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ag-geldordnung-und-finanzpolitik - Re: [AG-GOuFP] [AG Wirtschaft] Vielen Dnak für die super Diskussion

ag-geldordnung-und-finanzpolitik AT lists.piratenpartei.de

Betreff: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik

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Re: [AG-GOuFP] [AG Wirtschaft] Vielen Dnak für die super Diskussion


Chronologisch Thread 
  • From: moneymind <moneymind AT gmx.de>
  • To: ag-geldordnung-und-finanzpolitik AT lists.piratenpartei.de
  • Subject: Re: [AG-GOuFP] [AG Wirtschaft] Vielen Dnak für die super Diskussion
  • Date: Sat, 17 Oct 2015 15:51:42 +0000
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-geldordnung-und-finanzpolitik>
  • List-id: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik <ag-geldordnung-und-finanzpolitik.lists.piratenpartei.de>

Hallo Rudolf,

Ohne jeglichen Bruch wurde die Politik von Ende 19. Anfang 20. Jahrhundert im 21. Jahrhundert fortgesetzt. Wir kennen uns schließlich aus. Meiner Fragestellung lagen diese Ereignisse auch indirekt zugrunde. In der Forderung nach Rechtsgleichheit sehe ich eine gewisse Fortführung der ursprünglichen deutschen Politik.

Nein.

Letztendlich kann den Griechen kein funktionierendes Rechtssystem von außen aufgeherrscht werden. Sie können es nur selbst schaffen. Dafür aber müßten sie erst ihre Souveränität (v.a. die monetäre) wiederhaben.

Aber die meisten Griechen sehen nicht, daß das nötig wäre. Und wie in vielen Entwicklungsländern auch, profitieren die Eliten derart vom Status Quo, daß sie gar kein Interesse daran haben.

Schäuble sieht ja die Notwendigkeit ebenfalls nicht. Wäre die konsequent gesehen worden, wäre GR nie in die Eurozone aufgenommen worden.

Die Griechen trauen der EU bei der "Schaffung normaler Verhältnisse" (die Griechen wünschen sich, daß es bei ihnen mehr so zugeht, wie sie es in D sehen, hatte ich im Vorposting beschrieben) mehr zu als ihren eigenen korrupten Eliten, denen sie mißtrauen (die Griechen, mit denen ich dieses Frühjahr in GR sprechen konnte, mißtrauten auch Syriza und Varoufakis).

Sie wollen deshalb in der Eurozone bleiben. Ihr Vertrauen in die gegenwärtige EU ist unrealistlisch. Dort fehlen die Kompetenzen.

Europa /insgesamt/ ist gefangen in seinen realitätsfremden Vorstellungen von der Funktionsweise einer Währungsunion (und von seiner Situation generell).

Deswegen ist das erste Ziel, analytisch klar zu sehen. Dazu müssen "Morgen kommt der Weihnachtsmann"-Illusionen eliminiert werden: Nicht nur die der Griechen selbst ("wenn wir der Eurozone beitreten, kriegen wir auf magische Weise endlich deutsche Verhältnisse, sind die inflationierende Drachme los, usw."), sondern auch der Deutschen ("wenn wir nur noch mehr Staat abbauen, Löhne und Sozialleistungen senken, Unternehmenssteuern senken, Staatsschulden abbauen, dann kriegen wir mehr Wachstum und Beschäftigung" - Pustekuchen, Deflation und nationalistische Regierungen kriegt ihr dann, ihr Pfeifen!).

*Dazu sollten unsere Hinweise ein Beitrag sein. *

Nicht zu deutschem Griechenland-Treatment.

Eine andere Lösung habe ich jedoch auch nicht.

S.u.

Vetternwirtschaft, Einkommensverbesserung durch Backschich (Zusatzgebühr für Dienstleistungen) und Korruption sind in vielen Staaten derart Teil der Gesellschaft, dass sie gar nicht als so verdammenswürdig wahrgenommen werden.

