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ag-gesundheitswesen - Re: [AG-Gesundheit] Privates Gesundheitssystem?

ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de

Betreff: AG Gesundheit

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Re: [AG-Gesundheit] Privates Gesundheitssystem?


Chronologisch Thread 
  • From: Wolfgang Gerstenhöfer <wolfgang.gerstenhoefer AT gmx.de>
  • To: "'AG Gesundheit'" <ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de>
  • Subject: Re: [AG-Gesundheit] Privates Gesundheitssystem?
  • Date: Fri, 12 Jun 2015 12:00:44 +0200
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-gesundheitswesen>
  • List-id: AG Gesundheit <ag-gesundheitswesen.lists.piratenpartei.de>

Hallo Syna,

besser hätte ich die staatskritische Haltung auch nicht formulieren können.
Auch das Beispiel mit dem Flughafen Berlin Brandenburg "Willy Brandt" (BER)
paßt sehr gut.

Interessanterweise waren von der Bankenkrise 2007 besonders stark
Landesbanken betroffen, deren Aufsichtsräte vor allem von Politikern gebildet
werden ...

Selbstverständlich spielen die jeweils handelnden Personen immer eine große
Rolle.

Die jeweiligen Systeme können aber so manche Verhaltensweisen begünstigen -
im positiven wie im negativen Sinne.

Unternehmen bzw. Konzerne wie die Deutsche Bank ("Unternehmen ohne
Unternehmer") sind für mich "gute" Beispiele dafür, daß unsere
Wirtschaftsordnung zwar (nach wie vor) als Soziale Marktwirtschaft bezeichnet
wird, aber mit der Marktwirtschaft im Sinne des Ordoliberalismus, also mit
einer liberalen und damit auch sozialen Marktwirtschaft nur noch sehr wenig
zu tun hat.

Bei Interesse:
http://gerstenhoefer.jimdo.com/liberalismus-wie-ich-ihn-sehe/marktwirtschaft/

Das Streben nach Gewinn - meines Erachtens ein natürlicher Trieb des Menschen
- ist grundsätzlich positiv. Es sorgt für Innovationen und die Anpassung an
die Anforderungen des Marktes und damit der Verbraucher.

Allerdings sorgt die natürliche Bequemlichkeit des Menschen dafür, daß
möglichst leichte Wege gesucht werden. Das kann schon mal zu Lasten der
Kunden und auch der Arbeitnehmer gehen.

Hier ist dann der Staat gefragt - mit seiner Wirtschafts(ordnungs)politik.

Gerade bei Unternehmen, die wie Krankenversicherungsunternehmen sozialen
Zwecken dienen, ist es daher nach meiner Überzeugung und auch nach meinem
Verständnis der Marktwirtschaft gerechtfertigt, die Gewinnverwendung stärker
zu reglementieren als bei "normalen" Unternehmen - wie das auch im
Versicherungsaufsichtsgesetz geschehen ist.

So komme ich übrigens zu meiner Behauptung, daß die Privatpatienten die
gesetzliche Krankenversicherung subventionieren:

Im Jahr 2013 haben die gesetzliche und die private Krankenversicherung
Gesundheitsausgaben von 210.358 Mio. € gehabt. Davon müßten zehn Prozent auf
die private Krankenversicherung entfallen. Das wären 21.036 Mio. €.

Tatsächlich haben die Privatversicherten einen Anteil von 28.898 Mio. €. Sie
haben also 7.862 Mio. € mehr zu den Gesundheitsausgaben beigetragen als es
ihrem Anteil an der Bevölkerung entspricht, nämlich statt 10 fast 14 Prozent
und damit 4 Prozentpunkte mehr.

https://www.gbe-bund.de/oowa921-install/servlet/oowa/aw92/dboowasys921.xwdevkit/xwd_init?gbe.isgbetol/xs_start_neu/&p_aid=i&p_aid=47136116&nummer=322&p_sprache=D&p_indsp=134&p_aid=97604299

Mir ist noch nicht klar, wie Du auf die 9,7 Mrd. € kommst, mit denen die
gesetzliche Krankenversicherung Deiner Meinung nach die private
Krankenversicherung subventioniert.

Deine grundsätzliche Kritik an der Trennung in Privat- und Kassenpatienten
kann ich verstehen und teile sie auch. Deine Schlußfolgerungen daraus kann
ich allerdings weder nachvollziehen noch unterstützen.

Erst waren die Privatpatienten da. Dann meinte der Staat, er müsse einen
kleinen Kreis von Arbeitern vor den (finanziellen) Folgen einer Krankheit
schützen. Dieser Kreis der Schutzbedürftigen wurde dementsprechend gegen
geringere Honorare behandelt.

