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ag-gesundheitswesen - Re: [AG-Gesundheit] Antrag Gesundheitsreform in HH

ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de

Betreff: AG Gesundheit

Listenarchiv

Re: [AG-Gesundheit] Antrag Gesundheitsreform in HH


Chronologisch Thread 
  • From: Wolfgang Gerstenhöfer <wolfgang.gerstenhoefer AT gmx.de>
  • To: "AG Gesundheit" <ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de>
  • Subject: Re: [AG-Gesundheit] Antrag Gesundheitsreform in HH
  • Date: Fri, 14 Sep 2012 21:35:35 +0200
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-gesundheitswesen>
  • List-id: AG Gesundheit <ag-gesundheitswesen.lists.piratenpartei.de>

Hallo Syna,

keine Ursache. Sehr gern geschehen. Trotzdem habe ich mich über Deine Anerkennung sehr gefreut.

Ein freiheitliches und zukunftsfähiges Gesundheitswesen ist eine Herzensangelegenheit für mich. Seit mehr als 20 Jahren engagiere ich mich dafür - in der einen oder anderen Form.

Ich hatte und habe immer noch die große Hoffnung, daß die Piratenpartei aufgrund ihrer Grundsätze die richtige Adresse ist, um dies in die politische Diskussion und auch in die Gesetzgebung einzubringen.

Die FDP hat leider auch hier - wie bei vielen anderen Themen - kläglich versagt und ist über Klientelpolitik nicht hinweggekommen. (Trotzdem muß ich gestehen, daß mir ihre Positionierung immer noch sympathischer ist als die der anderen im Bundestag vertretenen Parteien.)

Richtig ist, daß mein Vorschlag tatsächlich die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens, eines Bürgergelds, einer negativen Einkommensteuer oder wie auch immer wir das Kind nennen wollen voraussetzt.

Insofern bleiben auch meine Bedenken bestehen, und ich kann hier nur die große und herzliche Bitte formulieren, unser bei aller berechtigten Kritik und allen bekannten Schwächen an sich vorbildliches Gesundheitswesen nicht einem Zwangssystem sowohl im Bereich der Einnahmen (Beiträge) als auch der Ausgaben (Leistungen, Kostenträger, Leistungserbringer) zu opfern.

Piratig-liberale Grüße und ein schönes Wochenende
Wolfgang

Falls nicht mehr präsent:

Ja, ich bin Versicherungskaufmann und habe fast 25 Jahre für einen privaten Krankenversicherer gearbeitet - davon fast 20 Jahre in der Unternehmenskommunikation/Öffentlichkeitsarbeit.

Ja, ich bin ein leidenschaftlicher Verfechter der Marktwirtschaft, die aus sich heraus dank und mit Hilfe eines starken Staates, der die "Spielregeln" für alle Marktteilnehmer festlegt und für die nötige Transparenz und einen konstruktiven Wettbewerb und für die Einhaltung der Regeln sorgt, sozial und auch ökologisch ist und "Wohlstand für alle" bei größtmöglicher Freiheit ermöglicht. Fast alle Politiker - Anhänger und Gegner der Marktwirtschaft - behaupten immer wieder, wir würden in Deutschland in einer sozialen Marktwirtschaft leben. Deshalb muss es doch auch nicht verwundern, wenn nun viele Menschen glauben, dass diese Wirtschaftsordnung für die aktuelle Situation (Banken-, Finanz-, Wirtschafts-, Schulden- und Währungskrise) verantwortlich sei und Wachstum um jeden Preis ablehnen oder ihm zumindest skeptisch gegenüberstehen. Richtig ist - zumindest nach meiner Überzeugung -, dass wir schon lange nicht mehr in einer (sozialen) Marktwirtschaft leben, wie sie von Adam Smith mit seinem Buch "Der Wohlstand der Nationen" begründet, von Walter Eucken mit seinem Buch "Grundlagen der
Nationalökonomie", Wilhelm Röpke mit seinem Buch "Die Lehre von der Wirtschaft" und Milton Friedman mit seinem Buch "Kapitalismus und Freiheit" (z. B. mit dem Thema negative Einkommensteuer/Bürgergeld/bedingungsloses Grundeinkommen) aktualisiert bzw. verfeinert und von Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack versucht wurde, in Deutschland umzusetzen. Spätestens seit der 1. Großen Koalition von 1966 bis 1969 und der Verabschiedung des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft (StabG) vom 8. Juni 1967 [John Maynard Keynes lässt grüßen.] und dann der 1. sozialliberalen Koalition ab 1969 hat sich die Politik mehr oder weniger von der praktischen Umsetzung der sozialen Marktwirtschaft verabschiedet. Während auf der einen Seite Politiker versuchen, die besseren Unternehmer zu sein, haben sie ihre Aufsichtspflichten sträflich vernachlässigt und vor allem Konzernen freie Hand gelassen, die "Spielregeln" einseitig zu ihren Gunsten zu verändern. Von Markt, von Leistungswettbewerb, von Chancengleichheit, Transparenz und von Haftung und Verantwortung ("Eigentum verpflichtet") ist doch in vielen Bereichen längst nichts mehr zu sehen. Und in manchen Bereichen hat es sie noch nie gegeben - zum Beispiel im Gesundheitswesen, in dem das Geld in völlig falsche Bahnen gelenkt wird. Noch ist unser Gesundheitswesen weitgehend gut, aber im Verhältnis deutlich zu teuer und ineffektiv und gleichzeitig gibt es dort eine Menge schlecht bezahlter und überforderter Arbeitnehmer. Deshalb möchte ich mich mit den Piraten dafür einsetzen, die mittlerweile gern als Raubtierkapitalismus oder auch fälschlich als Neoliberalismus bezeichneten Missstände zu beseitigen und endlich eine (soziale) Marktwirtschaft in Deutschland einzuführen.

