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ag-gesundheitswesen - [AG-Gesundheit] Unterversorgung Psychotherapie/Fachärzte

ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de

Betreff: AG Gesundheit

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[AG-Gesundheit] Unterversorgung Psychotherapie/Fachärzte


Chronologisch Thread 
  • From: Felix Eschenburg <felix.eschenburg AT web.de>
  • To: AG Gesundheit <ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de>
  • Subject: [AG-Gesundheit] Unterversorgung Psychotherapie/Fachärzte
  • Date: Wed, 28 Sep 2011 10:23:55 +0200
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-gesundheitswesen>
  • List-id: AG Gesundheit <ag-gesundheitswesen.lists.piratenpartei.de>

Liebe Liste,
ich möchte hiermit ein neues Diskussionsthema aufmachen, zu dem ich bisher noch nicht viel bei den Piraten gefunden habe. Ich bin Psychologe, angehender Psychotherapeut und arbeite in einer psychiatrischen Ambulanz. Meine Kollegen und ich stellen schon seit langem fest, dass es für Patienten fast unmöglich ist, einen zeitnahen Psychotherapieplatz zu finden. Dieses Problem möchte ich gerne ausführlich erläutern und im Anschluss daran gerne die Diskussion dazu eröffnen - nicht nur zu diesem Spezifischen Problem, sondern auch vor dem Hintergrund der allgemeinen Piratengrundsätze (später dazu mehr).

Wie sicherlich viele von Euch durch die Medien mitbekommen haben beobachten wir in letzter Zeit eine vermehrte Zunahme psychischer Erkrankungen. Ob das daran liegt, dass diese tatsächlich zunehmen oder einfach besser diagnostiziert werden ist dabei noch nicht geklärt, spielt für das folgende Problem aber keine Rolle. Wenn ich hier von einer psychischen Störung spreche dann meine ich eine Erkrankung, die laut offiziellen Richtlinien a) behandlungsbedürftig ist, b) Leid verursacht und auf deren Behandlung der c) Patient laut Gesetz auch ein Recht hat. Also psychische Erkrankungen, die im ICD-10 Kapitel F aufgeführt werden und für die Psychotherapie indiziert ist. Das überall genannte Burn-Out-Syndrom gehört noch nicht dazu, müsste also eigentlich nochmal drauf gerechnet werden (Derzeit kann dies nur behandelt werden, wenn es von den Behandlern Depression oder Anpassungsstörung genannt wird).
Laut Behandlungsleitlinien gilt für einen Großteil der psychischen Erkrankungen, dass eine Kombination aus medikamentöser Behandlung und Psychotherapie indiziert und am erfolgversprechendesten ist. Die medikamentöse Behandlung wird meistens von Psychiatern durchgeführt (im Schnitt mind. 3 Monate Wartezeit bis man einen Termin bekommt) und die psychotherapeutische Behandlung wird von Psychotherapeuten durchgeführt.
Psychotherapeuten können nur mit gesetzlichen Krankenkassen abrechnen, wenn sie einen Sitz bei der kassenärztlichen Vereinigung haben. Die Anzahl der zu vergebenden Sitze orientiert sich an der Bedarfsplanung. Psychotherapie bedeutet in der Regel, dass der Patient 1x pro Woche für 1 Sitzung á 50 Minuten zu seinem Psychotherapeuten geht. Ein Psychotherapeut kann realistischerweise also maximal 35 Patienten zu einem gegebenen Zeitpunkt behandeln.

