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Betreff: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik
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- Subject: Re: [AG-GOuFP] Mögliche Außenwirkung der AG
- Date: Fri, 14 Feb 2014 09:55:30 +0100
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- List-id: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik <ag-geldordnung-und-finanzpolitik.lists.piratenpartei.de>
Am 13.02.2014 18:51, schrieb moneymind:
Ex-SystemPirat schrieb:
Viele von euch stellen fest, dass sie in der AG in den letzten Monaten
und Jahren sehr viel dazu gelernt haben. Das mag durchaus so sein. Man
sollte dabei aber bedenken, dass das weitgehend wissenschaftliches
Allgemeingut zu sein scheint. Immerhin kann man das meiste, von dem
ihr behauptet, dass es nur die wenigsten wüssten, (wenigstens
sinngemäß) in Wikipedia wiederfinden.
Aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen hat das, was ihr fast wie
Geheimwissen behandelt, jeder erfolgreiche Student der
Wirtschaftswissenschaften mit entsprechendem Interessenschwerpunkt
auch in der Vergangenheit spätestens zum "Vordiplom" intellektuell
durchdrungen. Das dürfte ganz besonders für spätere VWL Professoren
gelten.
Hallo in die Runde,
ich hab mich zwar noch nicht vorgestellt, werde das aber noch nachholen.
Jetzt möchte ich erstmal direkt auf ExSystemPirat antworten, weil es
mich in den Fingern juckt ... ;-)
Also ... ich würde Dir teilweise zustimmen, aber SEHR teilweise ...
Aus meiner Sicht stellt sich das mit dem "Geheimwissen" in etwa so dar:
Ich denke, aus meinem Ursprungsbeitrag ist deutlich herauszulesen, dass ich das thematische Wissen der AG gerade nicht als Geheimwissen, sondern weitgehend als wissenschaftliches Allgemeingut betrachte, auch wenn es vielleicht im wirtschaftspolitischen Alltagsgebrauch nicht immer Berücksichtigung findet.
Es gibt in den Wirtschaftswissenschaften eine Tradition, in der versucht
wurde, eine Theorie der Geldwirtschaft zu entwickeln.
Der bekannteste damit verbundene Name ist Keynes, der 1933 in einem
(Link->)_*kurzen und berühmten Aufsatz*_
http://de.scribd.com/doc/116955059/Keynes-1933-Program-of-a-Monetary-Theory-of-Production
das Vorhaben formulierte, eine solche Theorie zu entwickeln. Es gab aber
dafür auch Vorläufer (Ralph Hawtrey, Knut Wicksell oder Albert Hahn,
Wilhelm Lautenbach oder Hans Gestrich), und nach Keynes'
unvollständigem, inkonstistenten Versuch einen Strang in der
postkeynesianischen Tradition, die dieses Vorhaben weiterführen wollte
(ganz kurzer Einblick in diese Tradition _*hier*_
http://personer.samf.aau.dk/charlotte-bruun/downloads/working-papers/ -
Kapitel 2 und 3 der Dissertation von C. Bruun, "Logical Structures and
Algorithmic Behavior in a Credit Economy", ganz unten auf der Seite als
pdf einsehbar).
Das geht bis hin zu heutigen Ansätzen wie der "modern monetary theory",
dem Monetärkeynesianismus (Hajo Riese), Heinsohn/Steiger oder dem
stock-flow-consistent modelling (macroeconomic accounting-modelle), die
alle auf Keynes' Satz zurückgehen, daß "Kapitalismus auf
Gläubiger-Schuldner-Verhältnissen beruht".
Einen ganz wesentlichen Schub bekam diese Tradition natürlich durch die
Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre, nur durch "monetary economics"
erklärt werden konnte. Chris Brandstetter hat kürzlich eine
(Link->)*_sehr informative Seite zu den deutschen "Kreditmechanikern"_*
http://www.saldenmechanik.info/index.php/kreditmechanik (Wilhelm
Lautenbach, Hans Gestrich und andere) ins Netz gestellt, wo man einige
ihrer Texte herunterladen kann. Diese Namen fehlen heute in viele
VWL-Lehrbüchern, ich war aber völlig platt, als ich (Link->) *_Gestrichs
Buch "Kredit und Sparen"_*
http://www.saldenmechanik.info/index.php/literatur (erschienen 1944)
las. Viele der auch hier in der AG diskutierten Probleme der
Geldschöpfung im zweistufigen Bankensystem, des Zusammenhangs von Kredit
und Konjunktur etc., hat er dort schon recht verständlich und
detailliert analysiert und beschrieben.
