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ag-gesundheitswesen - Re: [AG-Gesundheit] Die PKV muss abgeschafft werden!

ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de

Betreff: AG Gesundheit

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Re: [AG-Gesundheit] Die PKV muss abgeschafft werden!


Chronologisch Thread 
  • From: syna <syna AT news.piratenpartei.de>
  • To: ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de
  • Subject: Re: [AG-Gesundheit] Die PKV muss abgeschafft werden!
  • Date: Tue, 13 Dec 2011 13:36:09 +0000
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-gesundheitswesen>
  • List-id: AG Gesundheit <ag-gesundheitswesen.lists.piratenpartei.de>
  • Organization: Newsserver der Piratenpartei Deutschland - Infos siehe: http://wiki.piratenpartei.de/Syncom/Newsserver


K K schrieb:
Guten Morgen!

Ich würde immer noch auf die angekündigte Erläuterung vom:
2. Erheblichen Fehlallokationen in fast jedem Fachbereich.
3. Schlechteren Forschungsleistungen in der Medizin.
4. Uneffizienten duale Strukturen (doppelte Facharztschiene, Drehtürmedizin) - nur zum Wohle
der Privatversicherten.*
... Warten. Kommt da noch was? Vokalem Punkt 3 wäre interessant und bei Punkt 4 va was will mir die doppelte Schiene sagen?(hier rein Verständnis)

Und dann eine weitere Frage in die Runde: Wie wären denn die Ideen gkv only oder pkv only mi dem noch nicht gebohrenen bge zu verbinden?

Bye ab zum "leben"
Klaus

Hallo Klaus,

sorry, wenn es etwas dauert, aber natürlich "kommt da noch was". Aber der Reihe nach - denn - es ist leider eine verflixt "komplexe Materie" - und trotzdem müssen wir darüber ja irgendwie kommunzieren, also komplexe Sachen nachvollziehbar darstellen ... wir haben also 3 Themen (2), (3) und (4):

*2. Erhebliche Fehlallokationen
3. Schlechteren Forschungsleistungen in der Medizin.
4. Uneffizienten duale Strukturen (doppelte Facharztschiene, Drehtürmedizin)*

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2. Erhebliche Fehlallokationen

Unter "Allokation" - das wissen wir ja alle - versteht man allgemein die Zuordnung von beschränkten Ressourcen zu potentiellen Verwendern. Im Krankenhaus sind die "beschränkten Ressourcen" die Spezialisten, die bei vielen ernsten Erkrankungen lebensentscheidend sind. Die "potentielle Verwender" sind die ernsthaft erkrankten Patienten. Und da gibt es PKV-Patienten und GKV-Patienten.

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Beispiel Fehlallokation
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Ein bekannter Spitzenchirurg einer deutschen Universitätsklinik operiert vor allem Leistenbrüche. Und zwar obwohl er sich auf Bauchspeicheldrüsenkrebs spezialisiert hat. Statt nun alle Fälle mit Bauchspeicheldrüsenkrebs im Umfeld zu operieren – was zeitlich gut ginge, da die Krankheit nur selten ist – übernimmt er nur einen kleinen Teil davon und behandelt hauptsächlich Leistenbrüche. Operiert er einen Bauchspeicheldrüsenkrebspatienten der AOK, dann steigt sein persönliches Einkommen nicht um einen einzigen Euro. Operiert er stattdessen in der gleichen Zeit 5 Privatpatienten mit Leistenbruch, hat er zusätzlichen 3000 Euro verdient.

Dazu muss man wissen: Bauchspeicheldrüsenkrebs ist eine aggressive Krankheit, 90% überleben das erste Jahr nicht. Bei einem Eingriff durch einen erfahrenen Operateur ist die Sterbewahrscheinlichkeit direkt nach dem Eingriff nur halb so groß (5,8%) wie bei Patienten, die von wenig erfahrenen Ärzten operiert werden (12,9%).

Die knappste Ressource in unserem Gesundheitssystem, die Zeit der Superspezialisten, wird oft für Trivialeinsätze verschwendet, damit diese Leute gut verdienen und die Privilegierten zu jedem Zeitpunkt die bestmögliche Versorgung genießen. Diese Fehlallokation ist in fast jedem Fachbereich. Es ist also kein marginales Problem, das mal auftritt. Nein es ist die Regel - und führt zu erheblichen Verzerrungen und Ineffizienzen des Gesundheitssystems.

