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ag-umwelt - Re: [Ag-umwelt] [Energiepolitik] Energiesteuer (auf Kraftstoffe)

ag-umwelt AT lists.piratenpartei.de

Betreff: Ag-umwelt mailing list

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Re: [Ag-umwelt] [Energiepolitik] Energiesteuer (auf Kraftstoffe)


Chronologisch Thread 
  • From: Johannes Nix <johannes.nix AT gmx.net>
  • To: Mailingliste der AG Energiepolitk <energie_und_infrastruktur AT lists.piratenpartei.de>
  • Cc: ag-steuerpolitik AT lists.piratenpartei.de, mmarichter AT aol.com, AG Umwelt <ag-umwelt AT lists.piratenpartei.de>
  • Subject: Re: [Ag-umwelt] [Energiepolitik] Energiesteuer (auf Kraftstoffe)
  • Date: Sat, 21 Jul 2012 18:46:33 +0200
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-umwelt>
  • List-id: <ag-umwelt.lists.piratenpartei.de>

Hallo Moritz,

Am Thu, 19 Jul 2012 02:45:52 +0200
schrieb "Moritz Richter" <mmarichter AT aol.com>:

> Ich glaube nicht, dass Märkte so zukunftsblind sind und Unternehmen
> nur für die nächsten 4 Jahre planen. Unternehmen tätigen langfristige
> Investitionen und hier fließen die Erwartungen über Güterpreise etc
> eines langen Zeitraums mit ein.

Da sehe ich die Dinge genauso wie Pixorat. Ein ehemaliger
Kollege von mir arbeitet heute in einer internationalen
Unternehmensberatung, die im Energiesektor tätig ist.
Was er berichtet ist, dass sich praktisch niemand
Gedanken macht um längerfristige Entwicklungen.


>
> Bei einem stark steigenden Ölpreis werden vor allem die Länder mit
> niedrigen BIP leiden. Hier wird die Preiselastizität deutlich höher
> als in D sein, unter anderem auch deshalb, weil die Endpreise
> aufgrund einer niedrigeren Besteuerung stärker schwanken.

Das Zauberwort heißt hier Energieeffizienz. Ich denke
da gern zurück an meinen Aufenthalt in Kolumbien. Da fahren
auch dezidierte Vertreter der Mittelklasse mit dem Bus
zur Arbeit. Das kostet sie zwar relativ viel Geld -
oft etwa den Gegenwert von einem halben Stundenlohn.
Aber der Energiekostenanteil ist viel geringer,
als wenn ein deutscher Angestellter 30 Kilometer
mit einem Audi A7 zur Arbeit düst.

Jetzt stell dir vor, der Ölpreis verzehnfacht sich.
Für wen ist dies das größere Problem? Für denjenigen,
der vorher Energie ineffizienter genutzt hat. Und
das ist der deutsche Angestellte.

> Wenn der
> Ölpreis durch die Decke gehen sollte, und die Weltwirtschaft
> zusammenbricht wird auch die deutsche Wirtschaft genauso leiden.

Das spräche dafür, wieder stärker die Binnenwirtschaft zu fördern.
Dummerweise brauchen wir die Exportwirtschaft, um die
immer teureren Energieimporte zu finanzieren.

>
> Durch eine Nichtbesteuerung von Energie wachsen die technologische
> Entwicklung und das Bruttoinlandsprodukt schneller, als bei einer
> Besteuerung von Energie. Ein hoher technologischer Entwicklungsstand
> schützt vor sich verteuernden Ressourcen, da mehr
> Substitutionstechnologien entwickelt wurden.

Das finde ich so nicht schlüssig. Solange es keinen direkten
Anreiz in Form eines kurzfristigen Vorteils gibt, solche
Substitutionstechnologien zu entwickeln, wird da gar nichts
entwickelt.

Kleines Beispiel aus dem Maschinen- und Anlagenbau (wo
ich beschäftigt bin): Man kann eine Menge Dinge tun,
um z.B. Werkzeugmaschinen energieeffizienter zu gestalten.
Angefangen beispielsweise mit einer besseren Dimensionierung
von Kühlungen und Hydraulikpumpen. Auf die Lebensdauer
einer Maschine summiert kann die eingesparte
Energie auch heute schon soviel kosten wie
die Maschine selbst.

