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ag-geldordnung-und-finanzpolitik - Re: [AG-GOuFP] Die Konjunktur der Marktreligiösität im Kontext der kapitalistischen Realgeschichte

ag-geldordnung-und-finanzpolitik AT lists.piratenpartei.de

Betreff: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik

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Re: [AG-GOuFP] Die Konjunktur der Marktreligiösität im Kontext der kapitalistischen Realgeschichte


Chronologisch Thread 
  • From: Ex-SystemPirat <systempirat AT live.de>
  • To: ag-geldordnung-und-finanzpolitik AT lists.piratenpartei.de
  • Subject: Re: [AG-GOuFP] Die Konjunktur der Marktreligiösität im Kontext der kapitalistischen Realgeschichte
  • Date: Wed, 11 Jun 2014 22:12:37 +0200
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-geldordnung-und-finanzpolitik>
  • List-id: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik <ag-geldordnung-und-finanzpolitik.lists.piratenpartei.de>



Am 11.06.2014 20:11, schrieb moneymind:
Die These, daß die neoklassische Ökonomie keine empirische
Wirtschaftstheorie, sondern ein fiktives Modell und Basis eines
quasi-religiösen Weltbilds darstellt, das in den vergangenen 30 Jahren
nach und nach den Status einer (nicht als solcher erkannten) "heimlichen
Weltreligion" erreicht hat, mit der Finanzkrise 2008ff. aber erste Risse
bekommen hat, hatte ich ja kürzlich hier schon mal gepostet.

Der Linzer Ökonom und Kommunikationswissenschaftler Walter Ötsch ist
dieser Art von Religiösität genauer nachgegangen.

http://www.metropolis-verlag.de/Mythos-Markt/780/book.do

In seinem Buch "Mythos Markt", erschienen im Metropolis Verlag in
Marburg, liefert er eine Geschichte marktradikalen Denkens, das zunächst
als (defensive) Gegenideologie zum damals als mächtiger Gegener
wahrgenommenen Kommunismus/Sozialismus und dem als in eine
sozialistische Richtung führend wahrgenommenen Keynesianismus entstand.

Er beginnt seine Geschichte mit Ludwig v. Mises (dem Begründer der
direkt gegen den damaligen Austromarxismus gerichteten "Österreichischen
Schule"), analysiert und kritisiert die zentralen begrifflichen Elemente
der Neoklassik.

Er beschließt mit einer Liste der (sprachlichen) Muster marktradikaler
Propaganda:

http://www.sozialekompetenz.org/mm/ (links auf "Liste der Muster" klicken).

Als ich dieser Tage einen Blick in das Buch "Geschichte der
Staatsgewalt" von Wolfgang Reinhard warf, das im Jahr 2000 (also zu
einer Zeit, in der Marktfundamentalismus in Deutschland fast auf dem
Höhepunkt seiner Popularität war) erschienen ist, ist mir bewußt
geworden, wie stark gerade auch theorie-inkompetente Historiker, die
über die Geschichte des Kapitalismus schreiben, von der marktradikalen
Ideologie beeinflußt wurden.

Reinhard sieht in den seit den 80ern angewachsenen Staatsschulden, den
Privatisierungswellen usw. eine unausweichliche, quasi nicht umkehrbare
"Krise des Staates" (ähnlich sein israelischer Kollege van Creveld in
seinem Buch "Aufstieg und Niedergang des Staates"), ohne zu erkennen,
welche ideologischen Entwicklungen dem zugrundeliegen, und ohne zu
erkennen, daß es in der Geschichte des Kapitalismus zusammen mit seinen
"langen konjunkturellen Wellen" auch eine "Konjunktur der Ideologien"
gibt, und ein Hin-und-Herpendeln zwischen Markt- und Staatsdominanz.

Die ideologischen Wirkungen des neoliberalen Diskurses betreffen also
nicht nur die Politiker und die Öffentlichkeit, sondern auch andere
Sozialwissenschaftler, deren Perspektive über die letzten 30 Jahre
ebenfalls marktradikal beeinflußt wurde - bis hin zu ihren
Deutungsmustern der Geschichte. Generell kann man wohl sagen: je weniger
jemand Geldwirtschaft verstanden hat, desto eher denkt er spontan
einzelwirtschaftlich und ist daher anfällig für die neoliberale Ideologie.

Und die meisten Sozialwissenschaftler haben nie etwas anderes gesehen
als das staatliche Schul- und Bildungswesen, d.h. noch niemals in ihrem
Leben etwas mit Bilanzen zu tun gehabt. Wie sollen sie da die Bedeutung
des Lautenbach-Satzes, "bist Du Volkswirt, beachte stets des anderen
Gegenbuchung" verstehen? Stattdessen konstruieren sie Wirtschaft in
ihrem Hirn spontan als Gütertauschprozess und Geld als ein besonderes
"Gut" (das "keine Passivseite" hat, sondern wie Sacheigentum verbucht
wird, nur aktiv beim Eigentümer).


