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ag-gesundheit-solidarier - [Ag-gesundheit-solidarier] Bürgerversicherung finanziert durch alle Einkommensarten

ag-gesundheit-solidarier AT lists.piratenpartei.de

Betreff: Sub-AG der AG Gesundheit der Piratenpartei Deutschland

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[Ag-gesundheit-solidarier] Bürgerversicherung finanziert durch alle Einkommensarten


Chronologisch Thread 
  • From: Marwyn <Marwyn AT news.piratenpartei.de>
  • To: ag-gesundheit-solidarier AT lists.piratenpartei.de
  • Subject: [Ag-gesundheit-solidarier] Bürgerversicherung finanziert durch alle Einkommensarten
  • Date: Sat, 14 Jan 2012 17:48:34 +0000
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-gesundheit-solidarier>
  • List-id: Sub-AG der AG Gesundheit der Piratenpartei Deutschland <ag-gesundheit-solidarier.lists.piratenpartei.de>
  • Organization: Newsserver der Piratenpartei Deutschland - Infos siehe: http://wiki.piratenpartei.de/Syncom/Newsserver


Auf Anregung von Rick

Rick schrieb:

Auf den letzten Teil Deines Posts möchte ich _hier_ nicht eingehen, sondern Dich ermuntern, einen *neuen* Thread hier im Unterforum "Solidarier" zum Thema "beitragspflichtige Einkommensarten" anzulegen. Dann läuft DIE Diskussion unter einer _passenden Überschrift_ und kann auch später noch 'mal wiedergefunden werden. ;)
Möchte ich in diesem Thema über die „beitragspflichtigen Einkommensarten“ diskutieren, bzw. über das in meinen grundlegende Finanzierungsproblem des Gesundheitswesens und wie eine solidarische Lösung aussehen könnte.

Im gegenwärtigen Entwurf für einen Antrag zur solidarischen Bürgerversicherung heißt es:
Die Parität in der Finanzierung der Bürgerversicherung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern ist wiederherzustellen.


Mit dieser Forderung würden sich die PIRATEN meines Wissens in Übereinstimmung mit dem DGB, der SPD und den Linken befinden. Genauso wie diese Parteien und Organisationen würden wir dabei den Fehler machen, auf eine echte Weiterentwicklung des Solidaritätsprinzips zu verzichten und stattdessen in einen Strukturkonservativismus verfallen. Die gegenwärtige Architektur der solidarischen Gesundheitsversorgung ist nicht mehr zeitgemäß, da sie den im Gesundheitswesen wirkenden Sachzwängen prinzipiell nicht gerecht wird. Soll das Solidaritätsprinzip – also die doppelte Solidarität von Besserverdienenden mit Einkommensschwachen und von Gesunden mit Kranken – in Zukunft erhalten bleiben, und nicht in immer neuen Spar- und Privatisierungsrunden untergehen, müssen „Solidarier“ ein zeitgemäßes Modell anbieten.
Im Folgenden möchte ich in Umrissen darlegen, warum eine Ausweitung der Finanzierungsbasis der GKV (oder auch der Bürgerversicherung) auf alle Einkommensformen notwendig ist (und warum dies das Ende des paritätischen Prinzips bedeutet).

Ausgangspunkt vieler „halbwissenschaftlicher“ Debatten zum Gesundheitswesen sind häufig die vermeintlich steigenden Kosten in diesem Sektor, die nach Sparmaßnahmen, Rationierungen oder auch Privatisierungen verlangen („Kostenexplosion“). Von solidarischer Seite wird hiergegen meist eingewandt, diese „Kostensteigerungen“ seien bei genauerer Betrachtung empirisch nicht feststellbar, die Deutschen geben nämlich – gemessen am pro Kopf verfügbaren Einkommen – kaum mehr für Gesundheit aus als vor 30 Jahren (zuletzt flossen rund 11 % des BiP in den Gesundheitssektor). Ursache für das Wachstum der GKV Beiträge bzw. Ursache für deren chronische Finanzschwierigkeiten seien, so die überwiegend linken Verteidiger des Solidaritätsprinzips, vielmehr die zurückbleibenden Einnahmen der GKVen infolge von Massenarbeitslosigkeit, niedrigen Lohnabschlüssen und des wachsenden Anteils von selbstständigem (und damit nicht-versicherungspflichtigen) Einkommens am Gesamteinkommen („Mythos Kostenexplosion“). – So weit, so gut.

