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ag-meinungsfindungstool - Re: [Ag Meinungsfindungstool] Deliberative Demokratie

ag-meinungsfindungstool AT lists.piratenpartei.de

Betreff: Ag-meinungsfindungstool mailing list

Listenarchiv

Re: [Ag Meinungsfindungstool] Deliberative Demokratie


Chronologisch Thread 
  • From: Henri Nathanson <henri.nathanson AT gmail.com>
  • To: ag-meinungsfindungstool AT lists.piratenpartei.de
  • Subject: Re: [Ag Meinungsfindungstool] Deliberative Demokratie
  • Date: Sun, 27 Apr 2014 23:17:30 +0200
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-meinungsfindungstool>
  • List-id: <ag-meinungsfindungstool.lists.piratenpartei.de>

Hi Paul,
ich antworte mal, auch wenn Du mich mit "y" geschrieben hast! ;)
Du hast natürlich vollkommen recht, wenn Du "noddr" als einfaches Beschlusssystem einstufst. Es hat ja auch niemand gesagt, dass die Demokratie kompliziert sein muss.

"noddr" beinhaltet aber auch einige Elemente der Meinungsbildung. So hat jedes Programm einen Inhalt, der informiert und variabel ist. Egal, ob man ein Programm nun als Politiker oder als mehr am Gemeinwohl orientierter Mensch einstellt.

Dazu kommt die Möglichkeit eines privaten Dialogs eines Wählers mit einem Politiker. So können die Inhalte des Programms nachgefragt und vertieft werden. Weiters gibt es schon eine Kommentar-Funktion beim Programm, die jedem offen steht.

Ein großer, wenn nicht der größte Komplex an Dialog und Informationsaustausch findet innerhalb der Koalitionsverhandlungen statt. Die vielfach stattfinden. Die Koalitionsverhandlungen wirken auch wieder zurück zum Wähler. Sprich, dass sich Politiker versichern, ob sie Inhalten der Koalitionspartner sinnvollerweise zustimmen.

Insgesamt entsteht in genau diesen - sinnvollen - Entscheidungsstrukturen an expliziten Stellen die Notwendigkeit der Diskussion und Information. Recht dezentral. Ich kann nicht abschätzen, wo Werkzeuge der Meinungsbildung dort oder anderswo sinnvoll zu platzieren sind.

Ich finde es gut, dass Du den Begriff "Minderheitenschutz" erwähnst. Ich habe mehr und mehr das Gefühl, dieser dient als Rechtfertigung der allgemeinen Hilflosigkeit in Bezug auf Demokratie. Es ist so ein "Gutmenschen"-Begriff. Und wenn jetzt die Alarmglocken schrillen, dann nur Recht. Denn es ist wie bereits erwähnt die "direkte" Demokratie, die Minderheiten nicht schützt, sondern sie direkt in den Abgrund führt. Und gleichzeitig wird sie gerne von aufgeklärten pluralistisch denkenden Menschen propagiert. Das ist eine Farce. Es ist so, dass wir in einer wahren pluralistischen Gesellschaft letztlich alle in der Minderheit sind. Dass wir alle es sind, die durch schlechte Demokratie in den Nachteil kommen.

Die vorschlagsorientiere Demokratie ist so: Es gibt drei Personen, die eine Gesellschaft bilden und reihum jeweils einen Vorschlag haben, der sie selbst und die nächste Person leicht bevorteilt. Die dritte Person aber wird ruiniert. Ergebnis ist dann, dass alle Vorschläge angenommen werden und alle Gesellschaftsmitglieder ruiniert werden. Die direkte Demokratie bietet keinen Minderheitenschutz oder gar einen Schutz vor dem allgemeinen gesellschaftlichen Suizid.

Ganz anders die "programmorientierte" Demokratie: Hier wird ein allgemeines Gleichgewicht aufgebaut. Ein Marktgleichgewicht. Nicht die kleinste Stimme kann diesem Gleichgewicht hinzugefügt oder weggenommen werden, ohne dass nicht das Gleichgewicht darauf reagieren und sie berücksichtigten würde. Das ist das Ideal. Und durch Transparenz und Freiheit, muss man auch keine Angst haben, dass Politiker nicht den Willen des Volkes beachten würden. Siehe die Theorie des Marktes unter vollständiger Konkurrenz, wo Leistungen zu Herstellungskosten erbracht werden. D.h. kein Vorteil für Politiker durch missbräuchliche Stimmenvertretung!

Das Letzte nur weil Du auch noch nach den Hintergründen zu noddr gefragt hast. Es sind ökonomische. Und wer sich einmal damit beschäftigt hat, wird auch feststellen, dass sie gut zum Verständnis politischer beziehungsweise demokratischer Prozesse beitragen. Es sind die Strukturen der repräsentativen Demokratie, die uns die Zukunft weisen und auch heute schon überall relevant sind. Auch heute schon in impliziter Form die die meisten direktdemokratischen Strukturen erst brauchbar machen. Und - ich spreche bei noddr auch von "natürlicher Herrschaft" - sich spieltheoretisch als militärische Vorgängerstruktur der Demokratie herleiten lassen. Denn eine zivile politische Struktur hat nur dann Bestand, wenn ein Rückfall in die Gewalt kein anderes Ergebnis erwarten lässt.

