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ag-gesundheit-solidarier - Re: [Ag-gesundheit-solidarier] Wichtigstes Thema: Abschaffung der PKV!

ag-gesundheit-solidarier AT lists.piratenpartei.de

Betreff: Sub-AG der AG Gesundheit der Piratenpartei Deutschland

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Re: [Ag-gesundheit-solidarier] Wichtigstes Thema: Abschaffung der PKV!


Chronologisch Thread 
  • From: syna <syna AT news.piratenpartei.de>
  • To: ag-gesundheit-solidarier AT lists.piratenpartei.de
  • Subject: Re: [Ag-gesundheit-solidarier] Wichtigstes Thema: Abschaffung der PKV!
  • Date: Thu, 15 Dec 2011 22:41:27 +0000
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-gesundheit-solidarier>
  • List-id: Sub-AG der AG Gesundheit der Piratenpartei Deutschland <ag-gesundheit-solidarier.lists.piratenpartei.de>
  • Organization: Newsserver der Piratenpartei Deutschland - Infos siehe: http://wiki.piratenpartei.de/Syncom/Newsserver


Whisp schrieb:
Hallo zusammen. Zu diesem Thema meine Meinung im Text ... (siehe oben)

Hallo Whisp,

erstmal Danke für Deine ausführliche Stellungnahme. Deine
"Zitiertechnik" ist etwas gewöhnungsbedürftig. Ich will gerne
auf 5 Deiner Gedanken kurz eingehen, ich hoffe, dass es übersichtlich
bleibt.

Also, los geht's:

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1. Leben oder Tod

Du sagst, "Lebensnotwendige OPs werden hierzulande
NIEMANDEM verweigert".
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Das ist der offizielle, formale Sprachgebrauch. In vielen Bereichen
ist die Behandlung von GKV-lern und PKV-lern auch wirklich fast
gleich gut. Es gibt aber Bereiche, entscheidende(!) Bereich, da ist
es nicht so - nicht so in der Praxis:

*In den USA *wurde schon früh durch wissenschaftliche Studien bewiesen, dass durch
Spezialisierungen die Überlebensraten von Patienten erheblich gesteigert werden können.
Dieser Zusammenhang zwischen Anzahl der Eingriffe (= Spezialisierung) und Mortalität konnte
mittlerweile auch in Deutschland nachgewiesen werden. Bei schwerwiegenden Krankenheiten
(also Krebsarten, Herzoperation usw.) ist die Überlebensrate entscheidend davon abhängig, ob
ein Spezialist die Operation durchführt oder ein Chirurg vom nächsten Dorfkrankenhaus.

Im Ernstfall kommt es daher in jedem Lebensalter darauf an, *Zugang zu einem Experten* (=
Spezialisten) zu haben. Um an einen guten Arzt oder eine gute Klinik zu gelangen, muss man
"shoppen" gehen. Das kann man aber in der Regel nur als privat Versicherter, weil der
Spezialist, wenn man ihn bei der mangelhaften Transparenz des Systems überhaupt findet,
sonst kein Interesse zeigt.

Wer glaubt, man könne auch als gesetzlich Versicherter persönlich bei den renommierten
Chefärzten einer Universitätsklinik vorsprechen, möge einfach mal den *Selbstversuch* starten.
Die erste und für neunzig Prozent der Anrufer auch letzte Frage des Sekretariats wird lauten,
ob man privat versichert sei. Muss man das verneinen, ist es in der Regel aus.

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Dazu ein aktuelles Mitglied des Bundestages (O-Ton): "Es vergeht kaum eine Woche, in der
ich nicht den Verwandten oder die Lebenspartnerin eines Politikers - sehr häufig auch aus
Fraktionen des Bundestags, die der Zweiklassenmedizin nicht kritisch gegenüberstehen - an
einen Spezialisten vermitteln soll, weil der oder die Betreffende "nur" gesetzlich versichert ist.

