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ag-meinungsfindungstool - Re: [Ag Meinungsfindungstool] Deliberative Demokratie

ag-meinungsfindungstool AT lists.piratenpartei.de

Betreff: Ag-meinungsfindungstool mailing list

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Re: [Ag Meinungsfindungstool] Deliberative Demokratie


Chronologisch Thread 
  • From: Henri Nathanson <henri.nathanson AT gmail.com>
  • To: ag-meinungsfindungstool AT lists.piratenpartei.de
  • Subject: Re: [Ag Meinungsfindungstool] Deliberative Demokratie
  • Date: Wed, 30 Apr 2014 13:13:36 +0200
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-meinungsfindungstool>
  • List-id: <ag-meinungsfindungstool.lists.piratenpartei.de>

Hi Dinu,
ich habe die Diskussion hier mal auf der Demkratie-ML verlinkt. Auch wenn das natürlich eine gewisse Art von Wichtigtuerei darstellt.

Danke für Deine Mail. Du meinst also immer noch, dass ich mir den Koschnik antun soll? Ich bin aber wirklich der Meinung, dass mir das Unangenehme seiner Art schwerer wiegt als die geringe Hoffnung, etwas Wegweisendes bei ihm zu finden.

Zum Punkt Alleingang: Also mal abgesehen davon, dass ich ja immer ein Team gesucht habe, noddr ist beileibe noch nicht am Ende angekommen. Soweit gibt es einen blutigen Prototypen. Der ist zwar grundsätzlich funktional. Aber wie heißt es im Wirtschaft-Speak: McDonald hat nicht die Pommes erfunden, sondern die User-Experience. Sprich, die Idee von noddr kann man sicher noch besser verpacken.

Beim Vergleich mit LQFB muss man aber auch sagen, dass diese Übertragung bekannter Prozesse keineswegs nur eine Verbesserung darstellt. Beispiel Delegation. Im Real-Life findet Delegation auf der Grundlage eines schriftlichen Parteiprogramms statt. Diese Entity Programm kommt bei LQFB nicht vor. Auch die Aufteilung nach Themenbereichen ist wenig präzise. Vor allem aber wird der vermeintlich demokratischere direkt-demokratische Anteil gestärkt. Was aber nicht Ziel sein sollte. Denn Parlamente sind heute weit mehr Formalie als man denkt. Wir leben ja auch nicht in einer Diktatur, nur weil der Bundespräsident alle Gesetze unterschreiben muss.

Alles in allem haben die Entwickler von LQFB und die Erfinder des Systemischen Konsensierens wenig Ahnung von Demokratie. Ich hatte dazu gestern in der Mumble-Diskussion ausgeführt. Das Demokratie-Problem ist eben ökonomischer Natur. Sprich, Du kannst nicht aus Vorschlagsalternativen mit einer individuellen Wertigkeit von 1, 2 und 100 eine Präferenz von 1,2,3 oder 1,2 und 3 Fingern machen, wie beim SK. Da verliert man wertvolle Information.

Zuletzt sind wir wieder beim Markt. Und wir müssen uns nicht gegenseitig als asozial in Frage stellen. Wir können sogar den Begriff Markt vollständig zur Seite stellen. Wenn wir in einer komplexen großen Gesellschaft leben, dann wird politische Arbeit auch eine Frage der Professionalisierung. Und wenn wir uns von anderen politisch Vertreten lassen, dann bedarf es eines Schutz vor Missbrauch durch eben diese Politiker. Diesen Schutz erhält man durch die Freiheit, seine Wahl jederzeit zu kündigen. Und durch umfangreiche Transparenz und Informiertheit. Womit wir  bei den Begriffen Freiheit und Transparenz sind. Begriffen, wo man sich unter Piraten finden kann.

Ich hatte vor kurzem eine Diskussion zum Thema Demokratie, wo es um das "tool der tools" ging, und dass das Thema Demokratie doch so furchtbar kompliziert sei. Ist es auch. Ich hatte - und ich bin als "Ökonom" ja voreingenommen - ganze fünf Jahre gebraucht, um zu erkennen, dass man bei einer Wahl von einem Vertragsschluss sprechen kann. Und dann hat es nochmal fast fünf Jahre gebraucht, bis ich heute ein fundiertes Verständnis dieses Sachgebiet erreicht habe. Das war ein verdammt harter Weg. Auch für die Familie. Aber es hat sich schon heute gelohnt. Denn das Ergebnis ist ein allzu klares Ausrufezeichen, dass wir unseren Traum von Demokratie nicht umsonst geträumt haben. ;)

Grüße
Henri



Am 30. April 2014 12:25 schrieb Dinu Gherman <gherman AT darwin.in-berlin.de>:
Hallo Henri,

ich antworte in-line...