Die im Prinzip richtige Feststellung, die Kosten seien tatsächlich nicht besonders gestiegen, verdeckt die wahre Dynamik im System allerdings eher, als sie aufzudecken. Man darf nicht vergessen, dass seit den 70er Jahren eine Sparrunde im Gesundheitswesen die nächste jagt, und wenn man eine Leistung budgetiert, sollte es niemanden wundern, wenn man hinterher nachrechnet und feststellt, dass die Kosten tatsächlich nur im Rahmen des zuvor festgelegten Budgets gestiegen sind. Die gemessen an der Entwicklung des BiP geringen Kostensteigerungen des Gesundheitswesens sind Ergebnis des Auspressens des Systems und vor allem der darin arbeitenden Menschen. Tatsächlich ist der Bedarf an Gesundheitsdienstleistungen erheblich gestiegen und die „Kosten“, die das System verursachen würde, wenn dieser Bedarf tatsächlich gedeckt und die Beschäftigten angemessen bezahlt würden, sogar noch mehr. Die Ursachen für diese Bedarfssteigerung sind vielfältig interessanterweise sind die häufig (auch im vorliegenden Antragsentwurf) genannten Folgen des demographischen Wandels und medizinischen Fortschritts hier eher unter „ferner liefen“ anzusiedeln: Entscheidender scheint der soziale Wandel, der Tertiarisierungsprozess, und die Chronifizierung von Krankheitsverläufen zu sein. (Ich hatte zu diesem Themenkomplex bereits im Jahr 2005 einen Artikel für den Freitag geschrieben, den ich hier noch einmal verlinke: http://www.freitag.de/politik/0548-aerztestreik-reformnot)

An dieser Stelle lohnt sich ein Blick in die Geschichte unseres Systems. Als die im Prinzip bis heute bestehende Struktur der Finanzierung nach dem zweiten Weltkrieg eingeführt wurde, ging man von zwei Annahmen aus: Erstens, dass die Lohnquote (Anteil der Löhne und Gehälter am gesamten Volkseinkommen, also die Finanzierungsbasis der GKV) weiter steigen würde. Das hatte sie im Prinzip seit Beginn der Industriealisierung immer getan und es gab keinen Grund für die Annahme, der Trend könne sich umkehren. Zweitens ging man davon aus, die Ausgaben für Gesundheit würden mit der Zeit immer weiter /sinken/, weil die Menschen ja dank des medizinischen Fortschritt immer gesünder würden. Unter diesen Bedingungen erschien es unproblematisch, die Finanzierung (vermeintlich schrumpfender) Kosten den (vermeintlich immer stärkeren) Schultern der abhängig Beschäftigten aufzubürden. Die Realität entwickelte sich genau andersherum: Die Kosten, bzw. der Bedarf nach Gesundheitsdienstleistungen, stieg immer weiter und seit den 70er Jahren sinkt die Lohnquote. Man sollte auch darüber nachdenken, welche Folgen es hat, zwei so gänzlich unabhängige Größen – Bedarf an G-Diensleistungen und das Einkommen aus abhängiger Beschäftigung – über einen Finanzierungsmechanismus miteinander zu verknüpfen: Fegt eine Grippewelle übers Land, steigt offensichtlich der Bedarf nach Leistungen, die Finanzierung verbessert sich aber keineswegs. Sieht man von solchen Einzelereignissen (die natürlich „querfinanziert“ werden können) ab, bleibt das Problem, das wirtschaftliche Prozesse und damit Finanzierungsfragen, sich unabhängig vom Bedarf entwickeln. Beispielsweise ist der Gesundheitssektor in seinen wesentlichen Bereichen Teil des Dienstleistungssektors, dessen Anteil am BiP seit Jahrzehnten kontinuierlich wächst („Tertiarisierung“). „Eigentlich“ d.h. ohne regulative Eingriffe, wäre eine solche Entwicklung auch im Gesundheitswesen zu erwarten und zu begrüßen – schließlich würden so Arbeitsplätze entstehen. (Noch dazu Arbeitsplätze mit überwiegend guter CO²-Bilanz und hoher unmittelbarer Wohlstandswirkung. Gibt es eine sinnvollere Art, unser Geld auszugeben, als für unsere Gesundheit? Problem ist nur, dass ohne regulative Eingriffe nicht jeder dieses Geld hat, und daher ein solidarischer Weg zur Finanzierung dieses Wachstums gefunden werden muss.) Letztlich muss jedem klar sein, dass es geradezu überraschend wäre, wenn sich zwei so unabhängige Größen wie das „Einkommen aus abhängiger Beschäftigung“ und „Bedarf an Gesundheitsdienstleistungen“ über längere Zeitspannen parallel entwickeln. Genau darauf baut das gegenwärtige Finanzierungsmodell aber auf.

