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ag-gesundheitswesen - Re: [AG-Gesundheit] Antrag Gesundheitsreform in HH

ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de

Betreff: AG Gesundheit

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Re: [AG-Gesundheit] Antrag Gesundheitsreform in HH


Chronologisch Thread 
  • From: syna <syna AT news.piratenpartei.de>
  • To: ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de
  • Subject: Re: [AG-Gesundheit] Antrag Gesundheitsreform in HH
  • Date: Mon, 10 Sep 2012 10:49:27 +0000
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-gesundheitswesen>
  • List-id: AG Gesundheit <ag-gesundheitswesen.lists.piratenpartei.de>

Wolfgang Gerstenhöfer schrieb:
Hallo Syna,

vielen Dank für Deine Ausführungen.

Hallo Wolfgang,

da ich nicht jeden Tag Zeit habe, hier ins Forum zu blicken, dauert es
immer ein bißchen, bis ich ein Feedback geben kann. Du sprichst so viele
Themen an, ich beschränke mich da mal auf einige wichtige:

1. Einkommensunabhängige Finanzierung Gesundheitswesen
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Warum soll das nicht auch zwischen Anbietern von Gesundheitsleistungen und den Nachfragern, also den Patienten funktionieren? Muß das wirklich der Staat, müssen das wirklich Politiker machen? Können das entsprechende Interessenvertretungen/Verbände/Organisationen nicht viel besser machen?

Ja, das muss der Staat - in Form einer vom Staat bzw. von den Politikern
eingesetzten Kommission machen.

Denn eine Erfahrung kann man fast immer auf dem freien Markt erneut
erleben: Auf dem freien Markt wird jede Anbieterdominanz auch ziemlich
gnadenlos ausgenutzt und ausgereizt. Deshalb ist diese Gefahr des
Ausnutzens und Mißbrauchs gerade in so einem sensiblen und für den
gesellschaftlichen Konsens wichtigen Bereich wie der Gesundheit groß.
Das heißt: Wir brauchen hier eine rigorose Regulierung, eine Festsetzung
der Erhebung der Finanzen.

Wir sehen z.B. in der Regulierung der Pharma-Preise, mit welchen Tricks
und Ösen da gearbeitet wird - jede gesetzliche (Teil-)Regelung sofort
unterlaufen wird. In Deutschland sind Medikamente am teuersten. Warum
wohl?

Im Bereich der Finanzierung von Gesundheit haben wir mit unserem
derzeitigen dualen System ein wirklich extreme Schlagseite - und gerade
die PKVen sagen auf der einen Seite immer das hohe Lied des "freien
Marktes" auf, wenn es aber um die Rückstellungen geht, dann verweigern
sie sich diesem "freien Markt" - da wird dann wieder gemauert bis zum
Exzess. Eine ziemlich leidig unselige Szenerie!

Jede Mini-Regelung - und das zeigt die Historie - führt immer zu
Umgehungen, Anpassungen - und ändert nicht wirklich etwas. Das ganze
Hin- und Her mit Gesundheitsfonds, Zuzahlungen,
Zusatzbeitragsregelungen - ein Feilschen um Regelungen - und es wird
immer komplizierter. Das GKV-Finanzierungs-gesetz von Rösler 2011: Wer
versteht es eigentlich noch?

Deshalb: Wie man es auch wendet und betrachtet: Der beste Weg ist der
zu einer Kasse (oder mehreren Kassen) mit progressiv
einkommensabhängiger Finanzierung für alle Bürger - oder sogar mit
vollständiger Steuerfinanzierung. Dann sind alle in gerechter Weise
beteiligt und keiner kann sich der solidarischen Finanzierung entziehen.

Mir ist schon klar, daß dies nicht von dem einzelnen Patienten mit seinem
Arzt im konkreten Krankheitsfall gemacht werden kann.

Ja, siehe oben: Die Anbieterdominanz bedeutet: Wir
müssen - ausnahmsweise - diesen Bereich regulieren. D.h. der Arzt soll
bei seinem Tun und Behandeln nicht seine Brieftasche und seine Finanzen
im Fokus haben, sondern das Heil des Patienten. Dafür trat er einmal sein
Studium an, und so sollte es auch bleiben.

Deshalb muss es so sein, dass der Arzt nicht seine Bezahlung fürchten
muss, sondern dass er z.B. Angestellter einer Polyklinik oder einer
staatlichen Einrichtung ist.

Wann bekommen wir denn dann einkommensabhängige Preise in anderen Branchen?
....
Wollen wir also demnächst auch die gesamte Lebensmittelbranche - vom
Landwirt bis zum Einzelhändler - staatlich regeln? Wer bekommt was zu
welchem Preis? Am besten auch einkommensabhängig. Warum müssen
Menschen mit geringem Einkommen für ein Brot den gleichen Preis
bezahlen wie Menschen mit hohem Einkommen?

Und wie ist das mit der Energiebranche? Strom, Gas, Wasser?

