Zum Inhalt springen.
Sympa Menü

ag-gesundheitswesen - Re: [AG-Gesundheit] Antrag Gesundheitsreform in HH

ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de

Betreff: AG Gesundheit

Listenarchiv

Re: [AG-Gesundheit] Antrag Gesundheitsreform in HH


Chronologisch Thread 
  • From: Wolfgang Gerstenhöfer <wolfgang.gerstenhoefer AT gmx.de>
  • To: "AG Gesundheit" <ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de>
  • Subject: Re: [AG-Gesundheit] Antrag Gesundheitsreform in HH
  • Date: Thu, 6 Sep 2012 18:25:52 +0200
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-gesundheitswesen>
  • List-id: AG Gesundheit <ag-gesundheitswesen.lists.piratenpartei.de>

Hallo Syna,

vielen Dank für Deine Ausführungen.

Daß wir es im Gesundheitswesen mit einer Anbieter-Dominanz zu tun haben, ist mir durchaus bewußt.

Deshalb gehören auch entsprechende Schutzmaßnahmen zu meinem Konzept - z. B. eine (wieder) deutlich gestärkte Aufsichtsbehörde und ein Gemeinsamer Bundesausschuß, in dem einerseits alle Berufsgruppen des Gesundheitswesens gleichberechtigt und andererseits die Patienten und die Kostenträger vertreten sind und der beschließt, unter welchen Bedingungen welche Untersuchungen und Behandlungen medizinisch notwendig sind - unterstützt durch ein unabhängiges Institut und mit dem Ziel, die Leitlinienmedizin/evidenz-basierte Medizin auszubauen.

Mehr dazu fndet sich in meinem Konzept.

Anbieter-Dominanz muß doch nicht zwangsläufig bedeuten, daß der Staat bzw. Politiker darüber mehr oder weniger willkürlich entscheiden (können), welche Leistungen erbracht bzw. bezahlt werden, welche Beiträge/Steuern dafür zu entrichten sind und welche Preise/Einkommen bezahlt werden.

Wann bekommen wir denn dann einkommensabhängige Preise in anderen Branchen? Wann setzt der Staat dann auch andere Preise und Einkommen fest? Ist das das Ziel der Piraten?

Gesundheit ist wichtig. Klar. Lebenswichtig. Nahrung aber auch. Wollen wir also demnächst auch die gesamte Lebensmittelbranche - vom Landwirt bis zum Einzelhändler - staatlich regeln? Wer bekommt was zu welchem Preis? Am besten auch einkommensabhängig. Warum müssen Menschen mit geringem Einkommen für ein Brot den gleichen Preis bezahlen wie Menschen mit hohem Einkommen?

Und wie ist das mit der Energiebranche? Strom, Gas, Wasser?

Dann brauchen wir doch auch kein bedingungsloses Grundeinkommen zu fordern.

Besteht denn der Sinn dieses Grundeinkommens nicht gerade darin, daß sich jeder alles Notwendige leisten kann, um die soziale Freiheit zu haben, die anderen Freiheiten und Rechte dann auch tatsächlich nutzen zu können?

Dazu gehört dann eben auch, daß sich jeder eine Krankenversicherung leisten kann - einen Basisschutz, der mehr oder weniger dem Niveau der derzeitigen gesetzlichen Krankenversicherung entspricht.

Ich denke, daß gerade Deutschland ein sehr gutes Beispiel dafür ist, daß Tarifautonomie funktioniert. Es funktioniert grundsätzlich zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern.

Warum soll das nicht auch zwischen Anbietern von Gesundheitsleistungen und den Nachfragern, also den Patienten funktionieren? Muß das wirklich der Staat, müssen das wirklich Politiker machen? Können das entsprechende Interessenvertretungen/Verbände/Organisationen nicht viel besser machen?

Mir ist schon klar, daß dies nicht von dem einzelnen Patienten mit seinem Arzt im konkreten Krankheitsfall gemacht werden kann. Das habe ich auch nie gefordert. So realitätsfern bin ich nicht - ganz im Gegenteil.