Am 28.04.2014 um 14:57 schrieb Henri Nathanson:

> danke für Dein Mail. Wir kennen uns ja von der AG-Demokratie-Liste, wo ich Dir bereits mitgeteilt habe, dass ich den Herrn Koschnik für einen Schwätzer, aber zumindest für einen auflagenorientierten Journalisten halte. Ich würde ihn gerne lesen, um Anreize zu erhalten. Aber den einzigen Reiz, den ich fand, war der Schmerzreiz.

Ja, so ähnlich sagtest Du das bereits. Diese Meinung will ich Dir auch nicht nehmen. Aber sie ist nicht hilfreich, wenn es um eine thematische Diskussion geht. Jeder, der viel schreibt, gibt notwendigerweise laut gewissen Wahrscheinlichkeiten viel Schlaues und auch viel weniger Schlaues von sich. Aufgabe eines aufgeklärten Menschen ist es, selbst das eine vom anderen zu trennen. Eine Verweigerungshaltung hierbei ist wenig hilfreich und ist letztlich genau das, was man Politikern vorwirft, die sich mit an sie herangetragenen Problemen erst dann beschäftigen, wenn sie vermeintlich "wahlentscheidend" werden.

> Dennoch ist Deine Bemerkung, wie man ein solchen Projekt zehn Jahre im Alleingang verfolgen kann, allemal angebracht. Ich staune selbst darüber. Insbesondere als es nicht beabsichtigt war. Ich hatte immer schon die Öffentlichkeit gesucht. Das geht bis ins Frühjahr 2005 zurück. Seit 2009 entwickelte ich Prototypen und stellte diese anderen vor. Ende 2011 bereits mit Stuttgarter Piraten. Im Sommer 2012 in Berlin.
>
> Es ist nur erklärbar, wenn man bedenkt, dass ich mit meinem Demokratieverständnis der allgemeinen Blickrichtung konträr entgegen laufe. Auch hier rollen sich bereits manchem die Strumpflöcher zusammen, wenn ich "DIE KAPITALISTISCHE WELTORDNUNG" zur Lösung des Demokratieproblems propagiere. Was natürlich alles Quatsch ist. Aber es bleibt, dass man kaum einen gemeinsamen Nenner findet.
>
> Es liegt auch an mir selbst. Ich besitze keine große soziale Intelligenz. Ein Aspekt, den man nicht unterschätzen darf. Der mich aber nicht hindern wird, nach der Erforschung der Demokratie, diese auch in die Praxis zu führen. Auch schaue Dich bitte um, welche Forschungsergebnisse von Einzelpersonen erreicht werden. Klar baut man heute grundsätzlich auf die Ergebnisse anderer auf. Das ist auch bei mir der Fall. Aber das heißt ja nicht, dass die Aufbauarbeit selbst nicht auch allein getätigt werden könnte.

Ich will Dich nicht desillusionieren, aber ohne ein bestimmtes Quantum an sozialer Intelligenz wird es nicht gehen. Das konnte man auch bei LQFB sehen, das nicht zuletzt an der Arroganz seiner Erfinder gescheitert ist, die wohl eine andere Vorstellung von ihrem Produkt hatten als viele Seiner Nutzer. Technische Gründe will ich jetzt keine nennen, aber ich würde es als das Diaspora der Demokratie 2.0-Tools bezeichnen.

> Ich bin es eigentlich recht Leid, eine Diskussion zur Qualität von Märkten zu führen. Märkte bereichern seit jeher das menschliche Miteinander. Sie implementieren einfachste Regeln, die sich wie selbstverständlich aus der Natur des Menschen ergeben. Sie ermöglichen die arbeitsteilige Wirtschaftsgesellschaft und damit unseren Wohlstand. Ich frage mich immer, wie asozial man eigentlich sein muss, um dieses nach der Familie wohl grundlegendste soziale Prinzip nicht als das zu erkennen, was es ist?

Niemand bestreitet ernsthaft, glaube ich, dass Märkte ihre Geschichte und Daseinsberechtigung haben. Die Frage muss eher sein, ob ihre Industrialisierung z.B. bis zur Entwicklung von High-Speed-Trading-Plattformen mit eigens für sie verlegten transatlantischen Unterseekabeln, die wenige Millisekunden Kommunikationsvorteile bringen, noch etwas mit den von Dir genannten Attributen "menschliches Miteinander", "einfachste Regeln" und "arbeitsteilige Wirtschaftsgesellschaft" zu tun haben? Dieselbe Art von Industrialisierung hat auch zu einer unglaublichen Reduktion von Wissen, Kultur und Natur geführt, bei der zwar viele immer besser Bescheid wissen könnten/müssten, was eigentlich passiert, es aber vorziehen, kulturell und ökologisch zu verarmen. Um Deine Sprache aufzugreifen: ich frage mich wie asozial man sein muss, um diese durch heutige Unternehmen und Märkte geförderten Effekte nicht sehen zu wollen?