Gerade wenn es um die sozialwissenschaftliche Beschreibung des Marktes geht, kann ich das Kapitel "Der Markt als innere Umwelt des Wirtschaftssystems" in "Die Wirtschaft der Gesellschaft" empfehlen. Auch wenn die ganze Tragweite dieses Konzepts nur im Kontext der Systemtheorie Luhmanns deutlich wird, kann das Kapitel auch so genug Denkanstöße für eine Betrachtung des Marktes geben, die es ermöglicht, sich von den traditionellen Konzepten zu distanzieren und neue Perspektiven zu entwickeln.

Fast alle, die den "money view" vorangebracht haben, hatten dagegen
PRAKTISCH irgendetwas mit Banken und Kredit zu tun und hatten KEIN auf
universitär-akademisches Sesselfurzertum im lebenslang garantierten
Angestelltenverhältnis beschränktes Leben: L. Albert Hahn war
Privatbanker, Lautenbach und Gestrich hatten in Banken gearbeitet,
Keynes war Spekulant, etc.

INET-Mäzen George Soros beschreibt das oben angesprochene historische
"hin-und-her" zwischen Markt- und Staatsdominanz in seinem Buch "Alchemy
of Finance" in einem Kapitel mit dem Titel "The Credit and Regulatory
Cycle" sehr scharfsinnig:

Während einer Kreditexpansion ("Aufschwung", "Wachstumsphase") sehen
Unternehmen die steigenden Gewinnmöglichkeiten auch als Anreize,
Regulierungen zu umgehen und wenn möglich abzubauen (für letzteres dient
auch deren ideologische De-Legitimierung mithilfe
marktfundamentalistischer Diskurse).

Dieser Erfolg führt zur Entstehung kreditärer "Bubbles", deren Platzen
mit massenhaften Pleiten dann eine Krise auslöst, die wieder ein
Bewußtsein für die Notwendigkeit von staatlichen Regulierungen schafft.
Werden diese umgesetzt, entsteht zunächst wieder eine "neue
Spielanordnung", die aber durch dieselben ihr immanenten Kräfte seitens
der Marktteilnehmer (Unternehmen) wieder umgangen, angegriffen und
ausgehöhlt werden, wie das schon im letzten Wachstumszyklus der Fall war.

Interessant an Soros' Sicht der Dinge ist nun, daß er die nach der
Weltwirtschaftskrise entstandenen neuen Möglichkeiten staatlicher,
antizyklischer Geld- und Fiskalpolitik als wesentliche Prämisse für die
unternehmerischen Strategien zum Umgehen von Regulationen nach 1945ff
beschreibt. Die Unternehmen kennen ja die antizyklischen Strategien
ebenfalls, rechnen mit diesen, und versuchen, sie für ihre Zwecke zu
nutzen bzw zu beeinflussen.

Das verkompliziert die Entwicklung und das Verhältnis von Marktakteuren
und Staat im Vergleich zu früher und macht sie schwieriger durchschaubar.

Mir scheint der Friedman'sche Monetarismus dies zu reflektieren, denn
oberflächlich gesehen räumt Friedman dem Geld ja - ähnlich wie Keynes
das wollte - eine wichtige Rolle ein (fällt aber real einfach in
wirklichkeitsfremde, verkürzte quantitätstheoretische Vorstellungen
zurück).

Ganz besonders deutlich wird diese Berücksichtigung aber in den
erfolgreichen Bankenstrategien, sich vom Staat erfolgreich aus
selbstverschuldeten Pleiten retten zu lassen. Hier wird das Prinzip
"Markt", das ja auch unternehmerische Verantwortung bedeutet, von
Marktakteuren selbst pervertiert, die ähnliches noch kurz zuvor als
"Sozialismus" bezeichnet und verteufelt hätten, nun aber mit der
Erpressungsstrategie des "drohenden Systemkollaps" Gewinne privatisieren
und Verluste sozialisieren: Trittbrettfahrerverhalten hoch drei.

Interessant an Soros ist aber auch, daß er eben auch
Wirtschafts"theorien" als Mittel sieht, bestimmten Strategien (z.B. des
Umgehens von oder Infragestellens und Beseitigens von Regulationen
seitens der Unternehmen) dienende rhetorische bzw. propagandistische
Werkzeuge darzustellen.

Als solche analysiert Ötsch die Neoklassik und den darauf beruhenden
Diskurs in seinem Buch ebenfalls.

Wir müssen also Theorien immer auch theoriegeschichtlich einsortieren,
und die Theoriegeschichte wiederum realgeschichtlich in die
kapitalistischen Krisenzyklen einordnen und (auch) als Ausdruck der
Interessen großer gesellschaftlicher Gruppen betrachten. Meistens werden
dabei Kapital und Arbeit unterschieden; Schulmeister fügt das
Finanzkapital als dritte Gruppe und drittes soziales Interessenbündel
hinzu).

Für Marx war eine solche Sicht übrigens selbstverständlich: "Wir kennen
nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte", schrieb
er in einem programmatischen Text von 1846).





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