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ag-geldordnung-und-finanzpolitik - Re: [AG-GOuFP] [AG Wirtschaft] Vielen Dnak für die super Diskussion

ag-geldordnung-und-finanzpolitik AT lists.piratenpartei.de

Betreff: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik

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Re: [AG-GOuFP] [AG Wirtschaft] Vielen Dnak für die super Diskussion


Chronologisch Thread 
  • From: moneymind <moneymind AT gmx.de>
  • To: ag-geldordnung-und-finanzpolitik AT lists.piratenpartei.de
  • Subject: Re: [AG-GOuFP] [AG Wirtschaft] Vielen Dnak für die super Diskussion
  • Date: Wed, 14 Oct 2015 22:03:31 +0000
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-geldordnung-und-finanzpolitik>
  • List-id: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik <ag-geldordnung-und-finanzpolitik.lists.piratenpartei.de>

Hallo Rudolf,

Nach dem Anhören der Diskussion sind bei mir noch ein paar Fragen aufgetaucht, die vielleicht an anderer Stelle schon beantwortet wurden. Für entsprechende Hinweise wäre ich dankbar.

Meine Fragen:
o ist die Globalisierung von allen Menschen der Welt so gewollt, wie ein Zuhörer suggeriert hat?

Da mußt Du alle Menschen in der Welt fragen. Wenn Du mich fragst: natürlich nicht. "Globalisierung" fing an mit Kolonisierung (durch die Europäer). War das von den Kolonisierten gewollt? Wohl kaum.

Und heute? Wenn die Bewohner eines Landes Handys, Autos und anderes wollen, das sie nicht selbst produzieren können, kann man es ihnen schenken, oder ihnen etwas abkaufen (Exportgüter, TOurismus, etc.), damit sie im Gegenzug diese Güter kaufen können. Schon hast Du internationale Arbeitsteilung = Globalisierung.

Natürlich sagt niemand: "ich hätte gern etwas Globalisierung". Sondern: ich will ein Handy, ich will ein Auto, ich will westliche Klamotten wie die Leute im Fernsehen, ich will einen Doktor, der mein kaputtes Bein heilen kann usw.

Aber sagt heute jemand: "ich will sicheres Eigentums- und Vertragsrecht"? Doch eher: ich will meine korrupten Eliten loswerden.

Wenn jemand sagt, "ich will mit Handys, Autos und Globalisierung nix zu tun haben", kann ich ihn nur beglückwünschen.

o Möchten die Griechen tatsächlich genauso leben wie wir Deutsche? Mit möglichst hohen Versorgungsansprüchen mit 70 in Rente gehen, um nur ein Beispiel zu nennen?

Glaube ich kaum. Mein (unvollständiger) Eindruck aus den wenigen Gesprächen, die ich mit Griechen hatte, war: sie wollen eine weniger korrupte Regierung, der man halbwegs vertrauen kann, Wohlstand und Dinge wie, daß man problemlos Dinge auf Kreditkarte einkaufen oder irgendwo bestellen kann, daß die Währung nicht ständig massiv inflationiert - daß "Business" einfach so verläßlich läuft wie in Deutschland. Um das zu bekommen, glauben sie, ist es gut, in der EU und Eurozone zu sein - dann wird sich das alles schon "irgendwie" angleichen. Und warum sollten sie das nicht glauben, es wurde ihnen ja erzählt.

o Hat jemand die Griechen gefragt was sie tatsächlich wollen oder geht es eher nach der Devise; am deutschen Wesen soll Europa genesen? Wir Deutsche wissen doch genau was die Griechen benötigen.