Ja, ich bin ein überzeugter Anhänger des Liberalismus und deshalb war seit fast 30 Jahren die FDP meine politische Heimat - eine Alternative hatte es für mich leider nicht gegeben. Den Liberalismus auf Wachstum, Schuldenabbau und stabile Finanzen zu verkürzen und der Mangel an Veränderungswillen haben mich dazu gebracht, im Oktober 2011 zu denen zu gehören, die den Grundstein für die Rhein-Erft-Piraten gelegt haben. Papier ist geduldig. Was nutzen die besten Programme, auch ein neues Grundsatzprogramm, wenn man noch nicht einmal den Eindruck hat, dass man sie auch umsetzen möchte? Als Liberaler wünsche ich mir aber, daß es irgendwann (wieder) eine Partei gibt, die den gesamten Liberalismus mit allen Aspekten - auch die soziale Komponente - abdeckt. Ich bin davon überzeugt, dass die Piraten gute Chancen haben, diese Partei zu werden. Dafür setze ich mich ein. Freiheit wird oft in "gute" Freiheiten (etwa die Meinungsfreiheit) und "schlechte" Freiheiten (vorrangig die Wirtschaftsfreiheit) eingeteilt. Freiheit ist jedoch unteilbar. Deshalb lehne ich auch Bindestrich-Liberalismen ab. Politische und wirtschaftliche Freiheit sind z. B. zwei Seiten derselben Medaille. Die eine gibt es auf längere Sicht nicht ohne die andere - wie es bisher meines Wissens alle sozialistischen und kommunistischen Experimente gezeigt haben.




----- Original Message ----- From: "syna" <syna AT news.piratenpartei.de>
To: <ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de>
Sent: Thursday, September 13, 2012 1:29 PM
Subject: Re: [AG-Gesundheit] Antrag Gesundheitsreform in HH


Hallo Wolfgang,

erstmal Danke für Dein Engagement hier. Ein paar Anmerkungen:

Wolfgang Gerstenhöfer schrieb:
Habe ich Deine folgende Ausführung so richtig verstanden, daß Du gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen bist? Das überrascht mich nun doch sehr!

"Denn der Steuerausgleich hilft da wenig; er macht aus mündigen Bürgern Bittsteller und bläht die Bürokratie auf."

Also: Dein Konzept geht davon aus, dass das BGE
realisiert wird. Dann wird bei Geringverdienern der Beitrag für eine
Krankenversicherung einfach aus dem BGE geleistet --> Und ja, das
könnte man so machen.

