Misstrauen
ausgedrückt wird -> sozialer Druck

- Erfordernis von Computer-Systemen, um alle Delegationen aktuell zu
erfassen. Damit einhergehend die Probleme von Onlineabstimmungen,
verstärkt durch Machtkonzentration, stumme Delegation von inaktiven...

- eine öffentliche, geheime Abstimmung ist damit de facto
ausgeschlossenen, insbesondere wenn spätere Kontrolle der
Delegiertenstimme gewünscht ist

- die erhöhte Komplexität des System schließt Personen ohne gute
Computerkenntnisse oder dessen Verständnis aus

- Da nicht garantiert ist, dass jeder gleiches Stimmgewicht hat, und man
mit wenigen Delegationen relativ Einfluss verliert, ist man dazu
gezwungen um Delegationen werben. Dafür kann man aber nicht anonym
bleiben, weil sonst andere nicht wüssten, auf wen sie Delegieren.
Jeder, der effektiv mitbestimmen will, ist also gezwungen seine
Anonymität aufzugeben, um Delegationen zu erhalten und die Stimmgewichte
nicht zu sehr vom Gleichstand abdriften zu lassen.

-> Verletzungen zu sämtlichen Grundprinzipien der Wahlgrundsätze (siehe
auch Machtkonzentration und Information)

4. mangelnde Chancengleichheit:

- Fehlen von Chancengleichheit bei der Erlangung von Delegationen
(Pflicht in repräsentativen Systemen) - stattdessen Vorteil von gut
Vernetzten oder Populären (externe Legitimation)

- Förderung von Mehrklassengesellschaft, in denen sich jemand mit mehr
Delegationen anderen mit wenigen Delegationen nicht zur Rechenschaft
schuldig fühlt - eine Debatte wird nicht gefördert

- Selbstverstärkende Effekte (Matthäus Effekt): wer viele Delegationen
hat, erhält noch mehr; wer wenige hat, verliert diese eher

-> quasi marktradikaler Stimmenmarkt ohne Kartellamt und ohne Förderung
von Existenzgründern

5. Information:

- Rückmeldung über Verwendung des Stimmrechts durch die Delegierten erst
nach der Entscheidung, wenn es zu spät ist (Feedback), die jedoch, wenn
die Delegation auf Grund von Zeitmangel oder Inkompetenz vergeben wird,
wertlos ist und wohl kaum genutzt wird (siehe auch Verantwortung)

- Willensbildung besteht aus mehr als Abstimmung. Die Meinung eines
Teilnehmers ändert sich häufig im Laufe der Debatte und könnte zu einer
Änderung der Delegation führen. Der Delegierende hat wohl gerade keine
Zeit für die Debatte, sonst würde er nicht delegieren. Die
Entscheidungen würden wohl anders ausfallen, als wenn sich jeder
Abstimmende selbst informieren würde (siehe Ossege 2012, Unzulässigkeit
der Stimmrechtsübertragung in Parteien)

- Fehlende Vorfilterfunktion für das Problem "Millionen Meinungen, aber
keiner will/kann hinhören" - dadurch Informationsüberfluss, Abwenden von
Teilnehmern und wieder Filterung durch extern
Legitimierte/Superdelegierte/Zeitelite, so wie das Untergehen von guten
Ideen

- durch Überforderung de facto Zwang zur Delegation, wenn man sich nicht
nur enthalten will

- Vermeintliche Offenlegung von Machtstrukturen würde nur unter Annahme
geschehen, das jeder Teilnehmer sie offenlegen will, anstatt einfach nur
das zu befolgen, was er auf externem Wege gesagt bekommt

u.v.m

Angesichts all dieser Probleme, und dessen, dass Beschlussempfehlungen
diese vermeiden können und gleichzeitig noch Vorteile bieten,
gibt es mE überhaupt keinen Grund sich noch weiter mit Delegated Voting
zu beschäftigen, auch wenn man mit QuickHacks einige Probleme reduzieren
könnte.

Mit Beschlußempfehlungen hat man im Gegenteil:
* elaboriertes Feedback _vor_ der Abstimmung
* die Information und Debatte steht im Fokus, nicht die Stimme
* ständige Überzeugungsarbeit durch die Empfehlungsgebenden
* ein Baum von Einflüssen an den Empfänger und beliebigen Funktionen die
Informationen zu kombinieren anstatt eines statischen
Stimmrechtsübertragungspfades
* Eigenverantwortung durch jeden Teilnehmer - mündiger, informierter Bürger
* mit geheimer Abstimmung vereinbar, da das System unabhängig von der
Abstimmung ist
* Empfehlungen zu geben ist freiwillig und kann auch auf Vertraute
eingeschränkt werden
* man kann anders abstimmen, als man anderen empfohlen hat
* Möglichkeit computergestützt Leute mit ähnlichen Ansichten zu finden
und Newcomer zu fördern (collaborative filtering)
* im ungünstigen Fall Degeneration zu quasi-delegated voting durch
ungeprüfte Übernahme von Empfehlungen
u.v.m.

> Viel eher denke ich, dass es eine sehr nützliche Erweiterung ist,
> weil durch diese zusätzliche Stellschraube die Delegations-Frage in
> einem ganz anderen Licht steht.
> Wenn es nun zusätzlich ein Rätesystem gäbe, würden beschneidende
> Eingriffe bei Delegation massiv entschärft werden.

Der einzige "Nachteil" von Beschlußempfehlungen ist, dass die
Teilnehmer, zumindest bei einer geheimen Abstimmung, selbst abstimmen
müssten.
Wenn man die Abstimmungszeiträume lange genug wählt und Vorfilter so
gestaltet (z.B. Quoren, Blockabstimmungen), dass _allen_ Teilnehmern
zumutbar ist, sich mit jedem Sachverhalt zu beschäftigen, dann ist auch
das kein Problem mehr. Wer wirklich mitbestimmen will, wird sich die
paar Klicks noch leisten können.
Genauso ist der Basisentscheid konzipiert.


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