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ag-meinungsfindungstool - Re: [Ag Meinungsfindungstool] Deliberative Demokratie

ag-meinungsfindungstool AT lists.piratenpartei.de

Betreff: Ag-meinungsfindungstool mailing list

Listenarchiv

Re: [Ag Meinungsfindungstool] Deliberative Demokratie


Chronologisch Thread 
  • From: Dinu Gherman <gherman AT darwin.in-berlin.de>
  • To: ag-meinungsfindungstool AT lists.piratenpartei.de
  • Subject: Re: [Ag Meinungsfindungstool] Deliberative Demokratie
  • Date: Mon, 28 Apr 2014 14:08:30 +0200
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-meinungsfindungstool>
  • List-id: <ag-meinungsfindungstool.lists.piratenpartei.de>

Hallo zusammen,

eine nette Diskussion, von der ich meine, sie wäre besser in der AG
Demokratie aufgehoben, aber egal.

Henri, Deine Bemühungen in Ehren, noddr hat einen coolen Namen und sieht
durchaus interessant aus. Was mich allerdings irritiert sind folgende Punkte
(bitte korrigiere mich, wenn ich Dich falsch verstanden habe):

1. Warum glaubst Du, dass Du (nach eigener Aussage) allein 10 Jahre lang
Demokratie-Forschung betreiben und diese in ein System gießen kannst, auf das
andere aufspringen? Ich frage ganz ernsthaft, weil Du entweder "Forschung"
anders verstehst, oder nicht genug darüber sagst, wie Du dazu kommst oder wer
das unterstützt? Auf jeden Fall wird akademische "Forschung in Isolation"
schon länger nicht mehr praktiziert, soweit ich weiß.

2. Was veranlasst Dich, "Marktprinzipien", also ökonomische, als diejenigen
zu identifizieren, nach der sich in Zukunft die Demokratie richten wird? Für
mich schwingt da sehr die vielzitierte "unsichtbare Hand" mit, die alles zum
Guten führen soll. In der Realität sieht das leider ganz anders aus, siehe
z.B. nur den Markt für Emissionszertifikate, wo man schon vor längerem eine
Tonne C02 für den Preis eines Kaugummies kaufen konnte. Es klingt auch sehr
nach TINA, There Is No Alternative. Wie gesagt, ohne fundierte Begründung
kann man das nicht verkaufen. Dazu noch: Märkte funktionieren nur mit
theoretisch gleichberechtigten Teilnehmern. Diese haben wir eigentlich
nirgendwo, oder hast Du in Deiner Forschung welche identifizieren können?

3. Warum betrachtest Du die repräsentative Demokratie als Lösung, während in
allen Ländern, die sie haben, gilt, dass die Probleme, die sie verursacht,
mehr zunehmen als die, die sie löst? Dazu gibt es übrigens eine lesenswerte
Artikelreihe auf Telepolis unter dem Titel "Eine Demokratie haben wir schon
lange nicht mehr" (mit inzwischen 21 Teilen):
http://www.heise.de/tp/autor/wolfgangjkoschnick/default.html

Gruß,

Dinu

PS: Übrigens wundert es mich auch, dass jemand, der die Demokratie verbessern
möchte, ein Konto bei der Postbank führt, Tochter eines der
undemokratischsten und kriminellsten (verurteilten) Unternehmen, die man
heutzutage so finden kann.


Am 27.04.2014 um 23:17 schrieb Henri Nathanson:

