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ag-gesundheitswesen - Re: [AG-Gesundheit] Privates Gesundheitssystem?

ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de

Betreff: AG Gesundheit

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Re: [AG-Gesundheit] Privates Gesundheitssystem?


Chronologisch Thread 
  • From: Wolfgang Gerstenhöfer <wolfgang.gerstenhoefer AT gmx.de>
  • To: "'AG Gesundheit'" <ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de>
  • Subject: Re: [AG-Gesundheit] Privates Gesundheitssystem?
  • Date: Mon, 8 Jun 2015 08:15:20 +0200
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-gesundheitswesen>
  • List-id: AG Gesundheit <ag-gesundheitswesen.lists.piratenpartei.de>

Hallo Syna,

dazu könnte man nun wieder sehr viel schreiben ...

Die Tatsachen, daß Privatversicherte für gleiche medizinische Leistungen
deutlich mehr bezahlen als Kassenpatienten und auch für Familienmitglieder
ohne eigenes Einkommen Beiträge gezahlt werden müssen, sind übrigens auch
Ausdrücke von Solidarität.

Nur noch so viel: Zuerst waren die Privatpatienten da, dann kamen die
gesetzlichen Krankenkassen ...

Da aber auch ich nichts davon halte, daß das Einkommen oder die Art der
Erwerbsarbeit (Selbständiger oder Arbeitnehmer) darüber entscheidet, wie man
sich versichern darf, und die Trennung in Privat- und Kassenpatienten für
längst überholt halte, möchte ich, daß es nur noch Privatpatienten und damit
Privatversicherte gibt.

Dies würde dann mit Hilfe der Gebührenordnungen für Ärzte und Zahnärzte, die
zum Gegenstand von Verhandlungen zwischen den Verbänden der Ärzte und
Zahnärzte und der Träger der Krankenversicherung würden, auch zu einer
angemessenen Bezahlung führen. Dies würde sinngemäß auch für alle anderen im
Gesundheitswesen Beschäftigten gelten.

Eines möchte ich aber auf gar keinen Fall:

Versicherte, die als Beitragszahler und Patienten von der Willkür einer
großen Behörde und der "Gefälligkeitsdemokratie" abhängig sind und keine
Wahlfreiheit mehr haben, wo und wie sie sich versichern und von wem und wie
sie sich behandeln lassen wollen.

Beste Grüße und einen guten Start in die neue Woche
Wolfgang

-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: ag-gesundheitswesen-bounces AT lists.piratenpartei.de
[mailto:ag-gesundheitswesen-bounces AT lists.piratenpartei.de] Im Auftrag von
syna
Gesendet: Sonntag, 7. Juni 2015 22:54
An: ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de
Betreff: Re: [AG-Gesundheit] Privates Gesundheitssystem?

Jaaa,

kommen wir nun wieder zum eigentlichen Thema - nämlich zur
"Privaten Krankenversicherung" und zu den damit einhergehenden
Problemen. Die PKV verursacht durch die "Duale Vergütung"
im Einzelnen folgende Probleme:

1. Ungerechte Feudalstruktur durch die PKV
2. Erhebliche Fehlallokationen in fast jedem Fachbereich.
3. Forschungsleistungen sind viel schlechter.
4. Uneffiziente duale Strukturen (doppelte Facharztschiene,
Drehtürmedizin) - nur zum Wohle der Privatversicherten.

==================================================
Was bedeuten diese 4 Punkte nun?
Das will ich im Folgenden - so kurz wie möglich - erläutern.
==================================================

1. Ungerechte Feudalstruktur durch die PKV
-------------------------------------------------------------------------------
Ein Arbeitnehmer mit 3800 € Einkommen zahlt 550 € Beitrag
(einschließlich
Arbeitgeberanteil). Von diesen 550 € werden etwa 250 € verwendet, um
damit die medizinische Versorgung von Einkommensschwachen zu finanzieren.
Dagegen bringt ein privat Versicherter mit genau dem gleichen Einkommen
nicht einen einzigen Euro für die Solidargemeinschaft auf! Er kann sein
Geld
ganz dafür ausgeben, sich selbst eine bessere medizinische Behandlung zu
kaufen!

Die Private Krankenversicherung subventioniert nicht das System, sondern
bezahlt nur die Luxusversorgung ihrer Versicherten und profitiert von der
Subvention durch die ihren eigenen Mitgliedern erlassenen Solidarbeiträge.