Deswegen gibt es nur eine einzige Demokratie. Und ich habe Dir jetzt grad noch Deine Stimmen auf http://sandbox.noddr.de/profil/bloxx gegeben. Ich hoffe, es ist ok, wenn ich damit Deine Anonymität aufgedeckt habe. Politiker sind bei noddr eh recht gläsern. Und Deine 100 Stimmen kannst Du - bis aufs Prozent genau - verteilen.

Grüße
Henri






Am 27. April 2014 21:03 schrieb <pa.rei AT gmx.de>:
Hi Henry,
 
dein "noddr" finde ich interessant, aber ich würde es im Moment wirklich einfach als Beschlusssystem einstufen. Die dienen dazu, die Meinungen der Leute quantitativ oder objektiv festzuhalten, sind aber mMn völlig ungeeignet, wenn es darum geht, dass Leute sich eine Meinung bilden. Das ist aber die Voraussetzung für mündige Bürger, was widerum die Voraussetzung für Demokratie ist.
 
Ich meine: Wenn jeder einfach nach dem Mehrheitsprinzip seine Stimme für ein Programm abgibt, dann wird zwar der "Wille des Volkes", oder dessen Mehrheit, befolgt, aber oft beschäftigen sich die Abstimmenden nicht mit konträren Meinungen oder wissen einfach nicht von anderen Argumenten, die vielleicht besser sind. Ein Diskussionssystem soll hier nachhelfen, die Basis für eine qualifizierte Entscheidung sein, in der Hoffnung, dass die Menschen über eine solche Plattform ihre Erfahrungen und Argumente zu Streitthemen zusammentragen und abwägen können.
 
Dahinter steckt auch die Vorstellung, dass Menschen nach Gerechtigkeit streben, solange ihre Grund- und Kulturbedürfnisse abgedeckt sind. Zumindest, wenn sie nicht durch Angst oder Populismus manipuliert werden. Eine Demokratie mit Minderheitenschutz, die nicht nur auf der Vertretung der eigenen Interessen und oft noch unüberlegten beruht, ist nämlich nur dann möglich. Wenn wir dagegen von einem egoistischen Menschen ausgehen, so mag das vielleicht in der Wirtschaft mehr oder weniger klappen, aber nicht in einer Demokratie, denn dann werden Minderheiten unterdrückt.
 
Außerdem gibt es noch Bereiche wie den Umweltschutz, der momentan nicht gegenwärtig im Großteil der Bevölkerung ist, obwohl er doch eigentlich sehr dringend und im Interesse aller ist.
 
Warum läuft hier aber nichts? Das mag verschiedene Gründe haben, die sich aber bestimmt nicht durch eine andere Form von Abstimmung lösen lassen. Dafür braucht es aus meiner Sicht einen gesellschaftlichen Diskurs - momentan aber nur sehr rudimentär möglich.
 
Mich würden aber deine grundsätzlichen Überlegungen hinter noddr interessieren, und warum du der Meinung bist, dass es besser zur Lösung solcher Probleme geeignet ist. (Siehst du? Ohne Diskurs läuft hier nix :o) )
 
Viele Grüße,
Paul
 
Gesendet: Sonntag, 27. April 2014 um 19:28 Uhr

Von: "Henri Nathanson" <henri.nathanson AT gmail.com>
An: ag-meinungsfindungstool AT lists.piratenpartei.de
Betreff: Re: [Ag Meinungsfindungstool] Deliberative Demokratie
Hi Paul,
 
schön, dass Ihr meinen Input beachtet habt. Ich habe mich deswegen auch nochmal umgeschaut, bevor ich hier eine Antwort schreibe. Also ich bin seit zehn Jahren intensiv auf der Suche nach der Demokratie. Die Mailinglisten der Piratenpartei habe ich mir aber erst seit Jahresfrist angeschaut. Dabei fiel mir auf, dass Meinungsbildung und Entscheidungsfindung zwar getrennt sind. Aber doch unter dem gemeinsamen Banner der Demokratieentwicklung stehen. Und diese ominöse Demokratieentwicklung ist nun ein unglaubliches Chaos an Unsinnigkeiten und Unklarheiten.
 
Wie gesagt bin ich seit zehn Jahren dabei. Zehn Jahre, in denen ich Demokratie immer als den wichtigsten Bestandteil meines Lebens gesehen habe. Ich habe letztes Jahr meine Forschung dazu abgeschlossen. Und im vergangenen halben Jahr diesen Prototypen programmiert - http://noddr.de
 
Was jetzt noch fehlt ist ein erläuterndes Dokument. Etwas, wo man in einfachen Worten darstellt, was Demokratie denn nun eigentlich ist. Darin kann man dann lesen, dass man von direkter Demokratie - ich nenne es die vorschlagsbasierte Demokratie - möglichst die Hände lassen sollte. Denn sie ist wirtschaftlich ineffizient. Viel interessanter ist die "programmbasierte Demokratie". Also die repräsentative Demokratie. Und Mischformen der beiden, sind ebenfalls ein Graus. Siehe Liquidfeedback oder die bundesdeutsche "repräsentative" Struktur.
 