> Hi Paul,
> ich antworte mal, auch wenn Du mich mit "y" geschrieben hast! ;)
> Du hast natürlich vollkommen recht, wenn Du "noddr" als einfaches
> Beschlusssystem einstufst. Es hat ja auch niemand gesagt, dass die
> Demokratie kompliziert sein muss.
>
> "noddr" beinhaltet aber auch einige Elemente der Meinungsbildung. So hat
> jedes Programm einen Inhalt, der informiert und variabel ist. Egal, ob man
> ein Programm nun als Politiker oder als mehr am Gemeinwohl orientierter
> Mensch einstellt.
>
> Dazu kommt die Möglichkeit eines privaten Dialogs eines Wählers mit einem
> Politiker. So können die Inhalte des Programms nachgefragt und vertieft
> werden. Weiters gibt es schon eine Kommentar-Funktion beim Programm, die
> jedem offen steht.
>
> Ein großer, wenn nicht der größte Komplex an Dialog und
> Informationsaustausch findet innerhalb der Koalitionsverhandlungen statt.
> Die vielfach stattfinden. Die Koalitionsverhandlungen wirken auch wieder
> zurück zum Wähler. Sprich, dass sich Politiker versichern, ob sie Inhalten
> der Koalitionspartner sinnvollerweise zustimmen.
>
> Insgesamt entsteht in genau diesen - sinnvollen - Entscheidungsstrukturen
> an expliziten Stellen die Notwendigkeit der Diskussion und Information.
> Recht dezentral. Ich kann nicht abschätzen, wo Werkzeuge der
> Meinungsbildung dort oder anderswo sinnvoll zu platzieren sind.
>
> Ich finde es gut, dass Du den Begriff "Minderheitenschutz" erwähnst. Ich
> habe mehr und mehr das Gefühl, dieser dient als Rechtfertigung der
> allgemeinen Hilflosigkeit in Bezug auf Demokratie. Es ist so ein
> "Gutmenschen"-Begriff. Und wenn jetzt die Alarmglocken schrillen, dann nur
> Recht. Denn es ist wie bereits erwähnt die "direkte" Demokratie, die
> Minderheiten nicht schützt, sondern sie direkt in den Abgrund führt. Und
> gleichzeitig wird sie gerne von aufgeklärten pluralistisch denkenden
> Menschen propagiert. Das ist eine Farce. Es ist so, dass wir in einer
> wahren pluralistischen Gesellschaft letztlich alle in der Minderheit sind.
> Dass wir alle es sind, die durch schlechte Demokratie in den Nachteil
> kommen.
>
> Die vorschlagsorientiere Demokratie ist so: Es gibt drei Personen, die eine
> Gesellschaft bilden und reihum jeweils einen Vorschlag haben, der sie
> selbst und die nächste Person leicht bevorteilt. Die dritte Person aber
> wird ruiniert. Ergebnis ist dann, dass alle Vorschläge angenommen werden
> und alle Gesellschaftsmitglieder ruiniert werden. Die direkte Demokratie
> bietet keinen Minderheitenschutz oder gar einen Schutz vor dem allgemeinen
> gesellschaftlichen Suizid.
>
> Ganz anders die "programmorientierte" Demokratie: Hier wird ein allgemeines
> Gleichgewicht aufgebaut. Ein Marktgleichgewicht. Nicht die kleinste Stimme
> kann diesem Gleichgewicht hinzugefügt oder weggenommen werden, ohne dass
> nicht das Gleichgewicht darauf reagieren und sie berücksichtigten würde.
> Das ist das Ideal. Und durch Transparenz und Freiheit, muss man auch keine
> Angst haben, dass Politiker nicht den Willen des Volkes beachten würden.
> Siehe die Theorie des Marktes unter vollständiger Konkurrenz, wo Leistungen
> zu Herstellungskosten erbracht werden. D.h. kein Vorteil für Politiker
> durch missbräuchliche Stimmenvertretung!
>
> Das Letzte nur weil Du auch noch nach den Hintergründen zu noddr gefragt
> hast. Es sind ökonomische. Und wer sich einmal damit beschäftigt hat, wird