Naja, lieber Wolfgang , das ist ein bißchen das
Totschlagsargument. I.A. ist der freie Markt schon das Effektivste - aber
nur wenn alle Marktteilnehmer auf Augenhöhe verhandeln. Dies ist bei
Monopolbildungen nicht mehr der Fall. Es ist bei "natürlichen Monopolen"
von Anfang an nicht der Fall. Und das ist im Gesundheitswesen zwischen
Leistungsanbietern und Patienten erst recht nicht der Fall. Deshalb finde
ich: Immer schön unterscheiden: Was für einen "Markt" haben wir da? Und nicht
den Teufel an die Wand malen.

2. Kostenbewusstsein des Einzelnen
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Außerdem wird dann das Kostenbewußtsein bei dem einzelnen
Versicherten völlig verschwinden, denn man hat überhaupt keinen
Überblick mehr, wie viel jedem einzelnen seine Gesundheitsversorgung kostet.

Nun ja, in der PKV stiegen in den letzten Jahren die
Kosten überproportional. Obwohl die Patienten da immer die Rechnung vor
Augen hatten und haben ... offenbar hat solches auf Kosten keine
Auswirkungen.

Was Du ansprichst, ist ja das Paradigma des "moral hazard" - auf Deutsch
etwa "moralisches Risiko". Man postuliert, das soziale
Krankenversicherungen oder staatliche Gesundheitssysteme die
Versicherten bzw. Bürger zu einer Überinanspruchnahme von Leistungen
verführen.

Dabei ist schon die Grundlage von Alltagserfahrungen wenig einleuchtend,
unterstellt sie doch, dass die Inanspruchnahme med. Leistungen ein
erstrebenswerte Genuss sei, von dem die Menschen gar nicht genug
bekommen könnten. Diese Annahme kann man schon mit dem Hinweis auf
schmerzhafte Zahnbehandlungen, die lästige 24-Stunden-
Blutdruckmessung und den bitteren Genuss einer Bypass-OP oder gar
einer Chemotherapie als unrealistisch verwerfen. Wer geht schon gerne
zum Arzt oder lässt sich Pillen verschreiben, nur weil er befürchtet,
weniger Leistungen zu erhalten als die anderen Versicherten?

3. Versicherungsanbieter wechseln
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Und dann - ohne die Möglichkeit, den Anbieter von Versicherungsleistungen zu wechseln. Dann haben wir noch eine neue Anbieter-Dominanz im Gesundheitswesen.

Na, das ist ja heute bei den PKVen der Fall: Dadurch,
dass Rückstellungen nicht mitgenommen werden dürfen, kann die
PK-Versicherung praktisch nicht gewechselt werden. Und gerade die PKV
wehren sich mit Händen und Füßen dagegen, diese Regelung (der NICHT-
Mitnahme der Rückstellungen) auszusetzen. Was für eine Welt ...

4. Patient eingekeilt
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Der Patient also eingekeilt zwischen den Erbringern medizinischer
Leistungen, die er nicht beurteilen kann, einem Kostenträger, von dessen Leistungen er abhängig ist, und dem Gesetzgeber, der sowohl den Versicherungsschutz als auch die dafür zu zahlenden Steueranteile jederzeit verändern kann. ... Für mich ist das eine Horrorvision.

Ja, das hört sich in der Tat horrible an. Hoffentlich
atment der Patient überhaupt noch!

Aber ernsthaft: Das, was Du als "freiheitlich" und "ohne Zwänge" hier
posaunst, ist bei näherer Betrachtung aus meiner Sicht - im Bereich
Gesundheit - leider nur die Freiheit und Zwangslosigkeit der "best
Betuchten". Und es ist gleichzeitig ein Zwangskorsett und eine
existenzielle Benachteiligung aller anderen. Denn der Steuerausgleich hilft
da wenig; er macht aus mündigen Bürgern Bittsteller und bläht die
Bürokratie auf.

Deshalb glaube ich: Das Konzept der Piraten - eine gesetzliche
Kasse und solidarische Finanzierung - ermöglicht überhaupt erst mehr
Freiheit und mehr Gesundheit für alle Bürger:

*Mehr Freiheit für Ärzte: *Sie können sich - gemäß dem Hippokratischen Eid
- um die Gesundheit kümmern - und müssen nicht nach
Kassenzugehörigkeit, Einnahmestatus und Profitabilität ihrer Praxis
entscheiden.

*Mehr Freiheit für Patienten:* Sie werden - bei geringem Einkommen - nicht
von den Kosten erwürgt und haben trotzdem die volle Absicherung bei
ernsten Krankheiten. Kein Arzt, kein Zentrum weist sie ab, weil sie nicht
die "richtige" Versicherung haben.

Und jeder behält die Freiheit, sich zusätzlich abzusichern, weil er
unbedingt Ultra-Titan-Zahn-Füllungen braucht, weil er unbedingt ein
Khs-Einzelzimmer mit goldenem Wasserhahn braucht oder weil er
unbedingt zusätzlich ein Khs-Unterhaltungsprogramm benötigt.

Sodenn, beste Grüsse, Syna.




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