Es wird praktisch aber nichts gemacht, was sich nicht innerhalb von
zwei Jahren amortisiert. Die Lebensdauer eine solchen Anlage
ist aber typischerweise um 20 Jahre. Mit einer Besteuerung
in Verbund mit gezielter Förderung von Effizienztechnologie
(wie Gunnar meint: Rechte Tasche, Linke Tasche) ließe
sich diese Entwicklung nachdrücklich anspornen _und_
man würde gesamtwirtschaftlich Geld sparen. PLUS man
hat bei sich verteuernden Energiekosten einen klaren
Wettbewerbsvorteil, auch international.


> Ein hohes
> Bruttoinlandsprodukt schützt vor sich verteuernden Ressourcen, da
> sich eine reiche Nation die Ressourcen gegenüber einer armen Nation
> leisten kann.

Zu dem, was ich schon anmerkte, noch: Das gilt nur, wenn
die gesamte Energieproduktivität besser ist.

> Wenn man also mit einer hohen Energiesteuer das
> Wirtschaftswachstum und die technologische Entwicklung bremst, ist
> das für die "Risikovorsorge" auch schädlich.

Der Witz ist ja, dass diese die technische Entwicklung
erst in Gang bringt.

>
> Ich habe auch kein Vertrauen darauf, dass Menschen schlau und vor
> allem informiert genug sind, um in Bezug auf die Ressource Öl immer
> die rational richtigen Entscheidungen zu treffen, aber ich glaube
> dass das gesamte System schon sehr robust ist.

Das System hat bisher wohl funktiniert, aber es ist in
keiner Weise tragfähig. Wir verbrauchen seit ca. 30 Jahren
mehr Öl als neu gefunden wird, und die Diskrepanz wird
immer größer.

Dieser Bestandsaufnahme stimmt auch die Internationale
Energieagentur (IEA) zu - das ist die Organisation
der OECD Staaten, die gefährlichen Verknappungen
vorbeugen sollte. Jetzt läuten ihre Top-Vertreter wie
Tanaka und Birol, wie sie selbst sagen, laut die
Alarmglocken und fast niemand will es hören.

> Die
> Katastrophenszenarien sind immer ausgeblieben, weil die Erbauer der
> Szenarien diesen und jenen Faktor oder technischen Fortschritt nicht
> bedacht haben.

Erstens kann man aus früheren nicht eingetretenen negativen
Szenarien nicht schließen, dass keine negativen Szenarien
in der Zukunft eintreten. Das "immer", welches Du benutzt,
ist also keine zulässige Argumentation. Sonst könnte ich
auch argumentieren: "Ich bin diese Woche _immer_ über
rote Ampeln gefahren, also wird auch in Zukunft nichts
passieren".

Zweitens gibt es mit der schon erwähnten Internationalen
Energieagentur und der ASPO (Association for the Study of
Peak OIl and Gas) zwei Organisationen, die erstens
explizit den Auftrag haben, sich mit der Versorgungssicherheit
mit Erdöl zu beschäftigen und bei Problemen zu warnen.
Sie haben sehr umfangreiches Datenmaterial.

Wir reden da nicht von Futurologie sondern von
Voraussagen, die unsere nächste Zukunft in 10 bis 20
Jahren betreffen. Bei einem so trägen System wie
der Energieerzeugung und für so kurze Zeit
kann man da gut extrapolieren - man muss bedenken
dass die Erschließung einer neu gefundenen Quelle
in der Regel länger als zehn Jahre braucht. Das Fazit ist
klar: Wenn wir einfach so weiter machen, gibt es
früher oder später einen regelrechten Crash.

Übrigens ist die absolute Menge der verbleibenden
Reserven nicht allein ausschlaggebend. Die könnte
sich noch um 10 oder 15 % ändern. Aber wichtig
ist der Punkt, an dem die exponentiell steigende
Kurve der nachgefragten Menge die etwa glockenförmige
Kurve der Produktionskapazitäten schneidet.