> auch feststellen, dass sie gut zum Verständnis politischer beziehungsweise
> demokratischer Prozesse beitragen. Es sind die Strukturen der
> repräsentativen Demokratie, die uns die Zukunft weisen und auch heute schon
> überall relevant sind. Auch heute schon in impliziter Form die die meisten
> direktdemokratischen Strukturen erst brauchbar machen. Und - ich spreche
> bei noddr auch von "natürlicher Herrschaft" - sich spieltheoretisch als
> militärische Vorgängerstruktur der Demokratie herleiten lassen. Denn eine
> zivile politische Struktur hat nur dann Bestand, wenn ein Rückfall in die
> Gewalt kein anderes Ergebnis erwarten lässt.
>
> Deswegen gibt es nur eine einzige Demokratie. Und ich habe Dir jetzt grad
> noch Deine Stimmen auf http://sandbox.noddr.de/profil/bloxx gegeben. Ich
> hoffe, es ist ok, wenn ich damit Deine Anonymität aufgedeckt habe.
> Politiker sind bei noddr eh recht gläsern. Und Deine 100 Stimmen kannst Du
> - bis aufs Prozent genau - verteilen.
>
> Grüße
> Henri
>
>
>
>
>
>
> Am 27. April 2014 21:03 schrieb <pa.rei AT gmx.de>:
> Hi Henry,
>
> dein "noddr" finde ich interessant, aber ich würde es im Moment wirklich
> einfach als Beschlusssystem einstufen. Die dienen dazu, die Meinungen der
> Leute quantitativ oder objektiv festzuhalten, sind aber mMn völlig
> ungeeignet, wenn es darum geht, dass Leute sich eine Meinung bilden. Das
> ist aber die Voraussetzung für mündige Bürger, was widerum die
> Voraussetzung für Demokratie ist.
>
> Ich meine: Wenn jeder einfach nach dem Mehrheitsprinzip seine Stimme für
> ein Programm abgibt, dann wird zwar der "Wille des Volkes", oder dessen
> Mehrheit, befolgt, aber oft beschäftigen sich die Abstimmenden nicht mit
> konträren Meinungen oder wissen einfach nicht von anderen Argumenten, die
> vielleicht besser sind. Ein Diskussionssystem soll hier nachhelfen, die
> Basis für eine qualifizierte Entscheidung sein, in der Hoffnung, dass die
> Menschen über eine solche Plattform ihre Erfahrungen und Argumente zu
> Streitthemen zusammentragen und abwägen können.
>
> Dahinter steckt auch die Vorstellung, dass Menschen nach Gerechtigkeit
> streben, solange ihre Grund- und Kulturbedürfnisse abgedeckt sind.
> Zumindest, wenn sie nicht durch Angst oder Populismus manipuliert werden.
> Eine Demokratie mit Minderheitenschutz, die nicht nur auf der Vertretung
> der eigenen Interessen und oft noch unüberlegten beruht, ist nämlich nur
> dann möglich. Wenn wir dagegen von einem egoistischen Menschen ausgehen, so
> mag das vielleicht in der Wirtschaft mehr oder weniger klappen, aber nicht
> in einer Demokratie, denn dann werden Minderheiten unterdrückt.
>
> Außerdem gibt es noch Bereiche wie den Umweltschutz, der momentan nicht
> gegenwärtig im Großteil der Bevölkerung ist, obwohl er doch eigentlich sehr
> dringend und im Interesse aller ist.
>
> Warum läuft hier aber nichts? Das mag verschiedene Gründe haben, die sich
> aber bestimmt nicht durch eine andere Form von Abstimmung lösen lassen.
> Dafür braucht es aus meiner Sicht einen gesellschaftlichen Diskurs -
> momentan aber nur sehr rudimentär möglich.
>
> Mich würden aber deine grundsätzlichen Überlegungen hinter noddr
> interessieren, und warum du der Meinung bist, dass es besser zur Lösung
> solcher Probleme geeignet ist. (Siehst du? Ohne Diskurs läuft hier nix :o) )
>
> Viele Grüße,
> Paul
>
> Gesendet: Sonntag, 27. April 2014 um 19:28 Uhr