Nicht nur das. Sie sind dort, wo es kein verläßliches Rechts- und Verwaltungssystem gibt, schlicht die ganz normalen menschlichen Verhaltensweisen, zu denen es unter diesen Umständen keine Alternative gibt. Als "Korruption" (also etwas nicht wünschenswertes) erscheinen sie überhaupt nur nur vom Standpunkt des Rechts.

Dass man sie wie mit einem Lichtschalter von heute auf morgen ausschalten kann, ist unrealistisch.

Richtig. Dennoch stellt sich genau hier die entscheidende Frage: wie wurde das dort, wo sie zurückgedrängt werden konnte, bewerkstelligt - und wie kann dort, wo man das ebenfalls möchte, daraus gelernt werden? Diese Fragen stellt Fukuyama in seinen 3 letzten Büchern, "State Building", "Origins of Political Order" und "Political Order and Political Decay". Seine Antwort: sowas gelang historisch bisher nur unter enormer äußerer und innerer Bedrohung (Krieg, Bürgerkrieg), und zunächst nur despotisch (Absolutismus). Dort, wo direkt in die Demokratie gesprungen wurde, entstanden massive Korruption und Klientelismus. Neben GR nennt er die USA als Negativbeispiel (und Preußen als Positivbeispiel).

Unterläßt man diese Frage und bleibt auf Deinem Standpunkt stehen, kann man nichts machen und die Dinge einfach nur laufenlassen. Wohin Europa treibt, brauche ich Dir nicht zu erzählen.

Die Gesellschaft bei einem solchen Reformvorhaben mitzunehmen, dürfte wohl die Herausforderung sein.

Genau.

Nur durch Verordnungen der Troika wird dies kaum gelingen.

Die Rechtsqualität hätte bereits entscheidender Teil der Beitrittskriterien zur Eurozone sein müssen. Stattdessen wurde GR bekanntlich von Goldman Sachs in die Eurozone reingetrickst. Man spekulierte auf den Bailout und wußte, man kann mit Systemuntergang drohen.

So ist GR zum trojanischen Pferd der Finanzindustrie in der EU gemacht worden, unter Ausnutzung der Dummheit der neoklassisch fehlgeleiteten Planer der Währungsunion. Auch das bleibt ohne Berücksichtigung der rechtlichen Fundamente des Kreditsystems unerkennbar.

Hier ein paar Hinweise von H.J. Stadermann (FH Wirtschaft, Berlin):

http://www.unser-geld.com/home/%C3%BCber-geldwirtschaft/euro-rettungsroutine/

http://www.unser-geld.com/app/download/8886699/Untersicherter+Kredit.pdf

*Was wäre eine Lösung? *

*Wir brauchen eine Rückkehr zu verläßlichem Recht. *

Denn *nur* mithilfe von durchsetzbarem Recht lassen sich Märkte sowohl schaffen als auch WIRKSAM UND SOZIALVERTRÄGLICH REGULIEREN.

Doch die EU ist bisher KEINE Rechtsinstitution - sie nennt sich nur so.

Die EU besteht aus völkerrechtlichen Verträgen, nicht aus wirksamem Recht. Das bleibt an die Nationalstaaten (mit ihren Gewaltmonopolen) gebunden, und ist im übrigen in unterschiedlichen Ländern Europas von sehr unterschiedlicher Qualität.

Was ist Völkerrecht?

Wir hatten im Thesenpapier vorstaatliche Sozialbeziehungen ohne wirksames (vom staatlichen Gewaltmonopol durchsetzbares) Recht skizzenhaft beschrieben (mit Hinweis auf genauere Quellen). Manche Rechtsethnologen nennen solche informellen, nicht von einer Zentralinstanz durchsetzbaren Beziehungen "primitives Recht".

Der Rechtsethnologe (in USA: "Legal Anthropology") F. Adamson Hoebel beschreibt Völkerrecht ganz realistisch und treffend so:

/*"Das sogenannte Völkerrecht ist lediglich primitives Recht auf internationaler Ebene." (zitiert nach E. Hilgendorf: dtv-Atlas Recht, Band 1, München: dtv 2003, 3. Auflage 2012, S. 55)*/

*Wir haben auf EU-Ebene also ähnliche "vor-rechtliche" Strukturen wie in GR selbst.*

NB, diese Info kann man in jeder Einführung in die ReWi nachlesen und nicht nur aus irgendwelchen alternativen youtube-Filmchen beziehen.

