ag-barrierefreiheit AT lists.piratenpartei.de
Betreff: Koordinations und Arbeitsliste der AG Barrierefreiheit
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- From: Ronald Kohls <rkohls AT kokonet.de>
- To: Koordinations und Arbeitsliste der AG Barrierefreiheit <ag-barrierefreiheit AT lists.piratenpartei.de>
- Subject: Re: [Ag-barrierefreiheit] Plakate/Bilder mit Menschen mit Beh.
- Date: Fri, 16 Mar 2012 00:21:13 +0100
- List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-barrierefreiheit>
- List-id: Koordinations und Arbeitsliste der AG Barrierefreiheit <ag-barrierefreiheit.lists.piratenpartei.de>
Ich bin diesem und anderen Dialogen mal unkommentiert gefolgt, muss
und will mich aber jetzt mal einbringen, auch wenn ich die
Diskussion über Begrifflichkeiten generell für wenig zweckdienlich
halte. 1. Inklusion vs. Integration Das Modell der Inklusion wie auch der Integration sind als lebendige Gesellschaftsmodelle bereits gescheitert, bevor sie richtig wahrgenommen werden konnten, weil beide Modelle nicht politisch und finanziell unterfüttert waren und sind und dadurch nicht gesellschaftlich gelebt werden konnten. Integration in Bezug auf Beschulung wurde durch die weit weniger kostenintensive Übergangslösung "Kooperation" in Schulen abgelöst und verharrt seitdem in einem Nischendasein. Es geht auch nicht um Modelle, die vielleicht zu dem Erfolg führen sollen, dass behinderte Menschen gesellschaftlich anerkannt werden, das wird es mit diesem Ansatz nicht geben können. Vielmehr ist eine politisch und gesetzliche Zielrichtung mit gesetzlichen Quoten und Regelungen die einzige Möglichkeit, die Akzeptanz und einen Respekt gegenüber behinderten Menschen unabhängig jeder finanziellen Staats- oder Ländersituation aufzubauen. Ansonsten ist die Akzeptanz behinderter Menschen und auch die Umsetzung von Integrations- oder Inklusionsmodellen immer sehr volatil von der verfügbaren Wirtschaftskraft und den davon abhängigen verfügbaren Sozialmitteln abhängig. Das ist insbesondere bei behinderten Menschen in stationären Einrichtungen sehr eindrucksvoll zu beobachten. Hier bedarf es einer wie auch immer gearteten Abkoppelung sozialer Mittel für behinderte Menschen von der jeweiligen finanziellen Situation des Landes oder Staates, oder aber auch eine forcierte zu etablierende finanzielle Verantwortungspflicht wirtschaftlicher Unternehmen. Der Versuch einer Inklusion behinderter Menschen in gesellschaftliche Konstrukte legt die Verantwortung in die Hände unserer Gesellschaft und in die Hand jedes einzelnen Bürgers. Das kann in der derzeitigen Situation generell sozialer Ungleichheit kaum funktionieren. Auch hier steht der Aspekt der finanziellen Situation des Landes und der sozialen Gerechtigkeit hinsichtlich einer Inklusion behinderter Menschen dem entgegen. Und in diesem finanziellen Zusammenhang habe ich ganz persönlich erlebt, wie ein Träger der stationären Behindertenhilfe erfolgreich ein neues Wohnheim mit 30 Wohnplätzen eröffnet hat und dafür Gelder erhalten hat, die nur aufgrund eines sog. Bürgertreffs mit der Betitelung "Inklusion" geflossen sind. In dem Bürgertreff treffen sich gerne die Bewohner des Heimes, mit Inklusion aber hat das nichts zu tun. - Abkoppelung von sozialen Hilfen - gesetzl. Einbeziehung wirtschaftlicher Unternehmen - staatliche Kontrolle von sog. Projekten zur Inklusionsförderung - Befähigung der Entscheidungsträger 2. Begriffsdefinition für behinderte Menschen Ich finde es müssig, unbedingt Begriffe für Menschen finden zu müssen. Das ist aber genau das, was stattgefunden hat, wenn man heute wohl besser "Menschen mit Beeinträchtigungen" sagen sollte. Wie Ihr festgestellt haben solltet, beteilige ich mich nicht an diesen Begriffsfindungen, die schon seit Jahrzehnten stattfinden. Für mich ist ein behinderter Mensch ein behinderter Mensch. Damit wertschätze ich sowohl seine Behinderung, seinen Umgang damit in der Gesellschaft, als auch und vor allem ihn als Mensch. Ein behinderter Mensch ist durch seine Behinderung behindert, als auch immer zu einem gewissen Teil durch