>
> Von: "Henri Nathanson" <henri.nathanson AT gmail.com>
> An: ag-meinungsfindungstool AT lists.piratenpartei.de
> Betreff: Re: [Ag Meinungsfindungstool] Deliberative Demokratie
> Hi Paul,
>
> schön, dass Ihr meinen Input beachtet habt. Ich habe mich deswegen auch
> nochmal umgeschaut, bevor ich hier eine Antwort schreibe. Also ich bin seit
> zehn Jahren intensiv auf der Suche nach der Demokratie. Die Mailinglisten
> der Piratenpartei habe ich mir aber erst seit Jahresfrist angeschaut. Dabei
> fiel mir auf, dass Meinungsbildung und Entscheidungsfindung zwar getrennt
> sind. Aber doch unter dem gemeinsamen Banner der Demokratieentwicklung
> stehen. Und diese ominöse Demokratieentwicklung ist nun ein unglaubliches
> Chaos an Unsinnigkeiten und Unklarheiten.
>
> Wie gesagt bin ich seit zehn Jahren dabei. Zehn Jahre, in denen ich
> Demokratie immer als den wichtigsten Bestandteil meines Lebens gesehen
> habe. Ich habe letztes Jahr meine Forschung dazu abgeschlossen. Und im
> vergangenen halben Jahr diesen Prototypen programmiert - http://noddr.de
>
> Was jetzt noch fehlt ist ein erläuterndes Dokument. Etwas, wo man in
> einfachen Worten darstellt, was Demokratie denn nun eigentlich ist. Darin
> kann man dann lesen, dass man von direkter Demokratie - ich nenne es die
> vorschlagsbasierte Demokratie - möglichst die Hände lassen sollte. Denn sie
> ist wirtschaftlich ineffizient. Viel interessanter ist die
> "programmbasierte Demokratie". Also die repräsentative Demokratie. Und
> Mischformen der beiden, sind ebenfalls ein Graus. Siehe Liquidfeedback oder
> die bundesdeutsche "repräsentative" Struktur.
>
> Man muss zuletzt das Rad nicht neu erfinden. Nur verbessern. Die
> demokratischen Strukturen von Morgen sind fast die gleichen wie heute - nur
> freiheitlicher und transparenter. Und es sind Markt-Strukturen. Sie sind
> nicht anders als die Strukturen beim Kaufen von Kleidern, Autos oder
> Versicherungen. Wo es natürlich ebenfalls um den Bedarf einer
> Informationsbeschaffung gibt, wo ich aber nicht sehe, dass dieser nicht
> gedeckt ist. Verhältnismäßig gedeckt ist.
>
> Verhältnismäßig im Vergleich zum Demokratieproblem an sich. Also der Frage
> nach den Kernstrukturen der Demokratie. Der
> Entscheidungsfindungsproblematik. Ich habe die Angst, dass die
> Meinungsfindungsproblematik zu einem Ersatzproblem der
> Entscheidungsfindungsproblematik werden kann. Eine Horrorvorstellung, wenn
> ich unterstelle, dass wird doch alle klar die gleiche Ziellinie verfolgen:
> eine Demokratie von Morgen zu entwickeln.
>
> Ich sage nicht, dass Tools zur Diskussion oder sonstigem nicht sinnvoll
> oder sinnvoll zu verbessern seien. Man muss nur auch wissen, ob abhängig
> von den demokratischen Strukturen überhaupt eine Anwendung zu erwarten ist.
> Ich denke, dass der Blick rüber zur Entscheidungsfindung ein wichtiger ist.
> Und von der Entscheidungsfindung aus kann ich Euch sagen, dass das
> demokratische Problem ein ökonomisches Problem ist, welches nicht durch
> Habermas und Co. mit "Deliberation" gelöst oder verstanden wird. Und auch
> nicht durch tausend andere "Akteure", die sich, dass muss man ja doch
> sagen, ehrenhaft der Förderung der Demokratie verschrieben haben.
>
> Ich sehe immer nur das Eine: http://participedia.net/en/content/research
>
> In diesem Sinne.
> Henri





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