Man muss zuletzt das Rad nicht neu erfinden. Nur verbessern. Die demokratischen Strukturen von Morgen sind fast die gleichen wie heute - nur freiheitlicher und transparenter. Und es sind Markt-Strukturen. Sie sind nicht anders als die Strukturen beim Kaufen von Kleidern, Autos oder Versicherungen. Wo es natürlich ebenfalls um den Bedarf einer Informationsbeschaffung gibt, wo ich aber nicht sehe, dass dieser nicht gedeckt ist. Verhältnismäßig gedeckt ist.
 
Verhältnismäßig im Vergleich zum Demokratieproblem an sich. Also der Frage nach den Kernstrukturen der Demokratie. Der Entscheidungsfindungsproblematik. Ich habe die Angst, dass die Meinungsfindungsproblematik zu einem Ersatzproblem der Entscheidungsfindungsproblematik werden kann. Eine Horrorvorstellung, wenn ich unterstelle, dass wird doch alle klar die gleiche Ziellinie verfolgen: eine Demokratie von Morgen zu entwickeln.
 
Ich sage nicht, dass Tools zur Diskussion oder sonstigem nicht sinnvoll oder sinnvoll zu verbessern seien. Man muss nur auch wissen, ob abhängig von den demokratischen Strukturen überhaupt eine Anwendung zu erwarten ist. Ich denke, dass der Blick rüber zur Entscheidungsfindung ein wichtiger ist. Und von der Entscheidungsfindung aus kann ich Euch sagen, dass das demokratische Problem ein ökonomisches Problem ist, welches nicht durch Habermas und Co. mit "Deliberation" gelöst oder verstanden wird. Und auch nicht durch tausend andere "Akteure", die sich, dass muss man ja doch sagen, ehrenhaft der Förderung der Demokratie verschrieben haben.
 
Ich sehe immer nur das Eine: http://participedia.net/en/content/research
 
In diesem Sinne.
Henri
 
 
 
 
 
 
 
 
Am 25. April 2014 16:08 schrieb <pa.rei AT gmx.de>:
Hi Henri,
 
wir sind uns bei unserem letzten Treffen nicht ganz klar darüber gewesen, was du meinst.
Wie ich deinen Beitrag verstanden habe, ergibt sich die Meinungsbildung erst, wenn es auch Entscheidungsfindung gibt. Zunächst zu unserem (meinem) Verständnis von Meinungsbildung. Meinungsbildung bildet Meinungen in den Köpfen aller Teilnehmer, ohne dass diese Meinungen direkt mit einer Entscheidung verknüpft sein müssen. Im Gegenteil. Viele Probleme, sogenannte "wicked problems", sind so verzwickt, dass man nie zur ganzen Wahrheit kommen kann. Meinungsbildung ist ein andauernder Prozess, der nicht mit einer Entscheidung aufhört.
 
Wir sind der Meinung, dass die Meinugsbildung der Entscheidung (im Sinne von Beschluss) vorangeht, denn die Grundlage für eine sinnvolle Abstimmung ist, dass alle mal gründlich ihre Argumente ausgetauscht und sich informiert haben, und nicht andersrum.
 
Hab' ich dich falsch verstanden?
 
Viele Grüße,
Paul
 
Gesendet: Dienstag, 22. April 2014 um 10:24 Uhr
Von: "Henri Nathanson" <henri.nathanson AT gmail.com>
An: ag-meinungsfindungstool AT lists.piratenpartei.de
Betreff: Re: [Ag Meinungsfindungstool] Deliberative Demokratie

Hi Paul.
In der Hoffnung nicht den Thread zu kapern.. Aber wenn Du hier dieserlei Fragen stellst und geschätzt das Ziel verfolgt eine ideelle maximal sinnvolle Lösung zu erdenken. Sollte es nicht so sein, dass die Struktur der Entscheidungsfindung für eine Gruppenorganisation zentral und sich Bedürfnisse und strukturelle Abhängigkeiten der Diskussion beziehungsweise Meinungsbildung erst in Abhängigkeit davon ergeben? Musst Du nicht erst einmal danach fragen? Ich weiss, dass Du kein Wissen zur Entscheidungsfindung hast und finde die Verweise deshalb eher uninteressant wie tausend andere gutgemeinte Ansätze in diesem Feld.
Henri

Am 20.04.2014 22:44 schrieb <pa.rei AT gmx.de>:
Hallo zusammen,

bin gerade auf ein neues Schlagwort gestoßen, unter dem sich eventuell noch viel Recherche zu unserem Thema betreiben lässt. Wie der Betreff schon verraten hat, handelt es sich um "deliberative Demokratie". Wenn man dieses Schlagwort mit "online" verbindet, spuckt StartPage gleich eine Menge Ergebnisse aus. Hier eine kleine Auswahl:

https://en.wikipedia.org/wiki/Online_deliberation
http://www.deliberative-democracy.net/

Was meint ihr?

Liebe Grüße,
Paul

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