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[AG-GOuFP] Die Konjunktur der Marktreligiösität im Kontext der kapitalistischen Realgeschichte
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- Subject: [AG-GOuFP] Die Konjunktur der Marktreligiösität im Kontext der kapitalistischen Realgeschichte
- Date: Wed, 11 Jun 2014 18:11:33 +0000
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Die These, daß die neoklassische Ökonomie keine empirische Wirtschaftstheorie, sondern ein fiktives Modell und Basis eines quasi-religiösen Weltbilds darstellt, das in den vergangenen 30 Jahren nach und nach den Status einer (nicht als solcher erkannten) "heimlichen Weltreligion" erreicht hat, mit der Finanzkrise 2008ff. aber erste Risse bekommen hat, hatte ich ja kürzlich hier schon mal gepostet.
Der Linzer Ökonom und Kommunikationswissenschaftler Walter Ötsch ist dieser Art von Religiösität genauer nachgegangen.
http://www.metropolis-verlag.de/Mythos-Markt/780/book.do
In seinem Buch "Mythos Markt", erschienen im Metropolis Verlag in Marburg, liefert er eine Geschichte marktradikalen Denkens, das zunächst als (defensive) Gegenideologie zum damals als mächtiger Gegener wahrgenommenen Kommunismus/Sozialismus und dem als in eine sozialistische Richtung führend wahrgenommenen Keynesianismus entstand.
Er beginnt seine Geschichte mit Ludwig v. Mises (dem Begründer der direkt gegen den damaligen Austromarxismus gerichteten "Österreichischen Schule"), analysiert und kritisiert die zentralen begrifflichen Elemente der Neoklassik.
Er beschließt mit einer Liste der (sprachlichen) Muster marktradikaler Propaganda:
http://www.sozialekompetenz.org/mm/ (links auf "Liste der Muster" klicken).
Als ich dieser Tage einen Blick in das Buch "Geschichte der Staatsgewalt" von Wolfgang Reinhard warf, das im Jahr 2000 (also zu einer Zeit, in der Marktfundamentalismus in Deutschland fast auf dem Höhepunkt seiner Popularität war) erschienen ist, ist mir bewußt geworden, wie stark gerade auch theorie-inkompetente Historiker, die über die Geschichte des Kapitalismus schreiben, von der marktradikalen Ideologie beeinflußt wurden.
Reinhard sieht in den seit den 80ern angewachsenen Staatsschulden, den Privatisierungswellen usw. eine unausweichliche, quasi nicht umkehrbare "Krise des Staates" (ähnlich sein israelischer Kollege van Creveld in seinem Buch "Aufstieg und Niedergang des Staates"), ohne zu erkennen, welche ideologischen Entwicklungen dem zugrundeliegen, und ohne zu erkennen, daß es in der Geschichte des Kapitalismus zusammen mit seinen "langen konjunkturellen Wellen" auch eine "Konjunktur der Ideologien" gibt, und ein Hin-und-Herpendeln zwischen Markt- und Staatsdominanz.
Die ideologischen Wirkungen des neoliberalen Diskurses betreffen also nicht nur die Politiker und die Öffentlichkeit, sondern auch andere Sozialwissenschaftler, deren Perspektive über die letzten 30 Jahre ebenfalls marktradikal beeinflußt wurde - bis hin zu ihren Deutungsmustern der Geschichte. Generell kann man wohl sagen: je weniger jemand Geldwirtschaft verstanden hat, desto eher denkt er spontan einzelwirtschaftlich und ist daher anfällig für die neoliberale Ideologie.
Und die meisten Sozialwissenschaftler haben nie etwas anderes gesehen als das staatliche Schul- und Bildungswesen, d.h. noch niemals in ihrem Leben etwas mit Bilanzen zu tun gehabt. Wie sollen sie da die Bedeutung des Lautenbach-Satzes, "bist Du Volkswirt, beachte stets des anderen Gegenbuchung" verstehen? Stattdessen konstruieren sie Wirtschaft in ihrem Hirn spontan als Gütertauschprozess und Geld als ein besonderes "Gut" (das "keine Passivseite" hat, sondern wie Sacheigentum verbucht wird, nur aktiv beim Eigentümer).
Fast alle, die den "money view" vorangebracht haben, hatten dagegen PRAKTISCH irgendetwas mit Banken und Kredit zu tun und hatten KEIN auf universitär-akademisches Sesselfurzertum im lebenslang garantierten Angestelltenverhältnis beschränktes Leben: L. Albert Hahn war Privatbanker, Lautenbach und Gestrich hatten in Banken gearbeitet, Keynes war Spekulant, etc.