Nein, niemand hat sie gefragt. Wir haben behauptet, um solche Dinge zu bekommen, bräuchte man ein funktionierendes Rechtssystem. Wir haben nicht gesagt, daß das jeder wollen sollte, zumal damit ja auch Nachteile verbunden sind. Die auf dieser Basis entstehende "Business Civilization" bringt halt andere Nachteile, Probleme und Zwänge mit sich, die eigentlich gar nicht in den relaxten sonnigen Süden passen. Würden die Deutschen noch nach GR in Urlaub fahren, wenn die Griechen nicht mehr so relaxed und freundlich wären, sondern quasideutsche workoholic-businesspeople mit gebräunter Haut? Wohl kaum. Eigentum, Freiheit, Gleichheit und Vertrag sind schnell idealisiert, kommen aber halt blöderweise mit ungeplanten Nebenfolgen.

/Werten /wollten wir (oder zumindest ich) das nicht. Deswegen ja der Hinweis auf die Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral:

https://news.piratenpartei.de/showthread.php?tid=507199&pid=2344674&mode=threaded

o Ist es tatsächlich notwendig und wünschenswert, dass in jedem europäischen Land die gleichen Gesetze gelten?

Wir haben behauptet: wenn man eine gemeinsame Währung will, die halbwegs funktinoiert, braucht man auf einer grundlegenden Ebene da etwas Einheitliches. Wir haben nicht behauptet, daß man eine gemeinsame Währung wollen sollte. Was wir gesagt haben, ist: auf Dauer funktioniert eine gemeinsame Währung so nicht.

Man kann auch jederzeit wieder aus der gemeinsamen Währung aussteigen, und jedes Land kann rechtlich machen was es will. Das hat vor der Währungsunion ja auch jahrzehntelang funktioniert. Aber wollen die Griechen raus? Man kann natürlich auch sagen, wir wollen drinbleiben, wir wollen kein neues Rechtssystem, und wir wollen all das andere (Liste oben) auch dazu.

Man kann auch sagen, "morgen gewinne ich 1 Million im Lotto" oder "morgen kommt der Weihnachtsmann". Oder "ich finde die Schwerkraft irgendwie doof, über die müssen wir erstmal diskutieren".

Dass auf verschiedenen Gebieten eine Harmonisierung erforderlich ist sehe ich zwar auch so, jedoch sollte diese erst nach gründlicher Überlegung auf das Notwendigste beschränkt werden. Die deutsche Oberlehrerrolle finde ich unerträglich.

Ja, das kann ich gut nachvollziehen. So war es auch nicht gemeint. Wir (oder jedenfalls ich) wollte(n) nur folgende Thesen zur Diskussion stellen:

1) Wenn man eine Währungsunion will, braucht man als Grundlage ein vergleichbar verläßliches Vertrags- und Steuerrecht.

2) Nur unter dieser Voraussetzung wirken dann auch gesamtwirtschaftliche Nachfrageförderungsprogramme so, wie Keynesianer es sich von diesen versprechen (Investitionen, steigende Beschäftigung).

3) Die gegenwärtige Austeritätspolitik wirkt auf JEDEN Fall destruktiv - egal ob unter den jetzigen Rechtsverhältnissen, oder unter angeglichenen, und muß beendet werden.

4) M.E. braucht man auch in einer funktionierenden Währungsunion mit angeglichenen Rechtsgrundlagen ein "surplus recycling", d.h. Umverteilung von den wirtschaftlich stärkeren zu den wirtschaftlich schwächeren Regionen.

Das als Alternative zu

a) Schäubles Programm, das nur destruktiv wirkt
b) Varoufakis' Programm, das den Griechen m.E. nicht das bringen würde, was sie sich wünschen, sondern wiederum Geld in den Taschen von den Eliten, die die Griechen eigentlich loswerden wollen.

Wir wollten eine bisher nicht diskutierte Möglichkeit zur Diskussion stellen, wie man ggf. die Währungsunion zum funktionieren bringen könnte - wenn man das möchte. Und wie ggf. die Griechen das bekommen könnten, was sie wollen - leider auch mit den vorhersehbaren, aber von ihnen selbst sicher weder erwarteten noch gewünschten Nebenfolgen, die "come with the package".