Aus all diesen Überlegungen heraus sollte klar geworden sein, dass die sich öffnende Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben nicht im Rahmen des althergebrachten Finanzierungssystems geschlossen werden kann, auch nicht durch den Wegfall der Versicherungspflichtgrenze und die Ausdehnung der Versicherungspflicht auf alle abhängig Beschäftigten. Notwendig ist eine Verbreiterung der Finanzierungsbasis auf alle Einkommensformen, d.h. anstatt an das Einkommen aus abhängiger Beschäftigung geknüpft zu sein sollte die Finanzierung an die Entwicklung des gesamten BiP geknüpft werden: Die Einkommen aus selbstständiger Arbeit, aus Vermögen und die Unternehmensgewinne sollten ebenfalls herangezogen werden.

Das wirft für den Paritarismus nun eine Menge Probleme auf: Zum einen würden die Unternehmen „doppelt“ zur Kasse gebeten, einmal über den Arbeitgeberanteil, einmal über die Unternehmensgewinne. Hinzu kommt, dass Selbstständige ihren Beitrag zur GKV zu 100% selbst tragen müssten, Arbeitnehmer aber nur zu 50%, was letztlich aus Gerechtigkeitsgründen kaum zu vermitteln ist. Schließlich erscheint im Rahmen eines auf diese Art „rundumerneuerten“ Finanzierungssystems der Paritarismus als merkwürdiger „Zopf“, dessen Existenz nur der historischen Genese des Systems geschuldet ist.

Einer der wichtigsten Gründe, warum eine Ausweitung der Finanzierungsbasis zwar immer mal wieder diskutiert, aber nicht konsequent angegangen wird, liegt übrigens in den damit verknüpften Pfründen verborgen: Solange die GKVen paritätisch finanziert sind, sitzen in deren Verwaltungsräten neben den Arbeitgeber- auch immer Arbeitnehmervertreter, nämlich Gewerkschaftler. Deren Einfluss und Postenzahl dürften erheblich annehmen, wenn jede Menge andere Berufsgruppen die GKV mitfinanzieren und folglich mitreden wollen. Damit hat eine der Organisationen, die eigentlich am ehesten im Interesse Ihrer Mitglieder an einer Ausweitung der Finanzierungsbasis interessiert sein sollte, ein echten Interessenkonflikt.
Eine Quelle aus der SPD zur Bürgerversicherung mit verbreiteter Finanzierungsbasis:
http://www.karllauterbach.de/docs/Buergerversicherung.pdf

Soviel erstmal, mir schwirrt gerade etwas der Kopf …




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