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2. Spezialisten

Du sagst, "Ein Spezialist muss selbstverständlich auch "Trivial OPs"
(Was auch immer das ist) durchführen. Zum einen, um in der Übung
zu bleiben, zum anderen um andere Ärzte auszubilden."
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Es geht weniger um marginale Probleme oder Einzelfälle, sondern um
ein Art *Fehlallokation*, die sich in großem Umfang in unserem Klinikalltag
eingebürgert hat. Das sieht fast überall so aus:

Ein bekannter Spitzenchirurg einer deutschen Universitätsklinik operiert vor allem
Leistenbrüche. Und zwar obwohl er sich auf Bauchspeicheldrüsenkrebs spezialisiert hat. Statt
nun alle Fälle mit Bauchspeicheldrüsenkrebs im Umfeld zu operieren – was zeitlich gut ginge,
da die Krankheit nur selten ist – übernimmt er nur einen kleinen Teil davon und behandelt
hauptsächlich Leistenbrüche. Operiert er einen Bauchspeicheldrüsenkrebspatienten der AOK,
dann steigt sein persönliches Einkommen nicht um einen einzigen Euro. Operiert er
stattdessen in der gleichen Zeit 5 Privatpatienten mit Leistenbruch, hat er zusätzlichen 3000
Euro verdient.

*Dazu muss man wissen:* Bauchspeicheldrüsenkrebs ist eine aggressive Krankheit, 90%
überleben das erste Jahr nicht. Bei einem Eingriff durch einen erfahrenen Operateur ist die
Sterbewahrscheinlichkeit direkt nach dem Eingriff nur halb so groß (5,8%) wie bei Patienten,
die von wenig erfahrenen Ärzten operiert werden (12,9%).

Die knappste Ressource in unserem Gesundheitssystem, die Zeit der Superspezialisten, wird
oft für Trivialeinsätze verschwendet, damit diese Leute gut verdienen und die Privilegierten zu
jedem Zeitpunkt die bestmögliche Versorgung genießen. Diese Fehlallokation ist in fast jedem
Fachbereich. Es ist also kein marginales Problem, das mal auftritt. Nein es ist die Regel - und
führt zu erheblichen Verzerrungen und Ineffizienzen des Gesundheitssystems.

Die Spezialisten verbringen einen überproportional großen Teil ihrer Arbeitszeit mit den
Erkrankungen privat Versicherter, statt sich um die schweren Fälle aller Versicherten zu
bemühen. Die Situation hat sich noch verschlechtert, seit die privaten Krankenversicherungen
verlangen, dass der liquidierende Spezialist die Leistung auch selbst erbracht haben muss, um
abzurechnen, während in der Vergangenheit oft die Arbeit von weniger qualifizierten Ärzten
durchgeführt werden konnte, und der Spezialist sie nur abgerechnet hat.

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3. Forschung

Du sagst, "Forschung läuft nur selten während der Arbeitszeit ab. I.d.r.
läuft dies NACH der Arbeitszeit... vor allem an Unikliniken. Das ist ein Punkt,
der zu ändern ist."
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Ist dieses "nach der Arbeitszeit" nicht etwas am Kernproblem vorbei? Es kommt
mir so vor, als sei es eher ökonomisch motivert. Denn mit der Forschung alleine kann an einem
deutschen Universitätskrankenhaus nicht viel Geld verdient werden. Und der Druck
an den Krankenhäusern, auch den Universitätskrankenhäusern, den die kaufmännischen
Direktoren dort ausüben, ist erheblich.

Wirbt der klinische Forscher in großem Umfang Drittmittel von der Industrie ein, geht das Geld
komplett an die Klinik, für ihn bleibt nichts. Beansprucht er einen Teil der Mittel für Tätigkeiten
außerhalb des engen Forschungsvorhabens, läuft er Gefahr, wegen Korruption angeklagt zu
werden. Viele ziehen sich deshalb zum Zeitpunkt der Berufung weitgehend aus der aktiven
Forschung zurück, behandeln Privatpatienten, werden einigermaßen vermögend und bewerten
die Ergebnisse der Forschungsgruppen im Ausland, ohne selbst etwas dazu beizutragen.

Keine Ausnahme, geradezu typisch ist der deutsche Universitätsprofessor, der seinen Kollegen
für ein Honorar der Pharmafirma die *Forschungsergebnisse aus den USA erklärt* und somit eine
Art Marketing-Galionsfigur der Firma darstellt. Im Fachjargon wird von einem habilitierten
„Mietmaul“ gesprochen. Es ist so peinlich wie traurig, wenn man erleben muss, dass viele
hochdotierte deutsche Universitätsprofessoren nur bei den sogenannten Satellitensymposien
der internationalen Fachkongresse eine Rolle spielen. Dabei handelt es sich um
Marketingveranstaltungen der Pharmafirmen, die parallel zum eigentlichen wissenschaftlichen
Programm ablaufen.

