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ag-gesundheitswesen - Re: [AG-Gesundheit] Die "Duale Vergütung" im Gesundheitswesen

ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de

Betreff: AG Gesundheit

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Re: [AG-Gesundheit] Die "Duale Vergütung" im Gesundheitswesen


Chronologisch Thread 
  • From: DS Lawfox <dslawfox AT googlemail.com>
  • To: AG Gesundheit <ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de>
  • Subject: Re: [AG-Gesundheit] Die "Duale Vergütung" im Gesundheitswesen
  • Date: Wed, 4 Jan 2012 02:25:16 +0100
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-gesundheitswesen>
  • List-id: AG Gesundheit <ag-gesundheitswesen.lists.piratenpartei.de>

><((((°>

Am 4. Januar 2012 00:48 schrieb syna <syna AT news.piratenpartei.de>:

Um Mißverständnisse auszuschließen, möchte ich nochmal betonen:

Die Probleme durch die duale Vergütungsstrukur - und der daraus
folgenden Einteilung in Billig-GKV-Patienten und PKV-Patienten - *sind
NICHT der Unmoral des Einzelnen geschuldet*! Sie sind stattdessen ein
Fehler im System.

Das habe ich versucht anhand der Beispiele (siehe Eingangs-Posting ganz
am Anfang) darzustellen.

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*Würde ein Spezialist sich weigern,* die trivial erkrankten privat
Versicherten zu bevorzugen, kämen diese Patienten nicht mehr in seine
Klinik. Die Klinik will und kann aber auf diese Einnahmen nicht verzichten.
Daher würde der kaufmännische Direktor bald den nötigen Druck aufbauen,
um den Spezialisten zum Einlenken zu bewegen. Die Zweiklassenmedizin
macht eben nicht nur den Chefarzt reich, sondern die ganze Klinik.

Da alle Chefärzte oder Professoren eines Krankenhauses von den
Privatpatienten profitieren, ist ein Kollege, der die Zweiklassenmedizin
ablehnt, eine *wirtschaftliche Gefahr* für das ganze System. Er
riskiert damit, von seinesgleichen erst gar nicht berufen oder eingestellt zu
werden. Schon bei der Besetzung eines Lehrstuhls spielt die Frage, ob
jemand Privatpatienten anzieht, eine große Rolle.

Ein genialer Wissenschaftler und Eigenbrötler, der die Patienten nicht
ausreichend hofiert, schmälert das Einkommen seiner Kollegen, weil er nicht
genug Private in die Klinik bringt und es dann an Überweisungen innerhalb
der Klinik fehlt. Deshalb wird er den Lehrstuhl wohl gar nicht erst
bekommen.

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Der spezialisierte Chirurg ...
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Weshalb interessieren sich die Spezialisten so für die
privat Versicherten und weniger für die komplizierten Fälle der gesetzlich
Versicherten?

Eine Spezialisierung dauert sehr lange. Ein Universitätsprofessor ist im
Durchschnitt 45 Jahre alt, wenn er seine Klinik bekommt. Dann hat er sich
gegen 98 Prozent der Kollegen seines Jahrgangs durchgesetzt.

Der Rat der Universitätsprofessoren oder ähnlich gut qualifizierter
Fachleute ist die wichtigste Ressource der modernen Medizin. Mehr als die
teuren Geräte und Arzneimittel zählen die Köpfe, die diese Arzeimittel
erforschen und richtig einsetzen. Das teuerste Röntgengerät ist nichts
wert, wenn der Arzt etwas auf dem Röntgenbild übersieht oder die
falschen Schlüsse daraus zieht. Ein Gramm Gehirn des Spezialisten kann
mehr helfen als eine tonnenschwere Strahlungskanone. Diese Fachärzte
können sich ihre Patienten aussuchen, es gibt immer mehr, als sie zu
behandeln vermögen.

Da sie nach Jahrzehnten der Ausbildung , in denen sie bei überragender
Leistung und größtem Fleiß nicht besser bezahlt werden wurden als alle
anderen, jedoch endlich gut verdienen wollen, müssen sie sich auf privat
Versicherte konzentrieren.

Ein Professor für Radiologie kann heute an einer Uniklinik noch immer über 5
Mio. Euro im Jahr einnehmen, wenn er seine Privatpatienten direkt
abrechnen darf. Jüngere Professoren haben in der Regel zwar schlechtere
Verträge, aber im Durchschnitt verdienen alle Chefärzte rund 280.000 Euro
im Jahr, die von großen Kliniken i.d.R. deutlich mehr.