Drittens gibt es nach menschlichen Ermessen
definitiv keine(!) Energiequelle, welche die Leistung
des Erdöls im Transportsektor in den nächsten zehn Jahren weitgehend
übernehmen könnte. Es gibt _keinen_ anderen Energieträger,
mit dem sich eine vergleichbare Energiedichte und
Leistungsgewicht erreichen läßt. Elektromobilität
in Form von Akkumulator-betriebenen PKW ist sicher
prinzipiell eine Option, wenn auch mMn eine gewisse
Skepsis angebracht ist. Für den Bereich des Gütertransports
gibt es - abgesehen von Oberleitungsfahrzeugen -
keinen vergleichbaren Ersatz.


>
> Nunja, hier lassen sich bestimmt auch wieder viele Gegenargumente
> finden. Die Materie ist bekanntlich komplex.

Wenn man alles berücksichtigt, ist sie das schon, aber
der entscheidende Sachverhalt ist sehr einfach: Erdöl ist
endlich, läßt sich nicht mehr in ausreichendem
Umfang finden und wird sich daher bei steigendem
Bedarf deutlich verknappen. Wie wir gesehen haben
und wie Erdölgeologen auch vorher schon darlegten,
führen Preissteigerungen dann nicht mehr zu
einem Anstieg der Förderkapazitäten.

Und wir sehen ganz klar, dass der Markt das
nicht regelt. Das hat er vor 1973 auch nicht getan
- obwohl der Peak der amerikanischen Ölproduktion
schon 1956 prognostiziert und publiziert sowie
in der Ölindustrie diskutiert wurde.


> Ich bezweifle nur
> wirklich stark, dass jemand mit Bestimmtheit sagen kann, dass eine
> Besteuerung von Energie aus Gründen der Risikovorsorge richtig ist.

Besteuerung kann auch die Wirtschaft belasten. Deswegen ist
eben eine aufkommensneutrale Besteuerung wichtig, das ist ja
genau das was wir im Positionspapier zur Risikovorsorge
vorschlagen.

Ein sehr wesentlicher Punkt, der für eine Besteuerung spricht, ist
folgender: Wir brauchen, wenn wir keinen wirtschaftlichen Kollaps
erleben wollen, massive Effizienzgewinne. Nur ist es leider so, dass
unter normalen Umständen Effizientgewinne wieder zu
einem Mehrverbrauch führen, wir also Rebound-Effekte haben.
Diese müssen wir eindämmen, und das gelingt durch
die Besteuerung von Energie.

Im Übrigen ist eine Besteuerung von Energie im Umlageverfahren
gar nichts neues, sondern wurde mit der Ökosteuer schon
eingeführt. Es gibt heute einen weitgehenden, auch parteiübergreifenden
Konsens, dass dies grundsätzlich sinnvoll ist.

http://de.wikipedia.org/wiki/%C3%96kosteuer_%28Deutschland%29

Der Punkt, der hinzukommt ist, das dieses Werkzeug
als Lenkungsmittel zu einer Vorsorge gegen Peak Oil genutzt
werden soll.


> Dafür gibt es viel zu viele wirkende Faktoren, die unbekannt sind.

Das gilt für volkswirtschaftliche Prozesse allgemein, aber
nicht für eine Ressource die so grundlegende Bedeutung
hat wie Erdöl. In einen biologischen Organismus laufen auch sehr
viele Prozesse ab, und es gibt sehr viele schwer vorhersagbare
Faktoren. Trotzdem kann man sehr gut vorhersagen, was passiert wenn man
z.B. einen Hund in einen kleinen Raum ohne Sauerstoffzufuhr
einsperrt. Sauerstoff ist fundamental für Säugetiere,
billige Energie für unsere bestehende Wirtschaft.

> Das kann man gar nicht errechnen. Da gibt es dann eine Studie, die
> dies sagt und dann eine Studie, die genau das Gegenteil behauptet.

Es gab in der Vergangenheit einen Dissens zwischen IEA und ASPO.
Der betraf im Kern die Frage, wie weit man erhöhte Ausbeutungsraten
durch neue Technologie als Neufunde von Erdöl anrechnen kann,
oder sie auf die alten schon lange bekannten Ölfelder anrechnen
muss. Bei der ersten Rechenweise gab es eine Menge Neufunde,
bei der zweiten nicht. Das liegt genau daran, dass die
ganz große Mehrheit der heute bestehenden Ölressourcen
riesige, vor über 40 Jahren gefundene Ölfelder sind.

