Zum Inhalt springen.
Sympa Menü

ag-geldordnung-und-finanzpolitik - Re: [AG-GOuFP] Volle Breitseite gegen das neoklassische Schlachtschiff

Bitte warten ...

ag-geldordnung-und-finanzpolitik AT lists.piratenpartei.de

Betreff: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik

Listenarchiv

Re: [AG-GOuFP] Volle Breitseite gegen das neoklassische Schlachtschiff


Chronologisch Thread 

Am 02.08.12 15:47, schrieb Patrik Pekrul:
> Bei allem Verständnis für die Kritik am "neoklassischen
> Schlachtschiff" wollte ich nur mal darauf hinweisen, dass wir uns
> als Piraten nicht an dieser Billigpolemik beteiligen sollten.

Immerhin werde ich gehört :-)

> Ich empfehle an dieser Stelle mal, Ricardo zu lesen.

Sehr schön. Und genau hier sind wir am zentralen Dilemma angelangt. Ich
versuche es mal mit einer extrem gerafften Darstellung. Bei David
Ricardo findet sich schon das Konzept des 'Numéraire', also des
'unveränderlichen Maß von Wert', das die Diskrepanz zwischen
Gebrauchswert und Tauschwert aufheben soll.

Léon Walras gebührt die Ehre, mit der Entwicklung eines
mikroökonomischen Totalmodells, die methodische Grundlage dafür
geschaffen hat, dass wir heute ökonomische Prozesse analytisch mit Hilfe
von Differentialgleichungen betrachten können. Mit der rein
axiomatischen Festlegung im mikroökonomischen Totalmodell, indem das Gut
Geld auf 1 gesetzt wird, und die Preise aller anderen Güter hierzu
relativ bestimmt werden, hat sich Walras der 'Numéraire'-Frage gar nicht
gestellt. Als Allgemeines Gleichgewichtsmodell bildet es heute den
Ausgangspunkt aller auf der Neoklassik beruhenden ökonomischen Schulen
(Monetarismus (z.B. M. Friedman), Neo-Keynesianismus (z.B. P. Krugman)
…), die sich als Mainstream zusammenfassen lassen.

Quantum Economics (Schmitt, Cencini) und der Behavioral Finance Ansatz
von Keen gehen von sehr unterschiedlichen Seiten an diese Problematik heran.

Da wären einmal die Quantum Ökonomen, die komplett auf eine
Mathematisierung in Form der Differentialrechnung verzichten und
stattdessen Zahlungsvorgänge eingehend analysieren und ihren
Niederschlag in den Bilanzen finden. Indem sie die Zeit in der
Produktion völlig neu interpretieren, können sie einen 'richtigen'
Numéraire, also eine reine Zahl herleiten, welches als Maß von Wert
angesehen werden kann. Walras' relatives Maß kann durch ein absolutes
Maß substituiert werden, das sich unmittelbar aus der Produktion
erklärt. Die weitergehende Analyse von Zahlungsvorgängen legen eine
alternative Interpretation zentraler Begriffe wie Einkommen, Kredit und
Kapital nahe. Insbesondere definiert die Forderung, realisierte Profite
von Unternehmen im Bankensektor separat zu verbuchen, mit dem Ziel fixes
Kapital von zirkulierendem Kapital zu trennen, den so registrierten
Kapitalstock als gemeinsame Leistung der gesamten Volkswirtschaft zu
interpretieren.

Der behavioristische Ansatz bei Keen kritisiert wesentliche
Modellannahmen des Mainstreams. Kurz gesagt, die a priori Annahmen in
den neoklassischen Mikromodellen führen zu irrstionalen Resultaten.
Insbesondere die Annahme dass Märkte automatisch einem Gleichgewicht
zustreben, lässt sich empirisch nicht belegen. Den rein statischen, bzw.
komparativ statischen Gleichgewichtsmodellen stellt er dynamische
Modelle gegenüber, die auch Nichlinearität berücksichtigen. Solche
Modelle werden z.B auch in Biologie verwendet, um die Populationsdynamik
in Räuber-Beute-Beziehungen zu modellieren (Lotke-Volterra-Modelle).
Sein Simulationsmodell, welches explizit Verschuldung und Spekulation
berücksichtigt, zeigt eine deutliche Übereinstimmung mit den
tatsächlichen Gegebenheiten ('große Moderation' in den 90ern, 'große
Rezession/Depression' in jüngster Zeit).

Beiden Ansätzen gemeinsam ist der Rückgriff auf die verhältnismäßig
junge kreislauftheoretische Auffassung von Geld nach Graziani. Das
zentrale Problem unseres heutigen Geldsystems wird aus der Feststellung
Grazianis deutlich, der sagt, dass eine 'Ökonomie, die Geld als Ware
betrachtet, die aus einem regulären Produktionsprozess stammt, nicht von
einer Tauschwirtschaft (Barterökonomie) unterschieden werden kann.' [1]

Zusammengefasst könnte man also sagen, wir haben damit das methodische
Rüstzeug um
a) den Istzustand einer Volkswirtschaft transparenter darstellt (QE) und
b) den Sollzustand einer Volkswirtschaft besser modellieren kann (Keen),
indem man lediglich untersucht, ob ein Prozess sich stabil entwickelt
oder in einer Katastrophe mündet.

Ich denke, wir haben damit einen robusten Pfad, an dem sich die weitere
Arbeit der AG orientieren kann.

Ob wir auch Thomas Kuhns Feststellung widerlegen können, dass
unbrauchbare Theorien erst dann aussterben, wenn deren Vertreter
ausgestorben sind, wäre eine politische/gesellschaftliche
Herausforderung. Kompetenz und Sachverstand um einen Paradigmenwechsel
herbeizuführen, wäre imho sicherlich vorhanden.

Gerhard








Archiv bereitgestellt durch MHonArc 2.6.19.

Seitenanfang