die Gesellschaft behindert. Wie in 1. beschrieben, ist er mal mehr, mal weniger in der Gesellschaft akzeptiert oder nicht akzeptiert. Immer, egal was für eine Behinderung im Vordergrund steht, wird ein behinderter Mensch durch die Geselllschaft in seinem eigenen Leben behindert, weil er wegen fehlgeschlagener Integrations- und Inklusionsmodelle immernoch ein Opfer gesellschaftlichen falsch verstandenen Mitleids ist Wenn jemand in einer jedweden Behinderungsart die Komponente einer stetig mitwirkenden sozialen Behinderung leugnet, der hat hier eigentlich einiges nicht verstanden, denn das ist eine gesellschaftlich wie auch wissenschaftlich nicht wegzudenkende Komponente. Menschen mit Beeinträchtigungen in der Bezeichnung sind definitiv und erklärtermassen Menschen mit Defiziten und ihr Defizit soll dabei im Vordergrund stehen. Wer würde schon Christian Wulff als Mensch mit Beeinträchtigungen bezeichen, der er auch erklärtermassen ist. Ich weiss, sehr polemisch, aber das triffts dennoch, denn er ist ein Mensch mit Defiziten, wie sich gezeigt hat. Ist Christian Wulff BEHINDERT? - keine Einlassung auf Begriffsdiskussionen Eigentlich wollte ich nicht so polemisch werden, aber nun gut, ich freue mich auf Eure Einlassungen. Schönen Gruss, Ronald Kohls Am 15.03.2012 21:02, schrieb Alexander Schestag: Am 15.03.2012 18:17, schrieb ESH:Dann antworte ich mich mal hier durch. Stephan Schurig schrieb:Hey, sagt mal kennt ihr schon Motive, wo die Piraten für Pluralismus, Integration, Inklusion o.ä. werben und dabei Menschen mit Behinderung drauf zu sehen sind?Integration ist ein Prinzip von gestern, das neue Prinzip ist das der Inklusion. Wenn der Unterschied noch nicht klar ist einfach mal einen neuen Thread aufmachen.Es ist trotzdem sinnvoll, von beidem zu reden, weil Inklusion sich noch lange nicht durchgesetzt hat.Ich persönlich fände es zudem sehr schön, wenn ihr euch als Partei dazu durchringen könntet auf den Begriff "Menschen mit Behinderungen" zu verzichten. Dieser Begriff ist aus meiner Sicht sprachlich nicht mit dem aktuellen sozialen Behinderungsverständnis vereinbar. Leider hinkt da die BRK auch etwas hinterher.Deine Sicht ist da aber die Minderheitensicht.Besser: "behinderter Mensch"Der Begriff wird gegenüber "Menschen mit Behinderungen" mehrheitlich als schlechter angesehen, weil das Attribut "Mensch" dem Attribut "behindert" nachgelagert wird. Ich könnte auch in Anlehnung an das, was du oben geschrieben hast, sagen: "behinderte Menschen" war vor 15 Jahren, als man erstmals erkannte, daß man herausstellen sollte, daß es sich um Menschen handelt. Heute hat sich "Menschen mit Behinderungen" durchgesetzt.(dieser Begriff läßt offen,Theoretisch. Praktisch ist das in der Gesellschaft nicht der Fall.ob jemand durch die Gesellschaft behindert wird oder "Behinderung" noch fälschlich als Personeneigenschaft verstanden wird, wie es die Formulierung "Menschen mit". Nahelegt.Ich halte es für den größten Fehler überhaupt, zu behaupten, Menschen mit Behinderungen würden nur durch die Gesellschaft behindert. Wenn jemandem die Hände fehlen und er dadurch beim Greifen beeinträchtigt, wird er sicher nicht durch die Gesellschaft behindert, sondern primär durch das Fehlen der Hände. Viele - wenn auch nicht alle - Behinderungen führen nun mal auch ganz ohne gesellschaftlichen Einfluß dazu, daß Menschen mit Behinderungen beeinträchtigt sind.Man sagt ja auch nicht "Menschen mit Diskriminierung" oder "Menschen mit Rassismus" (für rassistisch Verfolgte).Das wäre ja auch sprachlicher Unsinn.Eventuell ein Kandidat, falls ihr euch progressiv darstellen wollt: "Menschen mit Behinderungserfahrung"Eventuell wär es aber auch sinnvoll, sich nicht auf sprachliche Political Correctness zu konzentrieren, die einen null weiterbringt. Wir sind nicht in den USA, wo dieser Unsinn bis zum Exzess betrieben wird. Zum Glück.Das ist immer so eine Sache, richtig. Was wenn sich dann die Leute auf euren Plakaten wiederfinden, aber die Partei gar nicht gut finden?Das geht rein rechtlich gar nicht, weil man die Leute vorher fragen