Diese Tradition wurde auch bis in die 70er Jahre hinein in all ihrer
Inkonsistenz allgemein gelehrt - sie schaffte es aber nie, ein
kohärentes Paradigma zu etablieren.
Mit dem Ende der keynesianischen Ära wurde aber die Neoklassik im
akademischen Diskurs wieder dominant, Keynesianer wurden marginalisiert.
Einsichten aus dieser Tradition werden in der VWL daher auch nicht als
systematische Grundlagen gelehrt, sondern nur als irgendwie
nebensächliche oder nicht systematisch einsortierbare Theoriefetzen -
selbst noch in Lehrbüchern von Keynesianern, wie ein Blick in das
Lehrbuch von Bofinger zeigt. Am besten repräsentiert ist die Tradition
der monetary economics vielleicht im Lehrbuch von Heine/Herr
("Volkswirtschaft - eine paradigmenorientierte Einführung"), das aber
wohl nur wenige verwenden.
Geheimwissen ist also "monetary economics" nicht, sondern nur eine seit
den 70er Jahren marginalisierte und (bisher) weitgehend theoretisch
inkonsistent gebliebene und deshalb intern zersplitterte Tradition, die
deshalb auch erst mühsam wieder ausgegraben und verarbeitet werden muß.
Die Marginalisierung hat einerseits damit zu tun, daß das Paradigma der
monetary economics inkonsistent blieb; zum anderen einfach mit
politischen Interessenkämpfen, denn die seit Ende der 70er Jahre
verfolgte "neoliberale" Wirtschaftspolitik (Geldwertstabilität wichtiger
als Vollbeschäftigung, Gewerkschaftsmacht brechen, Arbeitsmärkte
deregulieren, Staat aus der Wirtschaft drängen, Unternehmenssteuern
senken, Finanzmärkte deregulieren etc.) ließ sich besser mit dem
neoklassischen Modell legitimieren, wobei man dann die keynesianische
Tradition pauschal als "überholt" beiseitewischte, weil sie den eigenen
Zielen nicht dienlich war.
Natürlich hat die Finanzkrise ab 2007 wieder Bedarf für eine "monetary
economics" geschaffen, weil die Neoklassik Finanzkrisen schlichtweg
nicht erklären kann, sodaß jetzt wieder etwas mehr darüber geredet wird
(z.B. greift auch INET diese Tradition auf, etc.).
VWL-Studenten wissen davon vielleicht ein bißchen was - sicher lernen
sie heute wieder mehr dazu als noch vor 20 Jahren. Aber daß sie den
vollen Durchblick hätten, kann ich leider nicht erkennen, zumal die
meisten aus Gründen des beruflichen Weiterkommens ihren Hauptfokus auf
das neoklassische Mainstream-Paradigma legen und Mainstream-Positionen
vertreten. Die wenigsten machen sich meiner Erfahrung nach die Mühe, mit
einem marginalisierten Paradigma zu beschäftigen, das sich noch dazu
aufgrund seiner inneren Inkonsistenz kaum für rhetorische Erfolge nutzen
läßt.
Daß viele VWL-Studenten durchaus so TUN, als hätten sie Wirtschaft
komplett verstanden, das vielleicht sogar selbst glauben, ohne daß das
in nennenswertem Umfang tatsächlich der Fall wäre, entspricht dabei auch
meiner Erfahrung ....
Ich würde jetzt kaum jemanden kennen, der im Rahmen eines ernsthaften Gesprächs behaupten würde, er würde etwas komplett verstehen. Am Stammtisch mag das vielleicht anders sein.
Ich spreche auch nicht davon, dass jeder alles Nötige jederzeit parat hat. Ich spreche davon, dass die meisten fachlich und intellektuell dazu in der Lage sind, das wesentliche der Konzepte, die hier besprochen werden, bei entsprechendem Anlass abzurufen bzw. nachzuvollziehen. Wie sie in bestimmten Situationen kommunizieren, steht auf einem ganz anderen Blatt.