Dieser Disput wurde letztlich beigelegt, indem sich die
IEA der Position der ASPO weitgehend angenähert hat.
Die IEA ist bis heute erheblich optimistischer, was die
Erschließung neuer Ölquellen aus Ölsanden und Shale Gas
angeht. Beim Tiefseeöl zeichnet sich ab, dass die optimistischen
Prognosen sich nicht bestätigen, ein Teil der
Tiefseeförderung im Golf von Mexiko ist beispielsweise
schon wieder zurück gegangen.

Manche Ölkonzerne wie ENI verbreiten noch anderes,
das kann man aber werten als PR im eigenen Interesse
- eine Abkehr vom Öl senkt natürlich deren Gewinne.


Übrigens sind recht viele mit der ASPO assozierte
Wissenschaftler pensionierte Experten aus der
Erdölindustrie.

> Die Problematik aller Studien ist doch, dass sie nicht alle Faktoren
> miteinbeziehen können.

Würde man das fordern, so könnte man über gar nichts
mehr Aussagen machen. Ich denke aber, alle
wesentlichen Faktoren und Daten sind bedacht.

> Dass die
> Ölreserven richtig errechnet wurden? Dass der Verbrauchsanstieg in
> China richtig errechnet wurde? usw.

Bei den Ölreserven der OPEC Länder gibt es noch
starke Anzeichen, dass sie deutlich zu optimistisch
angegeben wurden - siehe:

http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Bewiesene-reserven.png&filetimestamp=20060707083804

D.h. die Länder haben lange Zeit immer soviel Öl als neugefunden
angegeben, wie sie gefördert haben. Das kann ja
nun nicht so recht sein.

>
> Ich finde, wenn wir unsere intertemporale Wohlfahrt maximieren
> wollen und wir nicht wissen, was richtig ist, sollten wir lieber gar
> nichts tun (wenn gar nichts tun die beste Option sein kann), als wild
> im Nebel rumzustochern (wenn wild im Nebel rumstochern die falsche
> Option sein kann)!

Das führt zu einem unakzeptablen und nicht verantwortbarem
Risiko.

In der Tat haben wir eine nicht maximale Wohlfahrt, wenn wir
Vorsorgemaßnahmen drei oder vier Jahre früher treffen als
sich im Nachhinein als kritisch erweist. Kapital, das wir
Beispielsweise für die Wärmedämmung von Häusern aufwenden,
ist gebunden, auch wenn davon natürlich wieder
Handwerker leben können.

Andererseits sind die Folgen einer völlig unvorbereiteten
Ölkrise mit einem Produktionsrückgang von mehr als 5 %
(oder auch nur 3 %) jährlich so schwerwiegend, dass man sie nicht bewußt
in Kauf nehmen wird. Ein schneller und dauerhafter Rückgang
würde sehr bald zu einem Zusammenbruch ökonomischer
Kreisläufe führen. Um bei dem Beispiel mit der
Wärmedämmung zu bleiben: Die bessere Dämmung erspart
dem Mieter dann die Privatinsolvenz wegen zu hoher
Heizkosten, dem Vermieter erhält sie einen zahlungswilligen
(und vor allem zahlungsfähigen) Mieter, und der Handel
profitiert davon, dass das eingesparte Geld nicht in die
arabische Wüste oder nach Nigeria fließt.


>
> Ich bin ja für eine Energiesteuer, aber die Begründung ist mir zu
> kontrovers und anderen sicher auch und deshalb fürchte ich um den
> Antrag, wenn zu viele Gründe genannt werden, bei denen keine
> Einigkeit besteht.

So gesehen erscheint es mir sinnvoll, die Punkte "Besteuerung von CO2"
und "Besteuerung von fossilen Energieträgern als Umlage
zu einer Risikovorsorge" getrennt zu behandeln und abzustimmen.

Das Ziel eines besseren Klimaschutzes finde ich
auf jeden Fall begrüßenswert. Die wesentliche Unterschiede
zur Peak Oil Thematik sind wohl - vordergründig -
der Faktor Zeit und der unterschiedliche Kohlenstoffgehalt der
verschiedenen fossilen Energieträger. Vordergründig
deswegen weil ja auch beim Klimawandel die Zeit
ausgeht - aber das werden wir nicht mehr selber merken.

Gruss,

Johannes





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