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ag-meinungsfindungstool - Re: [Ag Meinungsfindungstool] Deliberative Demokratie

ag-meinungsfindungstool AT lists.piratenpartei.de

Betreff: Ag-meinungsfindungstool mailing list

Listenarchiv

Re: [Ag Meinungsfindungstool] Deliberative Demokratie


Chronologisch Thread 
  • From: Dinu Gherman <gherman AT darwin.in-berlin.de>
  • To: ag-meinungsfindungstool AT lists.piratenpartei.de
  • Subject: Re: [Ag Meinungsfindungstool] Deliberative Demokratie
  • Date: Wed, 30 Apr 2014 12:25:47 +0200
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-meinungsfindungstool>
  • List-id: <ag-meinungsfindungstool.lists.piratenpartei.de>

Hallo Henri,

ich antworte in-line...

Am 28.04.2014 um 14:57 schrieb Henri Nathanson:

> danke für Dein Mail. Wir kennen uns ja von der AG-Demokratie-Liste, wo ich
> Dir bereits mitgeteilt habe, dass ich den Herrn Koschnik für einen
> Schwätzer, aber zumindest für einen auflagenorientierten Journalisten
> halte. Ich würde ihn gerne lesen, um Anreize zu erhalten. Aber den einzigen
> Reiz, den ich fand, war der Schmerzreiz.

Ja, so ähnlich sagtest Du das bereits. Diese Meinung will ich Dir auch nicht
nehmen. Aber sie ist nicht hilfreich, wenn es um eine thematische Diskussion
geht. Jeder, der viel schreibt, gibt notwendigerweise laut gewissen
Wahrscheinlichkeiten viel Schlaues und auch viel weniger Schlaues von sich.
Aufgabe eines aufgeklärten Menschen ist es, selbst das eine vom anderen zu
trennen. Eine Verweigerungshaltung hierbei ist wenig hilfreich und ist
letztlich genau das, was man Politikern vorwirft, die sich mit an sie
herangetragenen Problemen erst dann beschäftigen, wenn sie vermeintlich
"wahlentscheidend" werden.

> Dennoch ist Deine Bemerkung, wie man ein solchen Projekt zehn Jahre im
> Alleingang verfolgen kann, allemal angebracht. Ich staune selbst darüber.
> Insbesondere als es nicht beabsichtigt war. Ich hatte immer schon die
> Öffentlichkeit gesucht. Das geht bis ins Frühjahr 2005 zurück. Seit 2009
> entwickelte ich Prototypen und stellte diese anderen vor. Ende 2011 bereits
> mit Stuttgarter Piraten. Im Sommer 2012 in Berlin.
>
> Es ist nur erklärbar, wenn man bedenkt, dass ich mit meinem
> Demokratieverständnis der allgemeinen Blickrichtung konträr entgegen laufe.
> Auch hier rollen sich bereits manchem die Strumpflöcher zusammen, wenn ich
> "DIE KAPITALISTISCHE WELTORDNUNG" zur Lösung des Demokratieproblems
> propagiere. Was natürlich alles Quatsch ist. Aber es bleibt, dass man kaum
> einen gemeinsamen Nenner findet.
>
> Es liegt auch an mir selbst. Ich besitze keine große soziale Intelligenz.
> Ein Aspekt, den man nicht unterschätzen darf. Der mich aber nicht hindern
> wird, nach der Erforschung der Demokratie, diese auch in die Praxis zu
> führen. Auch schaue Dich bitte um, welche Forschungsergebnisse von
> Einzelpersonen erreicht werden. Klar baut man heute grundsätzlich auf die
> Ergebnisse anderer auf. Das ist auch bei mir der Fall. Aber das heißt ja
> nicht, dass die Aufbauarbeit selbst nicht auch allein getätigt werden
> könnte.

Ich will Dich nicht desillusionieren, aber ohne ein bestimmtes Quantum an
sozialer Intelligenz wird es nicht gehen. Das konnte man auch bei LQFB sehen,
das nicht zuletzt an der Arroganz seiner Erfinder gescheitert ist, die wohl
eine andere Vorstellung von ihrem Produkt hatten als viele Seiner Nutzer.
Technische Gründe will ich jetzt keine nennen, aber ich würde es als das
Diaspora der Demokratie 2.0-Tools bezeichnen.

> Ich bin es eigentlich recht Leid, eine Diskussion zur Qualität von Märkten
> zu führen. Märkte bereichern seit jeher das menschliche Miteinander. Sie
> implementieren einfachste Regeln, die sich wie selbstverständlich aus der
> Natur des Menschen ergeben. Sie ermöglichen die arbeitsteilige
> Wirtschaftsgesellschaft und damit unseren Wohlstand. Ich frage mich immer,
> wie asozial man eigentlich sein muss, um dieses nach der Familie wohl
> grundlegendste soziale Prinzip nicht als das zu erkennen, was es ist?