Die Spezialisten verbringen einen überproportional großen Teil ihrer Arbeitszeit mit den Erkrankungen privat Versicherter, statt sich um die schweren Fälle aller Versicherten zu bemühen. Die Situation hat sich noch verschlechtert, seit die privaten Krankenversicherungen verlangen, dass der liquidierende Spezialist die Leistung auch selbst erbracht haben muss, um abzurechnen, während in der Vergangenheit oft die Arbeit von weniger qualifizierten Ärzten durchgeführt werden konnte, und der Spezialist sie nur abgerechnet hat. Man stelle sich vor, dass die besten Hochschullehrer nur die Kinder von Beamten oder Einkommensstarken unterrichten würden (eine Situation, von der wir aus anderen Gründen leider nicht weit entfernt sind). Die Spezialisten sollten besser bezahlt werden auf der Grundlage der Qualität ihrer Arbeit, nicht wegen des Anteils an Privatpatienten. Dieses System hat in der Zwischenzeit sogar die Forschungsleistungen der deutschen medizinischen Fakultäten deutlich reduziert, Spitzenplätze werden in fast keinem Bereich der klinischen Forschung mehr eingenommen (siehe dazu: Rothmund, M.: Die Stellung der klinischen Forschung in Deutschland im internationalen Vergleich, 1997, Dtsch. Med. Wschr. 122, 1358-1362. Adams J, Benchmarking international research. 1998, Nature 396, 615-
618. )

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Zusammenfassung Fehlallokationen
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Das heißt also: Die in allen Fachbereichen der Kliniken verbreitete Fehlallokation bedingt Ressourcenknappheit für GKV-Versicherte - und bedeutet damit mittelbar den Nicht-Zugang von GKV-lern zu Spezialisten, wenn es um Leben und Tod geht.

Wir sehen also: Die PKVen betreiben nicht nur ein höchst parasitäres Geschäftsmodell - nämlich dadurch, dass sie sich in keiner Weise an der Solidariät beteiligien. Die PKVen sorgen durch Fehlallokationen sogar für Ineffizienzen, Ressourcenverschwendung(!) und verwehren GKV-lern, die ja die Solidarität bezahlen (!), in besonders ernsten Fällen die adäquate Behandlung durch Spezialisten.

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3. Schlechteren Forschungsleistungen in der Medizin.

Das klingt oben (Punkt 2 Fehlallokationen) ja schon ein bißchen an. Die Zweiklassenmedizin ruiniert die Forschung, weil zu viele Spezialisten nach Abschluss ihrer extrem aufwändigen Ausbildung aus der Forschung aussteigen und sich der Behandlung von Privatpatienten widmen. Denn mit der Forschung alleine kann an einem deutschen Universitätskrankenhaus nicht viel Geld verdient werden. Wirbt der klinische Forscher in großem Umfang Drittmittel von der Industrie ein, geht das Geld komplett an die Klinik, für ihn bleibt nichts. Beansprucht er einen Teil der Mittel für Tätigkeiten außerhalb des engen Forschungsvorhabens, läuft er Gefahr, wegen Korruption angeklagt zu werden. Viele ziehen sich deshalb zum Zeitpunkt der Berufung weitgehend aus der aktiven Forschung zurück, behandeln Privatpatienten, werden einigermaßen vermögend und bewerten die Ergebnisse der Forschungsgruppen im Ausland, ohne selbst etwas dazu beizutragen.

Keine Ausnahme, geradezu typisch ist der deutsche Universitätsprofessor, der seinen Kollegen für ein Honorar der Pharmafirma die Forschungsergebnisse aus den USA erklärt und somit eine Art Marketing-Galionsfigur der Firma darstellt. Im Fachjargon wird von einem habilitierten „Mietmaul“ gesprochen. Es ist so peinlich wie traurig, wenn man erleben muss, dass viele hochdotierte deutsche Universitätsprofessoren nur bei den sogenannten Satellitensymposien der internationalen Fachkongresse eine Rolle spielen. Dabei handelt es sich um Marketingveranstaltungen der Pharmafirmen, die parallel zum eigentlichen wissenschaftlichen Programm ablaufen.