INET-Mäzen George Soros beschreibt das oben angesprochene historische "hin-und-her" zwischen Markt- und Staatsdominanz in seinem Buch "Alchemy of Finance" in einem Kapitel mit dem Titel "The Credit and Regulatory Cycle" sehr scharfsinnig:
Während einer Kreditexpansion ("Aufschwung", "Wachstumsphase") sehen Unternehmen die steigenden Gewinnmöglichkeiten auch als Anreize, Regulierungen zu umgehen und wenn möglich abzubauen (für letzteres dient auch deren ideologische De-Legitimierung mithilfe marktfundamentalistischer Diskurse).
Dieser Erfolg führt zur Entstehung kreditärer "Bubbles", deren Platzen mit massenhaften Pleiten dann eine Krise auslöst, die wieder ein Bewußtsein für die Notwendigkeit von staatlichen Regulierungen schafft. Werden diese umgesetzt, entsteht zunächst wieder eine "neue Spielanordnung", die aber durch dieselben ihr immanenten Kräfte seitens der Marktteilnehmer (Unternehmen) wieder umgangen, angegriffen und ausgehöhlt werden, wie das schon im letzten Wachstumszyklus der Fall war.
Interessant an Soros' Sicht der Dinge ist nun, daß er die nach der Weltwirtschaftskrise entstandenen neuen Möglichkeiten staatlicher, antizyklischer Geld- und Fiskalpolitik als wesentliche Prämisse für die unternehmerischen Strategien zum Umgehen von Regulationen nach 1945ff beschreibt. Die Unternehmen kennen ja die antizyklischen Strategien ebenfalls, rechnen mit diesen, und versuchen, sie für ihre Zwecke zu nutzen bzw zu beeinflussen.
Das verkompliziert die Entwicklung und das Verhältnis von Marktakteuren und Staat im Vergleich zu früher und macht sie schwieriger durchschaubar.
Mir scheint der Friedman'sche Monetarismus dies zu reflektieren, denn oberflächlich gesehen räumt Friedman dem Geld ja - ähnlich wie Keynes das wollte - eine wichtige Rolle ein (fällt aber real einfach in wirklichkeitsfremde, verkürzte quantitätstheoretische Vorstellungen zurück).
Ganz besonders deutlich wird diese Berücksichtigung aber in den erfolgreichen Bankenstrategien, sich vom Staat erfolgreich aus selbstverschuldeten Pleiten retten zu lassen. Hier wird das Prinzip "Markt", das ja auch unternehmerische Verantwortung bedeutet, von Marktakteuren selbst pervertiert, die ähnliches noch kurz zuvor als "Sozialismus" bezeichnet und verteufelt hätten, nun aber mit der Erpressungsstrategie des "drohenden Systemkollaps" Gewinne privatisieren und Verluste sozialisieren: Trittbrettfahrerverhalten hoch drei.
Interessant an Soros ist aber auch, daß er eben auch Wirtschafts"theorien" als Mittel sieht, bestimmten Strategien (z.B. des Umgehens von oder Infragestellens und Beseitigens von Regulationen seitens der Unternehmen) dienende rhetorische bzw. propagandistische Werkzeuge darzustellen.
Als solche analysiert Ötsch die Neoklassik und den darauf beruhenden Diskurs in seinem Buch ebenfalls.
Wir müssen also Theorien immer auch theoriegeschichtlich einsortieren, und die Theoriegeschichte wiederum realgeschichtlich in die kapitalistischen Krisenzyklen einordnen und (auch) als Ausdruck der Interessen großer gesellschaftlicher Gruppen betrachten. Meistens werden dabei Kapital und Arbeit unterschieden; Schulmeister fügt das Finanzkapital als dritte Gruppe und drittes soziales Interessenbündel hinzu).
Für Marx war eine solche Sicht übrigens selbstverständlich: "Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte", schrieb er in einem programmatischen Text von 1846).
- [AG-GOuFP] Die Konjunktur der Marktreligiösität im Kontext der kapitalistischen Realgeschichte, moneymind, 11.06.2014
- Re: [AG-GOuFP] Die Konjunktur der Marktreligiösität im Kontext der kapitalistischen Realgeschichte, moneymind, 11.06.2014
- Re: [AG-GOuFP] Wirtschaftstheorien als Werkzeuge im Klassenkampf, was: Marktreligiösität ..., moneymind, 13.06.2014
- Re: [AG-GOuFP] Die Konjunktur der Marktreligiösität im Kontext der kapitalistischen Realgeschichte, Ex-SystemPirat, 11.06.2014
- Re: [AG-GOuFP] Die Konjunktur der Marktreligiösität im Kontext der kapitalistischen Realgeschichte, Rudi, 12.06.2014
- Re: [AG-GOuFP] Die Konjunktur der Marktreligiösität im Kontext der kapitalistischen Rea, Axel Grimm, 12.06.2014
- Re: [AG-GOuFP] die Ösis, was: Konjunktur der Marktreligiösität ..., moneymind, 12.06.2014
- Re: [AG-GOuFP] Die Konjunktur der Marktreligiösität im Kontext der kapitalistischen Realgeschichte, moneymind, 11.06.2014
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