Es besteht auch jederzeit die Möglichkeit, weiterzumachen wie bisher, oder die Währungsunion aufzulösen, oder einen europäischen New Deal zu machen (wie Varoufakis vorschlägt).

Beste Grüße.

moneymind schrieb:
Vielleicht wäre es - um die Diskussion über die Fach- und AG-Grenzen in Gang zu bringen - eine gute Idee, wenn jemand diesen Diskussionsfaden auch in die Foren der AG Wirtschaft und der AG Recht posten könnte. Und dortige Antworten auch hier.

Hat jemand von hier auch dort Schreibberechtigung und könnte das übernehmen?

Gruß
Wolfgang

moneymind schrieb:
Hallo Tensor,

Ich fand die Diskussion auch sehr hilfreich. Sie war ein- und an manchen Stellen sogar ERleuchtend.

Das freut mich besonders deshalb, weil wir ja keinerlei Theorien erzählt haben, sondern einfach nur paar zentrale Aspekte unseres westlichen Rechtssystems beschrieben haben, die den meisten so selbstverständlich geworden ist, daß sie gar nicht mehr drüber nachdenken.

Zusammenfassend haben wir herausgearbeitet, dass wir ein funktionierendes Staatswesen benötigen, um Rechtsansprüche innerhalb einer Marktwirtschaft durchzusetzen... soweit ich das verstanden habe.

Ja, ohne Staat, der Eigentum und Zivilrecht (Vertragsrecht) garantiert, kein Kredit, kein Business, keine Bilanzen und kein Markt, sondern nur direkt persönliche Tauschbeziehungen, verwandtschaftliche Solidarität, Selbsthilfe oder Schlichtung bei Konflikten (keine unabhängigen Gerichte) etc.

(für mich) offene Fragen:

- Definition des Wirkungsraumes für dieses Staatswesen (hier konkret Europa vs. europäische Nationalstaaten)

Eine absolut zentrale Frage. Brauchen wir, weil die Märkte globalisieren und internationale Großunternehmen Staaten gegeneinander ausspielen und deren Regulations- und Sozialstaatskapazitäten untergraben können, über die Nationalstaaten hinausgehenden größere staatliche Strukturen?

Die EU ist kein Staat, sondern ein völkerrechtlicher Herrschaftsverband. Völkerrecht ist kein wirksames "Recht", weil eine unabhängige übergeordnete Instanz mit Gewaltmonopol fehlt, die es garantieren und durchsetzen könnte.

Wie sind die Nationalstaaten historisch entstanden? In einer chaotischen Situation des europäischen Bürgerkriegs (30j. Krieg), nur über eine absolutistische Zwischenphase (Hobbes: Leviathan; Zeitalter von Merkantilismus und Absolutismus, 16.-18. Jhdt). Zustände, wie wir sie heute im Nahen Osten und in Afrika haben (wo aber keine europäische Renaissance (Ideenwelt der Aufklärung) stattgefunden hat, sondern in den Köpfen eher aus dem Westen importierter Vulgärliberalismus (herrschende "Ökonomie") mit islamischem Fundamentalismus konkurriert.

Demokratische Revolutionen gab es erst NACH der Etablierung einer absolutistischen Zentralinstanz mit Gewaltmonopol (1789 F, 1848 erster Versuch D; 1776 USA - Sonderfall, da brit. Kronkolonie, dort zunächst kein Bürgerkrieg (der kam später).

Brauchen wir einen europäischen Rechtsstaat (die EU ist keiner), und wenn ja, wie kommen wir da hin? Oder ist es besser, zu den Nationalstaaten zurückzukehren (wo Recht - in unterschiedlicher Qualität allerdings - schon etabliert ist)?

- Ist Vereinheitlichung des Rechtssystems (u.a. Steuerrecht) in Europa sinnvoll, wenn Wirkungsraum = Europa?