Ausführlicher habe ich das alles
hier beschrieben (Dieser Thread, Seite 4, unterstes Posting)
http://news.piratenpartei.de/showthread.php?tid=494191&pid=2305611#pid2305611

-------------------------------------------------------------------------------
2. Erhebliche Fehlallokationen in fast jedem Fachbereich.
-------------------------------------------------------------------------------
Die "Duale Vergütung" bedeutet: Für eine medizinische Leistung werden
Ärzte
und Kliniken unterschiedlich bezahlt, je nachdem ob sie einen
"Kassenpatienten"
oder einen in der PKV privat versicherten Patienten behandeln.

Die "Duale Vergütung" bringt selbst idealistischste Ärzte in die
Versuchung,
die Privatpatienten zuvorkommender, ausführlicher und letztlich damit auch
besser zu behandeln. Die kurzen Wartezeiten der PKV-Patienten sind nur
das augenscheinlichste und unwichtigste Anzeichen dafür. Ärzte werden in
einen inneren Konflikt getrieben: Soll ich puristisch im Sinne des Eid des
Hippokrates handeln - oder soll ich ökonomische Kriterien walten lassen?

Die "Duale Vergütung" bringt den Kaufmännischen Direktor und das
Controlling fast jeder Klinik dazu, Druck auf die reputierten
Leistungsträger
unter den Chirurgen auszuüben. Die herausragenden Spezialisten sollen
noch mehr Privatpatienten operieren. Denn das ist lukrativer - und lockt
noch mehr Privatpatienten an.

Das Problem dabei: *Fehlallokationen*!

"Fehlallokation" bedeutet, dass gut ausgebildete Spezialisten nicht in
ihrem
Spezialbereich, für den sie bestens ausgebildet wurden, eingesetzt werden,
sondern für Trivialeinsätze von PKV-Patienten verschwendet werden.
Das passiert genau deshalb, weil für diese Trivial-OPs einfach besser
bezahlt
wird.

Ausführlicher habe ich das alles
hier beschrieben (Dieser Thread Seite 8, Drittes Posting von oben)
http://news.piratenpartei.de/showthread.php?tid=494191&pid=2306803#pid2306803.
Es lohnt sich.

Bleiben noch die Punkte (3) und (4), die ich bisher nicht erläutert habe.
-------------------------------------------------------------------------------
3. Forschungsleistungen sind viel schlechter.
-------------------------------------------------------------------------------
Die Zweiklassenmedizin ruiniert die Forschung, weil zu viele Spezialisten
nach Abschluss ihrer extrem aufwändigen Ausbildung aus der Forschung
aussteigen und sich der Behandlung von Privatpatienten widmen. Denn
mit der Forschung alleine kann an einem deutschen Universitätskrankenhaus
nicht viel Geld verdient werden. Wirbt der klinische Forscher in großem
Umfang Drittmittel von der Industrie ein, geht das Geld komplett an die
Klinik, für ihn bleibt nichts. Beansprucht er einen Teil der Mittel für
Tätigkeiten
außerhalb des engen Forschungsvorhabens, läuft er Gefahr, wegen
Korruption angeklagt zu werden. Viele ziehen sich deshalb zum Zeitpunkt
der Berufung weitgehend aus der aktiven Forschung zurück, behandeln
Privatpatienten, werden einigermaßen vermögend und bewerten die
Ergebnisse
der Forschungsgruppen im Ausland, ohne selbst etwas dazu beizutragen.

Keine Ausnahme, geradezu typisch ist der deutsche Universitätsprofessor,
der seinen Kollegen für ein Honorar der Pharmafirma die
Forschungsergebnisse
aus den USA erklärt und somit eine Art Marketing-Galionsfigur der Firma
darstellt. Im Fachjargon wird von einem habilitierten „Mietmaul“
gesprochen.
Es ist so peinlich wie traurig, wenn man erleben muss, dass viele
hochdotierte
deutsche Universitätsprofessoren nur bei den sogenannten
Satellitensymposien
der internationalen Fachkongresse eine Rolle spielen. Dabei handelt es
sich um
Marketingveranstaltungen der Pharmafirmen, die parallel zum eigentlichen
wissenschaftlichen Programm ablaufen.

Der Verlierer dieses Systems ist der gesetzlich Versicherte – und die
gesamte
Gesellschaft durch den Niedergang der klinischen Forschung. Dabei wird fast
die gesamte Infrastruktur der Universitätskliniken von Beitragszahlern der
Gesetzlichen Krankenversicherung und aus Steuermitteln bezahlt. Stärker
als alle andere profitieren davon die zehn Prozent privat Versicherten,
für
die wir in Deutschland die aufwändigste Therapie weltweit vorhalten.