Außerdem kann man doch nicht einfach, die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen außer acht lassen. Ein Konzept muß rechtlich auch durchsetzbar sein.

Eine Finanzierung der Krankenversicherung ausschließlich aus Steuern ist vielleicht möglich. Da es aber - meines Wissens - zweckgebundene Steuern nicht gibt, entscheidet der Gesetzgeber je nach Haushaltslage jedes Jahr neu über das Budget, das für die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung zur Verfügung steht. Ist das wirklich sinnvoll?

Außerdem wird dann das Kostenbewußtsein bei dem einzelnen Versicherten völlig verschwinden, denn man hat überhaupt keinen Überblick mehr, wie viel jedem einzelnen seine Gesundheitsversorgung kostet. Ist das wünschenswert? Welche Effekte wird das auslösen? Von Eigenverantwortung kann dann gar keine Rede mehr sein.

Werfen wir aber auch noch einmal einen Blick auf den Kostenträger, die Krankenversicherung oder Krankenkasse.

Wie wird sich eine Einheitskrankenkasse ohne jeden Wettbewerb auf Kundenorientierung, Service oder Wirtschaftlichkeit der Verwaltung auswirken? Schon heute ist - auch im Bereich der Krankenkassen - hin und wieder von der Servicewüste Deutschland die Rede und von zu wenig Kostenbewußtsein.

Und dann - ohne die Möglichkeit, den Anbieter von Versicherungsleistungen zu wechseln. Dann haben wir noch eine neue Anbieter-Dominanz im Gesundheitswesen.

Der Patient also eingekeilt zwischen den Erbringern medizinischer Leistungen, die er nicht beurteilen kann, einem Kostenträger, von dessen Leistungen er abhängig ist, und dem Gesetzgeber, der sowohl den Versicherungsschutz als auch die dafür zu zahlenden Steueranteile jederzeit verändern kann.

Für mich ist das eine Horrorvision. Das ist aber natürlich nur meine Meinung.

Piratige Grüße
Wolfgang

http://wiki.piratenpartei.de/Benutzer:Wolfgang_Gerstenh%C3%B6fer

----- Original Message ----- From: "syna" <syna AT news.piratenpartei.de>
To: <ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de>
Sent: Thursday, September 06, 2012 4:31 PM
Subject: Re: [AG-Gesundheit] Antrag Gesundheitsreform in HH


Wolfgang Gerstenhöfer schrieb:
Hallo Syna,

daß Du in vielen Punkten nicht meiner Meinung bist, ist mir durchaus klar.

Das ändert aber nichts an meinen Überzeugungen, vor allem ändert es nichts an dem, was ich für piratige Politik halte: Freiheit, Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und Eigenverantwortung und Solidarität im Sinne einer Hilfe zur Selbsthilfe, bei Bedarf auch durch den Staat/die Gemeinschaft.

Dein Ansatz bzw. der Ansatz der Antragsteller ist aus meiner Sicht einfach falsch.

Also lieber Wolfgang,

Deine Rhetorik hier ist wirklich gut, aber etwas verwirrend. Aus meiner
Perspektive betrachtet drehst Dich deadlock-artig in einer Endlossschleife
- wie so ein Brummkreisel: brumm-brummm .....

Du hast nämlich, ganz am Anfang Deiner Überlegungen, einen wichtigen
Unterschied, ein entscheidendes Faktum überrsehen: Das Faktum, dass
das Gesundheitssystem NICHT marktwirtschaftlich funktionieren kann.
Und zwar deshalb, weil wir da immer eine stringente Anbieterdominanz
haben.

---------------------------------
Anbieter-Dominanz
---------------------------------

Anbieter-Dominanz bedeutet, dass auf diesem "Markt" nicht auf
Augenhöhe verhandelt wird, sondern dass der Anbieter - hier der Anbieter
med. Leistungen - klar im Vorteil ist (das nennt man Informations-
Asymmetrie). Was heißt das?