Niemand bestreitet ernsthaft, glaube ich, dass Märkte ihre Geschichte und
Daseinsberechtigung haben. Die Frage muss eher sein, ob ihre
Industrialisierung z.B. bis zur Entwicklung von
High-Speed-Trading-Plattformen mit eigens für sie verlegten transatlantischen
Unterseekabeln, die wenige Millisekunden Kommunikationsvorteile bringen, noch
etwas mit den von Dir genannten Attributen "menschliches Miteinander",
"einfachste Regeln" und "arbeitsteilige Wirtschaftsgesellschaft" zu tun
haben? Dieselbe Art von Industrialisierung hat auch zu einer unglaublichen
Reduktion von Wissen, Kultur und Natur geführt, bei der zwar viele immer
besser Bescheid wissen könnten/müssten, was eigentlich passiert, es aber
vorziehen, kulturell und ökologisch zu verarmen. Um Deine Sprache
aufzugreifen: ich frage mich wie asozial man sein muss, um diese durch
heutige Unternehmen und Märkte geförderten Effekte nicht sehen zu wollen?

> Märkte sind soziale Organisationsformen. Und davon gibt es eine
> unglaubliche Vielzahl in stark unterschiedlicher Disposition und
> Komplexität. Und diese Organisationsformen sind andauernd dabei sich zu
> verändern und sich zu entwickeln. Und es ist eine ganz perfide Komik
> unserer heutigen Situation, dass vielfaches Marktversagen deshalb
> geschieht, weil die politische Organisation zu wenig Markt aufweist. Bitte.
> Soll schauen, wer aus diesem Schlamassel heil heraus kommt. Aber Märkte
> haben eben nicht das Primat in unserer Gesellschaft. Sie sind Mittel zum
> Zweck. Den die Gesellschaft festlegt und den einzuhalten sie stark genug
> sein muss, Märkte zu gescheit zu regeln.

Märkte sind eine Organisationsform menschlichen Handelns (sic!) unter vielen.
Viel früher schon haben sich Menschen am Lagerfeuer Geschichten erzählt, oder
haben an einem Tisch zusammen eine Mahlzeit eingenommen. Hat das irgendjemand
zum archetypischen Urprinzip politischen Handelns für die gesamte
Gesellschaft erhoben? Warum also Märkte? Es mangelt ja wirklich nicht an
Schlaumeiern, die einem ihr X als Lösung aller Probleme anpreisen. Neulich
war es noch, dass jeder Mensch wie eine Firma agieren sollte. Und heute soll
ich also all meine Handlungen in der Gesellschaft als Handlungen in einem
Markt (von was eigentlich, Meinungen, Ideen?) betrachten. Und das dann
durchindustrialisiert und -automatisiert, mit "menschlichem Miteinander" auf
einer virtuellen Plattform? Kreusel...

> Unsere Gesellschaften sind schwach. Wir sind schwach, weil wir über keine
> gute Demokratie verfügen. Wir leben nicht in einer "repräsentativen
> Demokatie". Wir leben in einer parlamentarisch-repräsentativen Demokratie.
> Einer Demokratie, die von Personen entworfen wurde, die keine Ahnung von
> ihren theoretischen Grundlagen hatten bzw. die bis dahin sich geschichtlich
> so entwickelt hat. Es gab ja auch noch keine Telekommunikation. Der
> Versuch, die repräsentative Demokratie in ein Parlament zu zwängen, ist
> recht lächerlich. Das wird deutlich, wenn man sich bewusst macht, wie viele
> Freiheitsgrade die repräsentative Demokratie a la "noddr" zu bieten hat.
> Die Demokratie ist eine leuchtende Fackel der Freiheit. Das sollte doch
> jeder sehen.

Bei dieser Dosis Pathos bist Du, schon anstandshalber, verpflichtet, mir
mindestens eine Demokratie zu zeigen, die bisher "funktioniert" hat, und ich
meine damit nicht eine, die "hier und da" Fehler hat, wie alle gern von den
eigenen Demokratien meinen, in denen sie zu leben glauben, sondern eine, die
von innen wie von außen betrachtet für die allermeisten Teilnehmer
zufriedenstellend funktioniert oder funktioniert hat. Vielleicht bringst Du
es ja doch über Dich und liest dazu auch mal die ersten Artikel von
Koschnicks Serie? Vielleicht inspieriert das dann doch Deine Antwort?

Ansonsten liegt das Problem natürlich bei der Repräsentation (nichts anderes
sagt Koschnick übrigens). Ich würde genauer sagen: das Problem, bzw. die
Probleme, sind: Parteien, Parlamente und Mehrheitsabstimmungen. Ja auch
letzteres, und dazu hier zwei Empfehlungen, letzteres ist ein Tool (weil ohne
Tool ist das ja nichts, gell?! ;-)

http://www.partizipation.at/systemisches-konsensieren.html
http://www.sk-prinzip.net/konsensieren/

> In der Mathematik braucht man für einen logischen Gedankengang keinen
> empirischen Beweis. In der Physik hatte Einstein auch gewusst, dass ein
> Lichtstrahl durch Masse ablenkbar ist, bevor man es gemessen hat. Die
> Wirtschaftswissenschaft ist nun deutlich weniger heilig als die Mathematik.
> Aber sie hat doch so viel, dass ich die Demokratie bereits heute sehen
> kann. Ich will noch die Freiheitsstatue anfassen, die wir ihr zu Ehren
> bauen werden.

Pathos hilft auch nicht wirklich weiter. Du bekommst aber meine noddr-Stimme
für den noch zu schaffenden Demokratie-Nobelpreis, sobald das in drei
europäischen Ländern erfolgreich eingeführt wurde. (Den Friedensnobelpreis
will ja eigentlich seit der Vergabe an Kissinger und Obama niemand mehr
haben.)

Gruß,

Dinu

PS: Wie gesagt, schade, dass diese Diskussion hier läuft und nicht in der
AG-Demokratie...





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