muß.Andererseits verwenden wohl alle sonstigen Parteien auch Fotos von irgendwelchen Menschen als Motiv.Sicher nicht ohne deren Einwilligung.Alexander Schestag schrieb:Nur Menschen mit Behinderung auf dem Foto wäre der falsche Ansatz. Das muß durchmischt sein, denn sonst kommt da nicht das Signal Inklusion rüber.Kann man so sehen, es ist aber auch generell die Frage wie man das präsentieren wollen würde. Wäre vielleicht auch mal eine interessante Sache auf kitschige Inszenierung zu verzichten?Was ist daran eine kitschige Inszenierung, wenn man Menschen mit Behinderungen bei nicht gestellter alltäglicher Parteiarbeit zeigt? Das ist weder kitschig, noch Inszenierung. Das ist einfach Alltag.Andererseits könnten humorvolle eigentlich ziemlich gute Motive wieder irgendwelche Bedenkenträger auf den Plan bringen.Kann doch egal sein.Davon abgesehen ist Behinderung natürlich anders als in der Formulierung oben im Text eine Form der Diskriminierung, die gesellschaftliche Teilhabe verhindert und eben keine Personeneigenschaft.Durch Wiederholen wird es nicht richtiger. Noch ein Beispiel: Selbstverständlich ist es eine Personeneigenschaft, wenn dir ein Auge fehlt und du dadurch nicht räumlich sehen kannst, was dich in Alltagssituationen behindert. Wichtig: Diese m. E. sehr polarisierende und radikale Sichtweise, Behinderung sei *ausschließlich* eine Form von Diskriminierung, die gesellschaftliche Teilhabe verhindert, wird auch *nicht* in der UN-Konvention vertreten! Zitat aus der Präambel: "e) in der Erkenntnis, dass das Verständnis von Behinderung sich ständig weiterentwickelt und dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, die 2 sie an der vollen und wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe auf der Grundlage der Gleichberechtigung mit anderen an der Gesellschaft hindern," Kurz: Eine Personeneigenschaft, die Beeinträchtigung, ist entgegen dem, was du behauptest, eine *notwendige* Bedingung dafür, daß überhaupt Behinderung entstehen kann! Man kann daher den Piraten nur dringend anraten, sich an diese weltweit anerkannte Definition zu halten, die von einer *Wechselwirkung* von Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren spricht, und die Ursachen von Behinderung *nicht* auf die "böse Gesellschaft" zu reduzieren! Solche einseitigen Schuldzuweisungen bringen niemanden weiter. Sie behindern vielmehr den gesellschaftlichen Dialog zu dem Thema. Grüße, Alex -- ----------------------- Ronald Kohls Dieffenbachstr. 59 10967 Berlin Tel. 030/ 420 140 82 Fax 030/ 420 140 81 |
- Re: [Ag-barrierefreiheit] Plakate/Bilder mit Menschen mit Beh., (fortgesetzt)
- Re: [Ag-barrierefreiheit] Plakate/Bilder mit Menschen mit Beh., ESH, 15.03.2012
- Re: [Ag-barrierefreiheit] Plakate/Bilder mit Menschen mit Beh., Alexander Schestag, 16.03.2012
- Re: [Ag-barrierefreiheit] Plakate/Bilder mit Menschen mit Beh., ESH, 16.03.2012
- Re: [Ag-barrierefreiheit] Plakate/Bilder mit Menschen mit Beh., Stephan Schurig, 16.03.2012
- Re: [Ag-barrierefreiheit] Plakate/Bilder mit Menschen mit Beh., Alexander Schestag, 16.03.2012
- Re: [Ag-barrierefreiheit] Plakate/Bilder mit Menschen mit Beh., ESH, 16.03.2012
- Re: [Ag-barrierefreiheit] Plakate/Bilder mit Menschen mit Beh., Ronald Kohls, 16.03.2012
- Re: [Ag-barrierefreiheit] Plakate/Bilder mit Menschen mit Beh., ESH, 28.03.2012
- Re: [Ag-barrierefreiheit] Plakate/Bilder mit Menschen mit Beh., markus0071, 29.03.2012
- Re: [Ag-barrierefreiheit] Plakate/Bilder mit Menschen mit Beh., ESH, 29.03.2012
- Re: [Ag-barrierefreiheit] Plakate/Bilder mit Menschen mit Beh., ESH, 16.03.2012
- Re: [Ag-barrierefreiheit] Plakate/Bilder mit Menschen mit Beh., Alexander Schestag, 16.03.2012
- Re: [Ag-barrierefreiheit] Plakate/Bilder mit Menschen mit Beh., ESH, 15.03.2012
- Re: [Ag-barrierefreiheit] Plakate/Bilder mit Menschen mit Beh., ESH, 16.03.2012
- Re: [Ag-barrierefreiheit] Plakate/Bilder mit Menschen mit Beh., Ronald Kohls, 16.03.2012
- Re: [Ag-barrierefreiheit] Plakate/Bilder mit Menschen mit Beh., markus0071, 26.03.2012
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