-------------------------------------------------------------------------------
4. Uneffiziente duale Strukturen (doppelte Facharztschiene,
Drehtürmedizin) - nur zum Wohle der Privatversicherten.
-------------------------------------------------------------------------------

Kommen wir also zum letzten großen Punkt, zur Drehtürmedizin. Jeder
bemerkte wahrscheinlich schon, dass der Eingang von großen Kliniken
(allerdings auch von Einkaufszentren oder Kaufhäusern) durch Drehtüren
ausgeführt ist. Diese sind die Metapher für die "Drehtürmedizin", die
ich
hier kurz beschreiben möchte:

-------------------------------
Beispiel Prostatakrebs
-------------------------------

Der gesetzlich Versicherte bemerkt Blut im Urin und geht zum Urologen.
Es wird Prostatakrebs festgestellt. Der niedergelassene Urologe überweist
an die örtliche Klinik. Der Patient hat keine Ahnung, dass bei einer
Prostataoperation viel davon abhängt, wie oft die Klinik den Eingriff
vornimmt und wie stark der Operateur spezialisiert ist.

Verschiedene Studien zeigen, dass Männer seltener unter Inkontinenz
und Impotenz leiden und schneller aus dem Krankenhaus entlassen
werden können, wenn die Prostata von einem auf diesem Gebiet
erfahrenen Urologen entfernt wird. Amerikanische Fachgesellschaften
empfehlen deshalb 55 Eingriffe pro Jahr und Krankenhaus – eine Quote,
die in Deutschland nur ein Viertel der Kliniken, die Prostataoperationen
durchführen, auch erreichen. Vielmehr werden in Deutschland die Fälle
so gut auf die Krankenhäuser verteilt, als ob die Forschung bewiesen
hätte, dass die Ergebnisse der Operation um so besser wären, je weniger
Erfahrung der Chirurg mit dem Eingriff hat.

Gibt es Komplikationen, beispielsweise unkontrollierten Harnabgang, dann
geht der Patient zurück zu seinem niedergelassenen Urologen. Dieser
versucht jetzt, das Problem in den Griff zu kriegen. Er hat die Operation
allerdings nicht durchgeführt, er kennt den Verlauf des Falls nur aus der
Akte, die er oft erst mit wochenlanger Verspätung bekommt.

Er fühlt sich für die Folgekrankheit vielleicht gar nicht verantwortlich,
während der Operateur den Fall ganz aus den Augen verliert. Die
niedergelassenen Ärzte, etwa ein Röntgenarzt, der Urologe und ein
Spezialist für Innere Medizin besprechen den Fall niemals gemeinsam,
sie tauschen nur Akten aus. Richtig zuständig fühlt sich niemand,
bestenfalls der Hausarzt, der aber mit solchen Fällen noch die wenigste
Erfahrung hat.

In den USA, den skandinavischen Ländern und den Niederlanden würde
der Fall anders ablaufen. Die Behandlung würde in der Regel in einem
Zentrum für Prostatakrebs durchgeführt, die Komplikationsrate fiele dort
wahrscheinlich niedriger aus. Diese Versorgung durch Spezialisten aus
einer Hand hat sich nicht nur als besser, sondern auch als kostengünstiger
erwiesen.

Sie steht aber in Deutschland ausschließlich dem privat Versicherten zur
Verfügung, weil sie die Ärzte frei auswählen können und die Fachleute
sie
gerne behandeln. Im Fall von Komplikationen können sie daher auch nach
dem Eingriff von dem Arzt ambulant weiterbetreut werden, der sie operiert
hat.

Der gesetzlich Versicherte Patient wird dagegen nach Auftreten einer
Komplikation „durch das System gereicht“. Dabei gerät er an Ärzte,
die mit
Fällen wie seinem keine oder wenig Erfahrung haben. Ist seine Behandlung
aufwändig und durch die Budgets des niedergelassenen Arztes nicht gedeckt,
so überweist man ihn phasenweise in das Krankenhaus zurück. Die
Drehtürmedizin beginnt: Anlässlich einer jeden Verschlechterung seines
Leidens wechselt er vom niedergelassenen in den stationären Bereich und
wieder zurück.

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So, das war jetzt trotz "Kürze" eine ganze Menge - jedenfalls für ein
Forum.

Grüße,

Syna.
--
AG-Gesundheitswesen mailing list
AG-Gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de
https://service.piratenpartei.de/listinfo/ag-gesundheitswesen





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