Die EU ist KEIN Staat, sondern ein "völkerrechtlicher Herrschaftsverbund" (Lissabon-Urteil des BVerfG). Recht ist einstweilen nur innerhalb der Nationalstaaten - in unterschiedlicher Qualität - gegeben.

Wieso also Korruption und Klientelismus in der EU (ich sage nur: Silvana Koch-Mehrin, TTIP, etc. etc. etc., you name it) ähnlich wie in GR?

Das sollte jetzt klarer verständlich sein, hoffe ich. Und hoffentlich ist jetzt auch klar, warum man fürs Verständnis der Situation Europas sowas scheinbar "esoterisches" oder "exotisches" wie Rechtsethnologie und Rechtsanthropologie unverzichtbar ist.

Zum Verhältnis zwischen EU-"Recht" (="Primitivrecht" ohne echten Rechtscharakter) und nationalem (wirksamem, von einem staatlichen Gewalmonopol durchsetzbarem) Recht - in D z.B. dem Grundgesetz - nochmal ein Zitat aus dem dtv-Atlas Recht:

/"Ein bes. Problem stellt das Verhältnis des Unionsrechts zum Grundgesetz dar. Grundsätzlich geht das Unionsrecht nicht nur dem einfachen Gesetzesrecht, sondern auch dem GG vor.

Die Übertragen hoheitlicher Kompetenzen auf die EU führt dazu, daß sie nicht mehr in den Geltungsbereich der deutschen Verfassungsordnung fallen.

Damit droht die Gefahr einer Aushöhlung des GG durch immer weitergehende Übertragung von Kompetenzen. Die wesentl. Strukturprinzipien der dt. Verfassungsordnung dürfen allerdings nicht angetastet und daher auch nicht übertragen werden.

Dazu gehören Demokratie, Rechtsstaatlichkeit unter Einschluß des Kernbereichs der Grundrechte, Sozialstaatlichkeit und der Föderalismus (vgl. Art. 79 III GG). Die Reichweite der "übertragungsfesten Tabuzone" ist im Einzelnen umstritten." (dtv Atlas Recht, 2003/2012, S. 153). /

Die Beziehungen zwischen Troika und GR sind also keine Rechtsbeziehungen, ebensowenig wie die privaten Beziehungen der Griechen untereinander oder der EU-Institutionen untereinander.

Daraus folgt:

1) Die Währungsunion "Eurozone" kann man nur verstehen, wenn man a) die rechtlichen Fundamente des Finanzsystems, b) die unterschiedlichen Qualitäten der nationalen Rechtssysteme innerhalb der Eurozone und c) EU-"Primitivrecht" (Hoebel), also Nicht-Recht, versteht.

2) Weder die herrschende neoklassische Ökonomie in den Köpfen des Mainstream NOCH die heterodoxen monetären Ökonomen (v.a. Postkeynesianer, Varoufakis eingeschlossen) sehen dies und kommen deshalb zu falschen Lösungsvorschlägen, die nicht zum Ziel führen können.

3) Der erste Schritt zu einer Lösung kann daher nur darin bestehen, ein angemessenes VERSTÄNDNIS der Situation Europas zu entwerfen. Es muß Schluß sein mit europäischer Realitätsblindheit und "morgen kommt der Weihnachtsmann" ("wenn wir noch bißchen mehr deregulieren und die Löhne runterfahren, kriegen wir mehr Wachstum und Beschäftigung - Pustekuchen, DEFLATION gibt das", und viele andere Illusionen mehr),

4) Das analytic tool dafür kann nur in einer "Legal Theory of Finance" bestehen, der die rechtliche Seite als Grundlage des Finanzsystems erkennt, die unterschiedlichen Rechtsqualitäten in den einzelnen Nationalstaaten im Blick hat und den "vorrechtlichen" Charakter der EU (KEIN Staat!!!) klar im Blick hat, und monetäre Ökonomik auf diese empirischen Füße stellt.

