Zum Inhalt springen.
Sympa Menü

ag-gesundheitswesen - [AG-Gesundheit] System-Vergleich

ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de

Betreff: AG Gesundheit

Listenarchiv

[AG-Gesundheit] System-Vergleich


Chronologisch Thread 
  • From: syna <syna AT news.piratenpartei.de>
  • To: ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de
  • Subject: [AG-Gesundheit] System-Vergleich
  • Date: Tue, 10 Jan 2012 22:05:15 +0000
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-gesundheitswesen>
  • List-id: AG Gesundheit <ag-gesundheitswesen.lists.piratenpartei.de>
  • Organization: Newsserver der Piratenpartei Deutschland - Infos siehe: http://wiki.piratenpartei.de/Syncom/Newsserver


Ahoi!

Lasst uns doch mal etwas genereller und abstrakter nachdenken ...

Das Deutsche Gesundheitssystem ...
---------------------------------------------------------------
Das deutsche Gesundheitswesen gilt in der öffentlichen Meinung als eines
der besten der Welt. Es ist bekannt für seine lange Tradition und die
legendäre Solidarität zwischen den Versicherten, die ihm zugrunde liegt.
Anerkennend spricht man vom Bismarck’schen System.

Besonders gelobt wird der Umstand, dass es sich um eine
Sozialversicherung handle, die vom Staat unabhängig sei und dennoch
nicht allein den Marktgesetzen folge – ein „dritter“ Weg sozusagen. Weder
die Rationierungen der Staatsmedizin noch die Zweiklassenmedizin von
reinen Marktsystemen müssten die Deutschen ertragen.

Staatssysteme
---------------------------------------------------------------
Jeder kennt die Berichte von langen Wartelisten in den skandinavischen
Ländern und in Großbritannien. Wenn der Staat der einzige Anbieter von
Krankenhausbetten oder Artzsitzen ist, kann dies dazu führen, dass das
Angebot so knapp wie möglich gehalten wird, um die Kosten zu begrenzen.
Schließlich muss der Steuerzahler die Behandlung finanzieren, und jede
Steuererhöhung kostet Wählerstimmen.

In Staatssystemen gibt es oft zu wenig Auswahl an Krankenhäusern und
Ärzten. In Großbritannien wurde den Patienten lange Zeit der Hausarzt
nach ihrem Wohnsitz zugewiesen. Ohne seine Überweisung konnte man
keinen Facharzt und keine Klinik aufsuchen und bekam keine Medikamente.

Auch auf die Wahl des Krankenhauses hatte man kaum Einfluss, wenn nach
langer Wartezeit endlich ein Bett zur Verfügung stand. Hatte der Patient,
nicht selten zu Recht, das Gefühl, in einer schlechten Klinik gelandet zu
sein, gab es keine Alternative – es sei denn, er wählte eine völlig
unabhängige private Versorgung, die er dann in der Regel vollständig
bezahlen musste.

*Heute* ist das britische Gesundheitssystem etwas flexibler, sodass man sich
seinen Hausarzt oder die Klinik zumindest bedingt aussuchen kann. Aber
wie in den skandinavischen Ländern sind Wartelisten immer noch üblich. So
warteten 2005 in Großbritannien 41% der Patienten und in Kanada etwa
jeder Dritte länger als 4 Monate auf einen planbaren chirurgischen Eingriff.

Marktsysteme
---------------------------------------------------------------
In reinen Marktsystemen wiederum, etwa in den USA oder in Dubai, regeln
Angebot und Nachfrage den Preis und die Verfügbarkeit von medizinischen
Leistungen. Es gibt zwar für fast jede Krankheit genug (und häufig mehr als
genug) Angebote, aber für viele Betroffene sind sie unerschwinglich.
Außerdem hängt die Qualität der Behandlung stark davon ab, wieviel der
Patient, also der Kunde, bezahlen kann oder will.