Ich glaube der Knackpunkt ist, dass bei den meisten Menschen und auch hier in der AG ein absolutes Wahrheitsverständnis mitschwingt, obwohl sich die Piratenpartei ja betont säkular zu geben versucht.
Ein nach geltenden wissenschaftlichen Kriterien ermittelter Standpunkt ist solange wahr, wie er nicht nach wissenschaftlichen Kriterien widerlegt ist. Und ob etwas widerlegt ist, entscheidet niemand anderes, als die Wissenschaft selbst. Wer auch sonst?
Ich habe auch nicht von jedem WiWi Studenten, sondern von denen, die sich speziell für dieses Thema interessieren gesprochen, insbesondere die, die eine VWL Professur mit entsprechendem Schwerpunkt anstreben. Dass sich nicht jeder für alles interessiert und interessieren kann, dürfte doch für alle Wissenschaften gelten und unhinterfragt mitschwingen dürfen.
Ich wiederhole mich und präzisiere: Was jemand als Individuum weiß, ist von außen nicht zu ergründen. Man kann als Externer allenfalls aus der Beteiligung an Kommunikation gewisse Schlussfolgerungen über das Wissen ziehen.
Mir scheint es dabei angemessen zu differenzieren, ob jemand, sei es ein "Professor" oder ein Student, eine wissenschaftliche Arbeit verfasst oder ob er politische Äußerungen von sich gibt. Je mehr Gespür für soziale Situationen ein Mensch besitzt, desto variationsreicher dürften auch seine Ausdrucksweisen in unterschiedlichen Umgebungen sein.
Von den im politischen Umfeld gemachten Äußerungen einer Person halte ich den Schluss auf seine wissenschaftliche Kompetenz für nicht zulässig. Die wissenschaftliche Kompetenz stellt die Wissenschaft selbst fest und nicht etwa die Politik.
Ein ähnlicher Umschwung im Mainstream-Paradigma wie nach der
Weltwirtschaftskrise dürfte erst nach einer noch wesentlich tieferen
Krise durchsetzen, schätze ich mal. Ich sehe aber die Arbeit der AG hier
(wie auch die Arbeit von INET etc.) als erste Etappen auf diesem Weg -
als erste Manifestation des durch die reale wirtschaftsgeschichtliche
Entwicklung (2007ff.) wieder aktuell gewordenen praktischen Bedarfs nach
einer Theorie, die Finanz- und Wirtschaftskrisen erklären kann. Und das
kann nur eine monetär bzw. kreditär fundierte Theorie, die die
praktische Realität der kreditären Vorgänge in den Grundzügen abbildet.
So gesehen sehe ich in der AG einen Weg, diesen Bedarf zu artikulieren
und Leute, die diesen Bedarf sehen und an solchen Modellen arbeiten, zu
vernetzen.
Ich denke, daß es insgesamt darum geht, solide Fundamente für ein
Paradigma einer "politischen Ökonomie einer freien Kreditwirtschaft" zu
legen, das bisherige Ansätze fundieren und integrieren kann, und dann
auch als zuverlässiger Ausgangspunkt für wirtschaftspolitische
Strategien dienen kann. Saldenmechanik halte ich für einen
unverzichtbaren Baustein dafür.
Die Frage dabei wäre, ob das in einer politischen AG der Piratenpartei mit dem gegebenen personellen Hintergrund seriös machbar ist.
Der einzige konkrete politische Bezug zur Piratenpartei scheint mir im Moment der zu sein, dass (angeblich?) jeder machen darf, was er will.
Mir stellt es sich konkret so dar, dass in der AG weder Mandatsträger, noch Mitarbeiter von Mandatsträgern die Stoßrichtung maßgeblich mitgestalten bzw. mittragen. Auch konnte ich noch nicht feststellen, dass so etwas wie die ermittelten Bedürfnisse und kognitiven Fähigkeiten der potenziellen Wählerschaft eine zentrale Rolle spielen würden. Insofern scheint mir absolut keine Zielgruppenorientierung gegeben.