*Beispiel:* Wenn Du Dir eine Waschmaschine, oder ein Auto, oder eine
Immobilie vielleicht kaufst, dann wirst Du wahrscheinlich ein Jahr zuvor
schon Angebote einholen, Kataloge durchblättern, verschiedene Objekte
besichtigen und auch Spaß dabei haben, einige Objekte auszuprobieren.
Du wirst dann irgendwann - nach langem Abwägen - entscheiden.

Wenn Du aber *ernsthaft erkrankst*, dann hast Du höchstwahrscheinlich
nicht Lust - und erst recht nicht die Kraft - Dich ein Jahr zuvor mit dem
Problem auseinanderzusetzen. Möglicherweise kannst Du nicht mehr gut
sehen oder nicht mehr autofahren, bist nicht mehr mobil - kannst Dich
also - selbst wenn Du wolltest und die Zeit hättest - gar nicht so genau
damit auseinandersetzen. Denn Dein Arzt oder Therapeut oder Operateur
wird Dir etwas erzählen, auf das Du vertrauen musst, weil Du es so
schnell nicht nachprüfen kannst. Je ernster Du erkrankt bist, je mehr bist
Du dem "System" ausgeliefert. Da gibt's dann keinen Markt mehr für Dich,
da ist dann nur noch Panik für Dich. Wahrscheinlich ist Deine Psyche
vollends damit ausgelastet, diesen "Schlag" überhaupt zu verarbeiten. Da
kannst Du mit den "Medizinanbietern" NICHT mehr auf Augenhöhe
verhandeln, Du musst ihnen und ihren Motiven (???) vertrauen! Das ist die
"Anbieterdominanz". Das ist KEIN Markt mehr!

Und weil es im Gesundheitswesen also *keinen Markt* gibt, muss die
Gemeinschaft - sprich der Staat - das alles für Dich so organisieren, dass
Du trotzdem gut aufgehoben bist. Dass Du bei einer ernsthafen
Krebserkrankung beispielsweise eben nicht nach Nennung Deiner
Krankenkasse von einem Universitätskrankenhaus schroff abgelehnt wirst.

*Das ist ein gaaanz wichtiger Punkt:* Aufgrund der Anbieterdominanz
können wir im Gesundheitswesen zwischen Patienten und
Leistungserbringern keinen Markt haben. Dieses "Marktgefasel", das ist
schlicht eine Illusion, eine seltsame Vernebelung.

Also Wolfang, vielleicht tritts Du ja etwas aus Deinem
Brummkreiselgefängnis heraus? Oder nicht?

Wolfgang Gerstenhöfer schrieb:
Die Piraten, die ansonsten so kritisch gegenüber dem Staat und auch gegenüber Politikern sind, sprechen sich als "Gesundheitspiraten" für die Schaffung eines staatlichen oder - schlimmer? - quasi-staatlichen Monopols aus.

Na, ich glaube, dass es doch ganz anders ist.

Wir Piraten definieren ja den Bereich des "Gemeinwesens" im Grunde neu:
Es gilt eine Linie zu ziehen, zwischen dem, was "gemeinschaftlich" also
staatlich zu organisieren ist, damit es allen zur Verfügung steht - und so
eigentlich erst Freiheit, Unabhängigkeit und Teilhabe für den Einzelnen
ermöglicht. Dazu gehören also:

BGE, ÖPNV, Bildung, die Wissensallmende, geistig-immaterielle Kulturgüter
usw. und auch: Die Gesundheitsversorgung.

Erst dadurch, dass dieses Allen - unabhängig von Abgaben oder
Einkommen - zur Verfügung steht, bilden sich ja Freiheit, Individualität,
Kunst, Software, Innovation usw. aus.

Und erst auf diesem "Unterbau" kann sich - so meine Überzeugung -
kompetitives und innovatives Unternehmertum ausbilden und gedeihen.
Und dies dann nach wohl regulierten, marktwirtschaftlichen Regeln. Das
ist für mich "piratig"!

Also Wolfgang: Beste Grüsse!

And get out of your humming-top jail!
--
AG-Gesundheitswesen mailing list
AG-Gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de
https://service.piratenpartei.de/listinfo/ag-gesundheitswesen





Archiv bereitgestellt durch MHonArc 2.6.19.

Seitenanfang