5) Bisher gibt es nur GANZ wenige Leute, die das erkannt haben und daran arbeiten, allen voran die deutsche (an der Columbia University lehrende) Juraprofessorin Katharina Pistor (Hinweise im Literaturverzeichnis zum Thesenpapier - und recherchiert sie auf google").

http://wiki.piratenpartei.de/Datei:Waehrungsunion_ohne_Rechtsunion.pdf

6) Ihr solltet Euch auf euren Hosenboden setzen und Euch das erarbeiten, denn eine andere Chance hat Europa nicht.

7) Was kann jetzt die Lösung sein?

Prinzipiell kann es nur zwei Pfade zurück zu Recht, funktionierender und halbwegs sozial gerechter Geld- und Marktwirtschaft im Interesse der 90% und gegen das Interesse des Finanz- und Großkapitals geben:

1) Zurück zu den Nationalstaaten, ihrem Recht und ihren Währungen. Das würde dem internationalen Finanz- und Großkapital besser ermöglichen, die Staaten gegeneinander auszuspielen und die Staaten im Kampf gegen die globalisierten Finanzmärkte weiter schwächen.

2) Den offensiven Ausbau der EU zu einem föderalen, demokratischen, sozialen Rechts- und Bundesstaat mit an gesamtwirtschaftlichen Zielen (magisches 4-eck) orientierter gemeinsamer Wirtschafts-, Geld-, Fiskal- und Sozialpolitik.

Für 2 fehlen aber nicht nur fast alle Voraussetzungen in den Köpfen (die sind erst noch herzustellen und in die Köpfe reinzubekommen, s.o.). Der neoliberale Smog muß eliminiert werden.

Aber mehr als das. Das hinter verschlossenen Türen verhandelte TTIP zeigt das Niveau, auf dem politische Korruption in Brüssel bereits stattfindet: die Finanz- und Großindustrielobby hat auf diese vorrechtlich organisierten Eliten offensichtlich einen massiveren Einfluß als auf nationalstaatliche Gebilde.

Das erklärt vielleicht auch ein gutes Stück weit, warum der neoliberale Smog in den Hirnen der europäischen "Eliten" viel tiefer verankert ist als in denen der US-Regierung (die ihn in Sonntagsreden propagieren, dann aber in der Praxis daheim oft keynesianisch handeln - die FED z.B. hat im Gegensatz zur EZB noch ein Beschäftigungsziel).

Historisch sind solche Staaten wie unter 2) benannt praktisch nirgends OHNE eine absolutistische, despotisch-zentralistische Zwischenphase ("von oben") entstanden - und eben gerade NICHT in einem langwierigen demokratischen Prozess von unten (siehe dazu die 3 letzten Bücher von Fukuyama - in den beiden neuesten hat er dazu groß angelegte vergleichende historische Studien gemacht).

Das sind nach allem, was ich weiß, sehr schlechte Aussichten für die EU.

Das heißt, Europa steht vor unglaublich großen Herausforderungen - und von Demographie und dem neuen dreißigjährigen Krieg östlich und südlich des Mittelmeers habe ich noch nicht mal ein Wort verloren.

"Ruhig" ist es in Europa (und in Euren Köpfen) nur deshalb, weil diese Herausforderungen noch nicht mal ANSATZWEISE überhaupt erkannt sind, sondern Gesamteuropa sich im Modus "illusionäres Selbst- und Weltbild" plus "hektische Reaktion auf Krisenereignisse" (die bei analytischem Weitblick schon vor Jahren hätten erkannt werden können) befindet.

In diesem Sinn war auch mein Posting hier:
https://news.piratenpartei.de/showthread.php?tid=508047

gemeint.

Die Saudis haben natürlich keine Lösung für uns, die müssen wir uns schon selber schnitzen. Daß aber Europa sich im "head in the clouds"-Tiefschlaf befindet und ähnlich realitätsfremd handelt wie ein besoffener Tattergreis, erkennen die ganz ohne Fernglas oder Lupe mit bloßem Auge.




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