Im Laufe der vergangenen gut 130 Jahre wurde dieser Sozialversicherungsschutz
von Politikern auf 90 Prozent der Bevölkerung ausgedehnt. Trotz zunehmender
Einkünfte der Menschen meinte man, daß es immer mehr Schutzbedürftige gebe.

Privilegiert sind nicht die Privatpatienten, denn sie müssen den vollen Preis
für ihre Behandlung bezahlen. Privilegiert sind die Kassenpatienten, denn sie
bzw. ihre Krankenkassen zahlen deutlich weniger.

Sach- und Dienstleistungen müssen für alle den gleichen Preis haben. Das
Einkommen oder die Art der Erwerbsarbeit darf nicht darüber entscheiden, ob
man sich gesetzlich versichern muß oder privat versichern darf.

Das ist meine Sicht der Dinge.

Beste Grüße und ein schönes Wochenende
Wolfgang




-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: ag-gesundheitswesen-bounces AT lists.piratenpartei.de
[mailto:ag-gesundheitswesen-bounces AT lists.piratenpartei.de] Im Auftrag von
syna
Gesendet: Mittwoch, 10. Juni 2015 22:46
An: ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de
Betreff: Re: [AG-Gesundheit] Privates Gesundheitssystem?

Hallo Wolfgang,

los geht's:

Wolfgang Gerstenhöfer schrieb:
> Der Staat, die Politik entwickelt sehr schnell ein Eigenleben. Politiker
> sind nun einmal nicht die besseren Bürger und schon gar nicht die
> besseren Unternehmer. Sie neigen grundsätzlich dazu, daß Geld anderer
> Menschen leichtfertig auszugeben und Beschlüsse zu fassen, die andere
> "ausbaden" müssen und für die sie letztendlich keine Verantwortung zu
> übernehmen brauchen.
>
> Ich vertraue daher mehr auf die liberale und damit soziale
> Marktwirtschaft mit einem starken Staat, der die Rahmenbedingungen für
> einen funktionierenden Wettbewerb setzt und deren Einhaltung
> beaufsichtigt, und nicht auf einen Staatsmonopolkapitalismus oder eine
> Zentralverwaltungswirtschaft.
>
> Ich möchte weder eine DDR 2.0 noch einen "Wilden Westen".

Gute Argumente, da ist was "dran".

Wolfgang Gerstenhöfer schrieb:
> Und dabei gilt für mich: Lieber wenige Marktmechanismen als gar keinen
> Markt. Natürlich bedarf es im Bereich der Krankenversicherung einer
> gewissen Regulierung, aber die muß nicht bei 100 Prozent und vor allem
> nicht ausschließlich in den Händen von Politikern und Beamten liegen.
>
> Denn trotz der weitgehend zu recht bestehenden starken Regulierung der
> heutigen privaten Krankenversicherung funktioniert der Wettbewerb mit
> Blick auf die Verwaltungskosten (Wirtschaftlichkeit) und den
> Kundenservice, aber auch im Hinblick auf einen verantwortungsvollen
> Umgang mit den Leistungsausgaben, mit dem Geld der
> Versichertengemeinschaft.
>
> Die Versicherten müssen als Kunden (Service), als Patienten (Qualität)
> und als Beitragszahler (Wirtschaftlichkeit) geschützt werden, und das
> funktioniert nach meiner Überzeugung am besten mittels der
> Marktmechanismen einerseits und einer materiellen Staatsaufsicht unter
> Beteiligung aller Akteure des Gesundheitswesens andererseits. (Du siehst,
> der Staat hat bei mir auch eine Funktion.)

Na, so weit auseinander liegen wir nicht.

*Zunächst* ist mein größtes Anliegen die Aufhebung der "Dualen
Vergütung". Das
würde mit Deinen Vorstellungen ebenfalls gelingen. Insofern könnte ich
mir Dein
System einer regulierten kapitalgedeckten Krankenversicherung schon
vorstellen.

Wenn man sieht, wie die öffentliche Hand den Bau des Berliner Flughafens
organisiert,
da erschleichen einen schon die Zeifel bezüglich "öffentlicher
Unternehmungen".
Aber wenn ich sehe, welche Vorgänge innerhalb der Deutschen Bank ablaufen
- ca.
7000 (!) Gerichtsverfahren wegen übler Machenschaften sind dort anhängig
- ja
dann sieht man, dass auch private Unternehmen sehr tief im Sumpf stecken
können.

Könnte es sein, dass es nicht so sehr darauf ankommt, ob eine Unternehmung
staatlich oder privat organisiert ist, sondern dass es darauf ankommt,
welche Leute
an der Spitze stehen? Wie also das Management ist?

Vielleicht ist die Aufteilung in "staatlich" oder in "privat" gar nicht so
entscheidend?