Der Verlierer dieses Systems ist der gesetzlich Versicherte – und die gesamte Gesellschaft durch den Niedergang der klinischen Forschung. Dabei wird fast die gesamte Infrastruktur der Universitätskliniken von Beitragszahlern der Gesetzlichen Krankenversicherung und aus Steuermitteln bezahlt. Stärker als alle andere profitieren davon die zehn Prozent privat Versicherten, für die wir in Deutschland die aufwändigste Therapie weltweit vorhalten.

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4. Uneffizienten duale Strukturen (doppelte Facharztschiene, Drehtürmedizin)

Drehtürmedizin ... was ist das eigentlich?

Jeder bemerkte wahrscheinlich schon, dass der Eingang von großen Kliniken (allerdings auch von Einkaufszentren oder Kaufhäusern) durch Drehtüren ausgeführt ist. Diese sind die Metapher für die "Drehtürmedizin", die ich hier prägnant beschreiben möchte:

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Der gesetzlich Versicherte bemerkt Blut im Urin und geht zum Urologen. Es wird Prostatakrebs festgestellt. Der niedergelassene Urologe überweist an die örtliche Klinik. Der Patient hat keine Ahnung, dass bei einer Prostataoperation viel davon abhängt, wie oft die Klinik den Eingriff vornimmt und wie stark der Operateur spezialisiert ist. Verschiedene Studien zeigen, dass Männer seltener unter Inkontinenz und Impotenz leiden und schneller aus dem Krankenhaus entlassen werden können, wenn die Prostata von einem auf diesem Gebiet erfahrenen Urologen entfernt wird. Amerikanische Fachgesellschaften empfehlen deshalb 55 Eingriffe pro Jahr und Krankenhaus – eine Quote, die in Deutschland nur ein Viertel der Kliniken, die Prostataoperationen durchführen, auch erreichen. Vielmehr werden in Deutschland die Fälle so gut auf die Krankenhäuser verteilt, als ob die Forschung bewiesen hätte, dass die Ergebnisse der Operation um so besser wären, je weniger Erfahrung der Chirurg mit dem Eingriff hat.

Gibt es Komplikationen, beispielsweise unkontrollierten Harnabgang, dann geht der Patient zurück zu seinem niedergelassenen Urologen. Dieser versucht jetzt, das Problem in den Griff zu kriegen. Er hat die Operation allerdings nicht durchgeführt, er kennt den Verlauf des Falls nur aus der Akte, die er oft erst mit wochenlanger Verspätung bekommt. Er fühlt sich für die Folgekrankheit vielleicht gar nicht verantwortlich, während der Operateur den Fall ganz aus den Augen verliert. Die niedergelassenen Ärzte, etwa ein Röntgenarzt, der Urologe und ein Spezialist für Innere Medizin besprechen den Fall niemals gemeinsam, sie tauschen nur Akten aus. Richtig zuständig fühlt sich niemand, bestenfalls der Hausarzt, der aber mit solchen Fällen noch die wenigste Erfahrung hat.

In den USA, den skandinavischen Ländern und den Niederlanden würde der Fall anders ablaufen. Die Behandlung würde in der Regel in einem Zentrum für Prostatakrebs durchgeführt, die Komplikationsrate fiele dort wahrscheinlich niedriger aus. Diese Versorgung durch Spezialisten aus einer Hand hat sich nicht nur als besser, sondern auch als kostengünstiger erwiesen.

Sie steht aber in Deutschland ausschließlich dem privat Versicherten zur Verfügung, weil sie die Ärzte frei auswählen können und die Fachleute sie gerne behandeln. Im Fall von Komplikationen können sie daher auch nach dem Eingriff von dem Arzt ambulant weiterbetreut werden, der sie operiert hat.

Der gesetzlich Versicherte Patient wird dagegen nach Auftreten einer Komplikation „durch das System gereicht“. Dabei gerät er an Ärzte, die mit Fällen wie seinem keine oder wenig Erfahrung haben. Ist seine Behandlung aufwändig und durch die Budgets des niedergelassenen Arztes nicht gedeckt, so überweist man ihn phasenweise in das Krankenhaus zurück. Die Drehtürmedizin beginnt: Anlässlich einer jeden Verschlechterung seines Leidens wechselt er vom niedergelassenen in den stationären Bereich und wieder zurück.

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Uff - viel Text, ich hoffe auch verständlich. Wer hier nur den letzten Satz liest: Es lohnt sich,
alles zuvor zu lesen, wirklich.

Grüsse, Syna.




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