Das Problem ist aus meiner Sicht: In der praktischen Politik werden ja
Modelle nie so wie einst angedacht als Ganzes umgesetzt. Es gibt in der
Praxis nur kleine Stück-für-Stück Veränderungen im Spannungsfeld der
verschiedenen Interessengruppen. Da wird hier mal ein bißchen geändert,
dann wieder da usw. So ging es die letzten 20 Jahre in der
Gesundheitspolitik. Die Gefahr ist deshalb, dass so ein "Kopfpauschalen-
Modell" (=einkommensUNabhängiger Versicherungsbeitrag) erstmal ohne
BGE eingeführt würde, und das wäre wohl für viele Menschen ziemlich
fatal - gesellschaftlich desaströs.

In diesem Fall, so erinnere ich vage, schlugst Du mal einen
Steuerausgleich (Rösler-Lösung) vor. Genau darauf bezieht sich obige
Einschätzung, die Du zitierst:

*--->* "/Denn der Steuerausgleich hilft da wenig; er macht aus
mündigen Bürgern Bittsteller und bläht die Bürokratie auf./"

---------------------------------------------------------------------
BGE und Gesundheitsreform
---------------------------------------------------------------------

Meine Einschätzung bleibt eben deshalb so, weil die Einführung eines BGE
- so gut und fantastisch diese Idee auch ist - doch eher utopisch ist
(siehe calvinistisch geprägte Arbeitsethik usw.). Die Fortschritte im
Denken müssten extrem groß sein, um überhaupt die Idee eines BGE in
den real-praktischen politischen Fokus zu rücken.

Ganz anders sieht es mit einer Gesundheitsreform aus: Schon nach der
nächsten Bundestagswahl stehen da wahrscheinlich große Veränderungen
auf der Agenda. Und darauf gilt es sich - als Piratenpartei -
vorzubereiten. Und in ein solches Szenario passt eine Kopfpauschale dann
nicht hinein.

Wolfgang Gerstenhöfer schrieb:
Vielleicht hast Du mein Konzept nicht (mehr) richtig in Erinnerung, aber ich habe immer wieder den Eindruck, als ob Du davon ausgehen würdest, daß ich das derzeitige System der privaten Krankenversicherung präferieren würde. Das ist ganz und gar nicht der Fall.

Nein nein, lieber Wolfgang, ich glaube, ich habe Dein Modell schon ganz gut verstanden.
Ich liste hier Deine 8 Basis-Thesen (der Übersicht halber + so wie ich sie
verstanden habe) auf:

Zusammenfassung Modell "Wolfgang Gerstenhöfer"
------------------------------------------------

1. Umstellung von Umlageverfahren (GKVen) auf Kapitaldeckungsverfahren
(heutige PKVen). Grund: Demografie-Festigkeit (--> Bevölkerungspyramide).

2. Pflicht zur Versicherung (ähnlich KFZ-Versicherung) in einem
Basisversicherungsschutz (entspr. heutigem Leistungskatalog).

3. Alternativ zu (2) können höhere Vers.Schutz-Verträge gewählt werden.

4. (2) ist vertraglich fix, mit Kontrahierungszwang. Risikoprüfung bei
jedem Bürger, damit ein entsprechender Finanzierungs-Ausgleich
(Spitzenausgleich) zwischen den Versicherern möglich wird.

5. Rückstellungsbildung, Tariferhöhung nur einmal pro Jahr. Beitrag "soll"
aber möglichst konstant bleiben (dank Kapitaldeckungsverfahren).

6. Abschaffung der heutigen GKVen. Nur noch PKVen (Unternehmen mit
üblichen Steuer-, Wettbewerbs- und Tarifrechten).

7. Finanzierung: Jeder Versicherungsträger erhebt eigene,
einkommensUNabhängige Beiträge (entspricht einer Kopfpauschale, jedoch
variabel je nach Vers.Träger). In Kombination mit einem BGE.

8. Regulierung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), dessen
Kompetenz auf alle Vers.Träger erweitert wird (Tarife, Leistungen,
Qualität), und der in der Zusammensetzung erweitert wird (auch
Patienten-Vertreter, Parität).
------------------------------------------------

Ich denke, das sind Deine wichtigsten Thesen. Allerdings, meine Bedenken
bleiben bestehen.

Nix für ungut, Grüsse, Syna.
--
AG-Gesundheitswesen mailing list
AG-Gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de
https://service.piratenpartei.de/listinfo/ag-gesundheitswesen





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