> Märkte sind soziale Organisationsformen. Und davon gibt es eine unglaubliche Vielzahl in stark unterschiedlicher Disposition und Komplexität. Und diese Organisationsformen sind andauernd dabei sich zu verändern und sich zu entwickeln. Und es ist eine ganz perfide Komik unserer heutigen Situation, dass vielfaches Marktversagen deshalb geschieht, weil die politische Organisation zu wenig Markt aufweist. Bitte. Soll schauen, wer aus diesem Schlamassel heil heraus kommt. Aber Märkte haben eben nicht das Primat in unserer Gesellschaft. Sie sind Mittel zum Zweck. Den die Gesellschaft festlegt und den einzuhalten sie stark genug sein muss, Märkte zu gescheit zu regeln.

Märkte sind eine Organisationsform menschlichen Handelns (sic!) unter vielen. Viel früher schon haben sich Menschen am Lagerfeuer Geschichten erzählt, oder haben an einem Tisch zusammen eine Mahlzeit eingenommen. Hat das irgendjemand zum archetypischen Urprinzip politischen Handelns für die gesamte Gesellschaft erhoben? Warum also Märkte? Es mangelt ja wirklich nicht an Schlaumeiern, die einem ihr X als Lösung aller Probleme anpreisen. Neulich war es noch, dass jeder Mensch wie eine Firma agieren sollte. Und heute soll ich also all meine Handlungen in der Gesellschaft als Handlungen in einem Markt (von was eigentlich, Meinungen, Ideen?) betrachten. Und das dann durchindustrialisiert und -automatisiert, mit "menschlichem Miteinander" auf einer virtuellen Plattform? Kreusel...

> Unsere Gesellschaften sind schwach. Wir sind schwach, weil wir über keine gute Demokratie verfügen. Wir leben nicht in einer "repräsentativen Demokatie". Wir leben in einer parlamentarisch-repräsentativen Demokratie. Einer Demokratie, die von Personen entworfen wurde, die keine Ahnung von ihren theoretischen Grundlagen hatten bzw. die bis dahin sich geschichtlich so entwickelt hat. Es gab ja auch noch keine Telekommunikation. Der Versuch, die repräsentative Demokratie in ein Parlament zu zwängen, ist recht lächerlich. Das wird deutlich, wenn man sich bewusst macht, wie viele Freiheitsgrade die repräsentative Demokratie a la "noddr" zu bieten hat. Die Demokratie ist eine leuchtende Fackel der Freiheit. Das sollte doch jeder sehen.

Bei dieser Dosis Pathos bist Du, schon anstandshalber, verpflichtet, mir mindestens eine Demokratie zu zeigen, die bisher "funktioniert" hat, und ich meine damit nicht eine, die "hier und da" Fehler hat, wie alle gern von den eigenen Demokratien meinen, in denen sie zu leben glauben, sondern eine, die von innen wie von außen betrachtet für die allermeisten Teilnehmer zufriedenstellend funktioniert oder funktioniert hat. Vielleicht bringst Du es ja doch über Dich und liest dazu auch mal die ersten Artikel von Koschnicks Serie? Vielleicht inspieriert das dann doch Deine Antwort?

Ansonsten liegt das Problem natürlich bei der Repräsentation (nichts anderes sagt Koschnick übrigens). Ich würde genauer sagen: das Problem, bzw. die Probleme, sind: Parteien, Parlamente und Mehrheitsabstimmungen. Ja auch letzteres, und dazu hier zwei Empfehlungen, letzteres ist ein Tool (weil ohne Tool ist das ja nichts, gell?! ;-)

http://www.partizipation.at/systemisches-konsensieren.html
http://www.sk-prinzip.net/konsensieren/

> In der Mathematik braucht man für einen logischen Gedankengang keinen empirischen Beweis. In der Physik hatte Einstein auch gewusst, dass ein Lichtstrahl durch Masse ablenkbar ist, bevor man es gemessen hat. Die Wirtschaftswissenschaft ist nun deutlich weniger heilig als die Mathematik. Aber sie hat doch so viel, dass ich die Demokratie bereits heute sehen kann. Ich will noch die Freiheitsstatue anfassen, die wir ihr zu Ehren bauen werden.

Pathos hilft auch nicht wirklich weiter. Du bekommst aber meine noddr-Stimme für den noch zu schaffenden Demokratie-Nobelpreis, sobald das in drei europäischen Ländern erfolgreich eingeführt wurde. (Den Friedensnobelpreis will ja eigentlich seit der Vergabe an Kissinger und Obama niemand mehr haben.)

Gruß,

Dinu

PS: Wie gesagt, schade, dass diese Diskussion hier läuft und nicht in der AG-Demokratie...




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