Wer weniger Geld hat, muss länger auf eine Operation oder Untersuchung
warten, während der wohlhabendere Patienten sofort einen Termin
bekommen. Oft wird ihnen sogar mehr Medizin angeboten, als gut für sie
wäre.

Dabei spielt eine große Rolle, dass man in den USA für Arzneimittel und für
Krankenhäuser oder Ärzte direkt werben kann. Bluttests auf Prostatakrebs
werden in Supermärkten angeboten, ebenso Medikamente, für die man in
Deutschland ein Rezept braucht. Kein Fernsehabend vergeht, ohne dass
einzelne Ärzte, Kliniken oder Pharmaunternehmen ihre Dienste anpreisen.
Spätestens nach dem zweiten Werbespot fühlt sich jeder über 50-ig
Jährige krank. Nach drei Werbeblöcken fragt man sich, ob man das Ende
des Spielfilms noch erleben wird.

Jedes Angebot, das genug Nachfrage findet, geht in den USA auf den
Markt, und wenn die Nachfrage nicht reicht, muss sie künstlich erzeugt
werden. Daher erfinden amerikanische Pharmaunternehmen regelmäßig
neue Krankheiten für Wirkstoffe, die sie selbst entwickelt haben. Oder sie
dramatisieren die Folgen existierender Krankheiten, um ihre neuen Produkte
in den Markt zu drücken. Etwa das Syndrom der „unruhigen Beine“, für
dessen Behandlung ein Psychopharmakon eingesetzt wird, oder die
überaktive Blase oder die krankhafte chronische Müdigkeit. Allein die
volkswirtschaftlichen Kosten zur Behandlung der überaktiven Blase werden
in den USA für das Jahr 2000 auf 12 Mrd. $ geschätzt.

Kaum ein amerikanischer Mann geht ohne eine Fernsehwarung vor
nachlassender Potenz im Alter zu Bett. Kompensiert er den Verdruss mit ein
paar Bier, scheint sich auch schon die überaktive Blase zu melden. Am
Ende des Werbeblocks folgt ein Spot, in dem Anwälte nach Klienten für
Sammelklagen suchen – gegen Hersteller von Medikamenten, die hier noch
vor kurzem beworben wurden, deren schädliche Nebenwirkungen aber
inzwischen bekannt sind. So sollte Vioxx dem alternden Sportler angeblich
helfen, seine müden und verschlissenden Knochen zu bewegen, um
Herzkrankheiten vorzubeugen. Etwas später stellte sich heraus, dass das
Medikament selbst Herzinfarkte verursacht und der Hersteller dies so lange
wie möglich verschwiegen hatte.

Auf diese Weise werden in den USA ständig neue medizinische Märkte
geschaffen und zerstört, und niemand hat das Gefühl, gut versorgt zu
sein, obwohl nirgendwo in der Welt mehr für medizinische Leistungen
ausgegeben wird. Gleichzeitig verfügen 50 Mio. Amerikaner über gar keinen
Versicherungsschutz.

Mit der Rezession 2008 verloren nicht nur viele Menschen ihre Arbeit,
sondern zugleich auch ihren Versicherungsschutz, oft für die ganze Familie.
Während für denjenigen, der Geld und Versicherungsschutz hat, erst noch
Krankheiten erfunden werden, um ihn entsprechend ausnehmen zu können,
stirbt der Nichtversicherte an Krebs, weil er sich keine wirkungsvolle
Therapie leisten kann.

-------------------------------------------------------------------

Ach ja .... die Frage ist natürlich: Was wollen wir
eigentlich? Was sind unsere zugrunde liegendenen (ethischen oder
unethischen) Maximen? Wo ist die Balance zwischen Effizienz und
Solidarität? Gibt so eine Balance überhaupt, und falls ja: Wo liegt diese?




Archiv bereitgestellt durch MHonArc 2.6.19.

Seitenanfang