Unserer Erfahrung nach (und auch der Erfahrung viele meiner Kollegen nach, mit denen ich gesprochen habe) liegen die Wartezeiten für einen Psychotherapieplatz derzeit bei rund 6-12 Monaten in ländlichen Gebieten und bei 3-6 Monaten in städtischen Gebieten. Auf der anderen Seite hat jeder Patient allerdings das Recht, dass seine Erkrankung auch adäquat behandelt wird. Findet er keinen Psychotheerapeuten mit KV-Sitz, so kann er einen Psychotherapeuten ohne KV-Sitz aufsuchen und bei seiner Krankenkasse einen Antrag auf Kostenerstattung stellen. Diese Anträge werden im allgemeinen von den Krankenkassen abgelehnt, so dass der Patient gezwungen ist, sich auf einen Rechtsstreit mit seiner Krankenkasse einzulassen. Dies stellt wiederum für viele Patienten eine kaum zu bewältigende Belastung dar, so dass viele frustriert aufgeben und eben einfach weiter mit ihrer Angsterkrankung, Depression, Posttraumatischen Belastungsstörung etc. leben.

In der Folge führt dies oft zu mehreren Klinikaufenthalten in psychiatrischen Kliniken, aus denen die meisten Patient kurzzeitig stabilisiert entlassen werden, bis es ihnen wieder schlechter geht. Diese Art der Versorgung geht nicht nur an den Bedürfnissen des Patienten und den Behandlungsrichtlinien vorbei, sondern ist eben auch ökonomischer Unsinn. Eine Klinik bekommt ~200€ pro Tag und Patient. Gehen wir einmal von einer (sehr konservativ gerechneten) Verweildauer von 14 Tagen aus, so macht das in etwa 2800€ pro kurzfristiger Stabilisierung. Eine Psychotherapie umfasst im Allgemeinen 25-45 Sitzungen. Jede Sitzung kostet etwa 80€ und eine Psychotherapie zielt nicht auf eine kurzfristige Stabilisierung, sondern auf eine langfristige Verbesserung ab - für 2000€ - 3600€. Zusätzlich gibt es kaum Daten über langfristige Effekte solcher  Klinikaufenthalte, aber gibt aber sehr wohl Daten über langfristige Effekte über Psychotherapien (mit guten Effekten).

Die derzeitige faktische Unterversorgung liegt übrigens nicht daran, dass es zu wenige Psychotherapeuten gibt, sondern daran, dass zu wenig Psychotherapeuten mit der Krankenkasse abrechnen dürfen. Hinzu kommt, dass es für Psychotherapeuten nicht besonders attraktiv ist, sich selbständig zu machen, wenn sie auf die unsicheren, langwierigen und oft erfolglosen Kostenerstattungsverfahren angewiesen sind.

Wenn ich mir hier auf Seite 21 die Bedarfsplanung anschaue und gleichzeitig hier die Punktprävalenzraten (Punktprävalenz = wieviele Menschen haben zu einem einzigen beliebigen Zeitpunkt eine psychische Erkrankung) psychischer Erkrankungen ansehe wundert mich auch nicht, dass keiner einen Psychotherapieplatz bekommt. So wird dort beispielsweise ein Psychotherapeut pro 16615 Einwohnern in einem ländlichen Kreis vorgesehen. Von diesen haben bei einer Punktprävalenzrate von 1% - 5% etwa 166 - 830 Menschen eine psychische Erkrankung. Nehmen wir mal an, nur die Hälfte davon habe eine Erkrankung, für die Psychotherapie indiziert ist, so macht das 84 - 415 Menschen pro Psychotherapeut. Bei einer Frequenz von 1 Sitzung pro Woche kann ein Psychotherapeut aber vernünftigerweise nur maximal 35 Menschen gleichzeitig behandeln. Fallen also 49 - 380 Menschen hinten runter.

Was ich hier geschildert habe gilt sicherlich auch für Fachärzte bestimmter Richtungen. Auch dort gibt es teilweise erhebliche Wartezeiten oder die sogenannte 5 Minuten Medizin. Ich fände es schön, wenn wir hier eine Diskussion darüber anstossen könnten, wie diese Situation realistischerweise verbessert werden kann. Wichtig fände ich auch, dass sich eine mögliche Lösung an den Grundsätzen der Piraten orientiert, da es sich hierbei ja erst einmal um einen sehr speziellen Bereich der Gesundheitspolitik handelt.

Ahoi
Felix
-- 
http://cheezborger.wordpress.com/



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