Zuverlässig durchsetzbares Privat- und Steuerrecht wäre m.E. Voraussetzung für eine funktionierende Währungsunion. Die Eurozone ist die erste Währungsunion, die VOR der Rechtsunion kam - wegen der liberalen Ideologie, die ihrer Planung in den letzten Jahrzehnten leider Pate stand.

- Wie soll das Staatswesen aussehen, das den aktuell in Entartung begriffenen Kapitalismus wieder auf etwas zurückführt, das der Mehrheit und nicht einer kleinen Minderheit dient?

Genau das ist die wichtigste Frage. Meine Antwort: Wiederherstellung einer realkapitalistischen Spielanordnung und systematischen "surplus recycling" (Varoufakis).

http://de.scribd.com/doc/218788496/Stephan-Schulmeister-Ein-New-Deal-fur-Europa#scribd

Das geht nur über internationale Kooperation, und größere staatliche Strukturen ermöglichen das am besten, weil so Konkurrenzparadoxa zwischen Staaten ausgeschaltet werden können.

Die staatlichen Strukturen selbst aber anders als despotisch zu schaffen, dürfte nicht einfach sein (wenn vielleicht auch nicht unmöglich ... wäre aber wohl das erste mal in der Geschichte).

Mir ist schon klar, daß das keine populäre Ansicht ist und provozierend wirkt. Ich will damit auch nicht werten, ich weiß wirklich nicht, was in dieser Situation das Beste ist.

Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind unglaublich groß ... einfach unglaublich riesig. Sehr schwer, da allzu optmistisch zu sein.

Aber handeln müssen wir, und sei es nur, daß wir uns entscheiden, nichts zu tun und abzuwarten und zuzuschauen, ohne einzugreifen, um nichts falschzumachen - auch das ist eine Entscheidung und eine Handlung.

- Welche politische Arbeit können wir als PP in diesem Kontext leisten?

Ja, genau diese Fragen müssen wir m.E. stellen.

Das sind nur meine Fragen. Vielleicht habt ihr andere.
Auf jeden Fall sollten wir offene Fragen diskutieren und die gestrige Theorie-Betankung nicht nutzlos verpuffen lassen.

Aus meiner Sicht nur empirischer "Realitäts-Hinweis" (geltendes Recht hier, was anderswo nicht gilt) und gerade keine "Theorie"-Betankung. Wir wollten eher "Theorie auf den Boden der rechtlichen Tatsachen zurückholen" und zeigen, daß es realitätsfremd ist, sich nur aufs "Geldsystem" zu konzentrieren und das "Recht", "Europa" etc. anderen zu überlassen.

Um die immensen Herausforderungen, vor denen Europa steht, zu verstehen, brauchen wir eine integrierte Perspektive, und von Staat und Recht her (im Kulturvergleich zu vorstaatlichen Gesellschaftsformen) lassen sich Wirtschaft, Recht und Politik integriert und im Zusammenhang betrachten. Nur so kann man auch zu integrierten Handlungsstrategien kommen.

Wir wollten das in Ansätzen ermöglichen und drauf hinweisen, daß auch andere jetzt endlich daran arbeiten, allen voran Frau Pistor mit ihrer Legal Theory of Finance:

*Katharina Pistor: Global Finance - made in Law*
https://www.youtube.com/watch?v=hWgaTiXOGqQ

Ihr hoffentlich bald erscheinendes Buch zur Krise der Eurozone aus Sicht der Legal Theory of Finance diskutiert sie hier in Brasilien mit Kollegen:
https://www.youtube.com/watch?v=_XFgOtrNsTI

Selten, daß man solche Leute findet - gut, daß es sie gibt.

Verlinkung ihrer Arbeiten auf der Quellenseite mache ich demnächst noch.

Danke + Gruß!

In diesem Zusammenhang mein Dank an Arne, Moneymind und Nicolas für die Vorbereitung und Durchführung des Events.

Gerne, ich freue mich, wenn wir neue Denkanstöße geben konnten.

Wolfgang





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