Ich kann mir keine seriöse wirtschaftspolitische Strategie vorstellen, die die Bedürfnisse der Mandatsträger und Wähler in der eben geschilderten Weise außer acht lässt.
Was ich bis jetzt im Wesentlichen mitbekommen habe ist, dass man immer wieder (im AG üblichen Stil mit weitgehend unkommentierten Zitaten und Links) belächelt, wie naiv die Mandatsräger eine "falsche" Finanzpolitik stützen und wie ungebildet der Wähler ist, dessen Wissen ausschließlich aus populären Irrtümern zu bestehen scheint.
Was also die Außenwirkung der AG angeht: die Öffentlichkeit vertraut
meiner Einschätzung nach noch immer mehrheitlich auf
Mainstream-Ökonomen, die die üblichen neoklassisch legitimierten
Symptomdeutungen bringen und Symptomkuren verordnen, die seit über 30
Jahren die Wi-Politik bestimmen. Dieses Vertrauen hat zwar schon Risse
bekommen, Bedarf an einer alternativen Deutung wird aber wohl erst in
einer massiv verschärften Krise eintreten, die natürlich wieder wie in
den 30ern nur durch monetary economics erklärbar ist.
Aus meiner Sicht wäre erst einmal zu diskutieren, warum der Mainstream ein Mainstream ist und was es für Konsequenzen hat, dass es einen Mainstream gibt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das, was man Mainstream nennt, eine gesellschaftliche Funktion erfüllt.
Welcher Gegenbegriff zum Mainstream wäre denn denkbar, auf den die Öffentlichkeit alternativ vertrauen könnte?
Den Mainstream als solchen einfach nur zu verteufeln halte ich für unseriös.
Wenn ich den Beitrag für mich in Bezug auf das ursprüngliche Thema resümiere bestätigt er weitgehend die AG-interne Sicht, dass die AG auf einem guten Weg ist und sich um ihre Außenwirkung keine teifgreifenden Gedanken zu machen braucht.
Soweit mein "Senf" dazu :-)
- [AG-GOuFP] Mögliche Außenwirkung der AG, Ex-SystemPirat, 13.02.2014
- Re: [AG-GOuFP] Mögliche Außenwirkung der AG, Rudi, 13.02.2014
- Re: [AG-GOuFP] Mögliche Außenwirkung der AG, Ex-SystemPirat, 13.02.2014
- Re: [AG-GOuFP] Mögliche Außenwirkung der AG, moneymind, 13.02.2014
- Re: [AG-GOuFP] Mögliche Außenwirkung der AG, Thomas Weiß, 13.02.2014
- Re: [AG-GOuFP] Mögliche Außenwirkung der AG, Benedikt Weihmayr, 14.02.2014
- Re: [AG-GOuFP] Mögliche Außenwirkung der AG, Ex-SystemPirat, 14.02.2014
- Re: [AG-GOuFP] Mögliche Außenwirkung der AG, Patrik Pekrul, 14.02.2014
- Re: [AG-GOuFP] Mögliche Außenwirkung der AG, Axel Grimm, 15.02.2014
- Re: [AG-GOuFP] Mögliche Außenwirkung der AG, Ex-SystemPirat, 17.02.2014
- Re: [AG-GOuFP] monetary economics = (noch) kein Allgemeinwissen, Blick in die Geschichte hilft, moneymind, 15.02.2014
- Re: [AG-GOuFP] monetary economics = (noch) kein Allgemeinwissen, Blick in die Geschichte hilft, Rudi, 16.02.2014
- Re: [AG-GOuFP] monetary economics = (noch) kein Allgemeinwissen, Blick in die Geschichte hilft, Ex-SystemPirat, 17.02.2014
- Re: [AG-GOuFP] Mögliche Außenwirkung der AG, moneymind, 18.02.2014
- Re: [AG-GOuFP] monetary economics = (noch) kein Allgemeinwissen, Blick in die Geschichte hilft, Rudi, 18.02.2014
- Re: [AG-GOuFP] Mögliche Außenwirkung der AG, Patrik Pekrul, 14.02.2014
- Re: [AG-GOuFP] Mögliche Außenwirkung der AG, Rudi, 13.02.2014
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