---------------------------------------------------------------------------------

*Es gibt* auch vorbildlich gemanagte staatliche Unternehmungen, z.B. die
ehemalige
Bank der Bahn, heute ist das die genossenschaftliche Sparda-Bank. Und es
gibt
natürlich gut gemanagte staatliche Unternehmen.

Richtig ist leider - für staatliche Organisationen: "Sie neigen
grundsätzlich dazu, das
Geld anderer Menschen leichtfertig auszugeben und Beschlüsse zu fassen,
die andere
'ausbaden' müssen". D.h. die Übernahme verbindlicher Verantwortung ist
gering
ausgeprägt. Das Lavieren und "Schuld von sich schieben" dagegen schon
häufiger
zu finden.

Deshalb muss man der Führung eines solchen Unternehmens regelmäßig auf
die Finger
schauen, deren Personalpolitik ansehen (wen stellen die ein?) - und
rechtzeitig
Veränderungen vornehmen. Das muss die Politik in den entsprechenden
Ressorts mit
der entsprechenden Kompetenz tun. Dies bleibt immer ein Nachteil von
staatlichen
Unternehmen.

Bei privaten Unternehmen dagagen übernimmt quasi der Markt die
Aufsichtsfunktion:
Es (einerseits der Aufsichtsrat, aber letztendlich) der Markt, der
Mißmanagement bestraft.

*Aber auch* private Unternehmen haben - wie ich schon sagte - bestimmte
Nachteile: Bei
allen Entscheidungen und allem Tun steht immer die Gewinnmarge im
Vordergrund. Das
ROCE muss ja spätestens bis zur nächsten Hauptversammlung wieder
angehoben
worden sein. D.h. ethische oder ökologische Wert haben bei allen
Entscheidungen einen
sekundären Charakter. Und bei einer Krankenversicherung sollten nun mal
gerade ethische
Grundsätze nicht an zweiter sondern an erster Stelle stehen.

Nun, das hatten wir alles schon. Aber wie gesagt: Die Lösung ist nicht
Stein gemeißelt,
und vielleicht ist Dein Vorschlag gar nicht schlecht. Jedoch: Den
Sozialausgleich
ausschließlich via Steuern bzw. über ein BGE zu realisieren ist
mindestens anspruchsvoll.

Noch kurz zu Deinen weiteren Einwürfen:

Wolfgang Gerstenhöfer schrieb:
> Solidarität der derzeitigen Privatversicherten:
> Sie finanzieren die gesetzliche Krankenversicherung auch noch über den
> Teil ihrer Steuern, die in den Gesundheitsfonds fließen und den
> Krankenkassen zugewiesen werden.

Der Steueranteil, der im GKV-Gesamtbudget steckt, ist zu vernachlässigen,
denn
er macht (in 2009 beispielsweise) gerade mal 2,7% aus. (Gesamtausgaben
2009 GKV:
175 Mrd. €, Steuerzuschuss 2009: 4 Mrd. €). Heute dürfte der
Steueranteil noch
niedriger liegen - er ist vom Betrag her vernachlässigbar.

Es ist genau umgekehrt: Die Private Krankenversicherung ist ein System,
welches
Jahr für Jahr mit 9,7 Milliarden Euro (Stand 2009 - heute einiges Mehr)
von den
Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung subventioniert wird. Das
ist nämlich
der Betrag, den die privat Versicherten in das Solidarsystem zahlen
müssten, würden sie
sich wie die gesetzlichen Kassen beteiligen. Sie ist eine Art
Steuerschlupfloch für Reiche in
der Krankenversicherung und müsste genauso konsequent dichtgemacht werden
wie
andere Steuerschlupflöcher.

Wolfgang Gerstenhöfer schrieb:
> BVerfG, 1 BvR 706/08 vom 10. Juni 2009:
> Den Gesetzgeber trifft eine Beobachtungspflicht im Hinblick auf die
> Folgen der Gesundheitsreform 2007 für die Versicherungsunternehmen und
> die bei ihnen Versicherten. (Diese Beobachtungspflicht dient dem Zweck,
> die Grundrechte der Privatversicherten und der privaten
> Krankenversicherer zu wahren.)

Natürlich müssen die Grundrechte der Privatversicherten gewahrt werden.
Schließlich
müssen ja die Grundrechte aller Bürger gewahrt werden.

Das schließt aber /nicht/ die Abschaffung der PKV - ein gerechtes
Überführungsgesetz
vorausgesetzt - aus. Das könnte beispielsweise so aussehen, dass alle PKV-
Versicherten in ihrer Versicherung bleiben können, ihre Rückstellungen
also ganz
für sich behalten. Nur den GOÄ müsste man an die neue Gebührenordnung
anpassen.
Und Neuversicherungen wären z.B. nur über die neue Bürgerversicherung,
die neuen
Versicherungsvereine o.ä. möglich. ... das ließe sich alles gut regeln.

Grüße, Syna.
--
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