Siehe dazu: Kienbaum Consultants International GmbH: Aktuelle
Kienbaumstudie: Vergütung von Führungskräften in Krankenhäusern 2005;
30.11.2006.

Das hohe Einkommen dieser Ärzte finde ich auch gerechtfertigt. Es
sind die Besten ihres Jahrgangs, und es ist für mich kaum einzusehen,
weshalb Manager, die den Börsenwert ihrer Firma halbieren, Höchstgehälter
kassieren, während voll austrainierte Spezialisten nur "mäßig" bezahlt
werden sollen.

Ungerecht ist allenfalls, dass die alten Verträge in der „Ackermann-Liga“
hauptsächlich Mediziner begünstigen, die international völlig unbekannt
sind und sich gegen die heutige Konkurrenz niemals durchgesetzt hätten.

Wirklich problematisch bleibt jedoch, dass das hohe Einkommen nur
zustande kommt, wenn Ärzte sich auf privat Versicherte konzentrieren. Die
Zweiklassenmedizin ist im heutigen System die Voraussetzung dafür, dass
Spezialisten in Deutschland gut bezahlt werden können:
*Eine groteske Situation. *Sie führt dazu, dass die Fachleute die am
schwersten erkrankten und auch medizinisch interessantesten Patienten
oft gar nicht sehen, weil diese zu 90% gesetzlich versichert sind.

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Leistenbruch versus Bauchspeicheldrüsenkrebs
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So behandelt ein mir bekannter Spitzenchirurg einer deutschen
Universitätsklinik vor allem Leistenbrüche, eine zwar völlig harmlose, aber
auch bei privat Versicherten recht häufige Operation. Daneben ist er auf
Bauchspeicheldrüsenkrebes spezialisiert. Bauchspeicheldrüsenkrebs ist eine
sehr aggressive Krankheit, die häufig im fortgeschrittenen Lebensalter
auftritt und eine hohe Mortalität aufweist: Neun von Zehn Patienten
überleben das erste Jahr nicht.

Quelle: Otte, M: Chronic pancreatis and pancreatic carcinoma in the
elderly. Schweizer Rundschau für Medizin Praxis 2005; 94 (22): 943-948.

Viele Patienten sterben bereits nach dem Eingriff. Wird
dieser von einem erfahrenen Operateur vorgenommen, ist die
Sterbewahrscheinlichkeit im ersten Jahr bei 5,8%. Bei Ärzten mit wenig
Erfahrung liegt die Sterbewahrscheinlichkeit dagegen mehr als doppelt so
hoch: 12,9% sterben noch im ersten Jahr.

Siehe dazu: Begg, C.B., Cramer, L.D., Hoskins, W.J., Brennan, M.F. (1998):
Impact of hospital volume on operative mortality for major cancer surgery.
Journal of the American Medical Association 1998, 280(20): 1747-1751.

Statt dass nun dieser Chirurg alle Fälle mit
Bauchspeicheldrüsenkrebs im Umfeld seiner westdeutschen Großstadtklinik
operiert – was zeitlich gut ginge, da die Krankheit eher selten ist –
übernimmt er nur einen kleinen Teil davon und behandelt hauptsächlich
Leistenbrüche. Operiert er einen Bauchspeicheldrüsenkrebspatienten der
AOK, steigt sein persönliches Einkommen nicht um einen einzigen Euro.
Operiert er stattdessen in der gleichen Zeit fünf Privatpatienten mit
Leistenbruch, hat er zusätzliche 3000 Euro verdient.

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Das nennt man "Fehlallokation"
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Die knappste Ressource in unserem Gesundheitssystem ist
*die Zeit* der chirurgischen Spezialisten. Diese Ressource wird oft für
Trivialeinsätze verschwendet, damit diese Leute gut verdienen – und damit
die Privilegierten (die 10% privat Versicherten!) die bestmögliche
Versorgung genießen.

Schwer erkrankte Privatpatienten lassen sich zunehmend von mehreren
Spezialisten untersuchen. Sie holen Zweitmeinungen von
Universitätsprofessoren aus Freiburg bis Hannover ein, um sich auf der
Grundlage mehrerer Diagnosen und Behandlungspläne für die optimale
Therapie entscheiden zu können. Gleichzeitig wird ein ähnlich erkrankter
gesetzlich Versicherter mitunter nicht einem einzigen wirklichen
Spezialisten vorgestellt.

Dies ist die schwerwiegendste Folge der „Dualen Vergütungsstruktur“: Eine
Fehlallokation von Ressourcen, die eine hanebüchene Benachteiligung
gesetzlich Versicherter nach sich zieht.




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