*Der Verlierer dieses Systems* ist der gesetzlich Versicherte – und die gesamte Gesellschaft
durch den Niedergang der klinischen Forschung. Dabei wird fast die gesamte Infrastruktur der
Universitätskliniken von Beitragszahlern der Gesetzlichen Krankenversicherung und aus
Steuermitteln bezahlt. Stärker als alle andere profitieren davon die zehn Prozent privat
Versicherten, für die wir in Deutschland die aufwändigste Therapie weltweit vorhalten.

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4. Ambulante Behandlung ist GKV-lern in der täglichen Praxis verwehrt.

Du sagst, "Das ist nicht korrekt. Ambulante Versorgung wird auch von
GKV Patienten durchgeführt."
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Naja, also - ich weiß ja nicht, ob Du die Praxis kennst ...

Wie ich schrieb: Dadurch, dass der PKV-Versicherte Zugang zu Klinikärzten hat, kann er sich
ambulant behandeln lassen. Für den GKV-ler kommt das praktisch nicht in Frage, die
Krankenhausfachärzte lehnen überwiegend GKV-ler ab. Es gab 2003 mal einen Eklat:

Um die Zusammenarbeit zwischen niedergelassenen und Krankenhausärzten für
Kassenpatienten zu verbessern, hat der Gesetzgeber 2003 den Kliniken erlaubt, die besonders
schweren Fälle gesetzlich Versicherter auch ambulant zu behandeln. Damit wollte man vor
allem die gesetzlich versicherten Krebspatienten schützen.

Die Härte der Abfuhr, die diesen Kranken von den Krankenhausfachärzten daraufhin erteilt
wurde, hat selbst Kenner der Szene überrascht. In ganz Deutschland wurde für weniger als 1 %
der betroffenen Patienten die entsprechende Behandlung beantragt. Es sei für sie unzumutbar,
ließen sie verlauten, von schwerstkranken Kassenpatienten überflutet zu werden, weil es sich
für sie nicht lohnen und ihnen die Zeit für Privatpatienten stehlen würde.

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5. Profiteure PKV-ler

Du fragst, "Was bedeutet das ."Zum Wohle der Privatpatienten?"
Wie profitiert derzeit ein Privatversicherter von einem GKV-Patienten?"
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Na, da weiß ich gar nicht, wo ich beginnen soll. Weil die negativen Auswirkungen der
dualen Bezahlung fast überall zu finden sind.

Etwa ein Drittel der Beiträge, die ein mittelgut verdienender in die GKV einzahlt, sind reine
Solidarbeiträge: Sie werden also dazu verwendet, dass Geringverdiener, Rentner und
Arbeitslose mit versichert sind.

Die Privatversicherten zahlen solch einen Solidarbeitrag gar nicht. Stattdessen erkaufen sie
sich im Gesundheitssystem eine bessere Behandlung: Kurze bis gar keine Wartezeiten,
Zugang zu Spezialisten (im Falle eines Falles entscheidet dies über Leben oder Tod).

Ob man diese 2-Klassen Gesundheit will, ist einerseits eine ethische Frage, die jeder für sich
entscheiden müsste. Es ist aber (siehe Fehlallokationen, Provisionen und
Gewinnausschüttungen) auch eine ökonomische Frage.

Die Private Krankenversicherung kann politisch nur überleben, weil die meisten
Entscheidungsträger in Deutschland dort versichert sind: Politiker, Professoren, Spitzenbeamte
der Regierung, Unternehmer, Fernsehmacher, Journalisten. Die niedergelassenen Ärzte, die
Chefärzte, die Universitätsprofessoren, zahlreiche Gutachter im Gesundheitswesen und
Sachverständige, die Pharmaindustrie und die Medizinprodukte-Industrie wollen die
Zweiklassenmedizin durch die Private Krankenversicherung, weil sie höhere Gewinne bringt.

Deshalb: Wer für Gerechtigkeit und Transparenz ist, kann meineserachtens eigenlich nur für die
Abschaffung der PKV eintreten. In ein solidarisches Gesundheitssystem passt so ein
Unternehmensmodell wie das der PKV nicht hinein.

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Grüsse, Syna.




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