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ag-gesundheitswesen - [AG-Gesundheit] Die "Duale Vergütung" im Gesundheitswesen

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Betreff: AG Gesundheit

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[AG-Gesundheit] Die "Duale Vergütung" im Gesundheitswesen


Chronologisch Thread 
  • From: syna <syna AT news.piratenpartei.de>
  • To: ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de
  • Subject: [AG-Gesundheit] Die "Duale Vergütung" im Gesundheitswesen
  • Date: Mon, 02 Jan 2012 05:56:02 +0000
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-gesundheitswesen>
  • List-id: AG Gesundheit <ag-gesundheitswesen.lists.piratenpartei.de>
  • Organization: Newsserver der Piratenpartei Deutschland - Infos siehe: http://wiki.piratenpartei.de/Syncom/Newsserver


Ahoi Piraten!

Willkommen im neuen Jahr 2012! Und meinen Dank an alle, die sich hier
für ein besseres Gesundheitssystem - in ihrer Freizeit - einsetzen. Danke!

Aber jetzt zum Thema "Duale Vergütung". Es lohnt sich, alles von Anfang
an zu lesen, denn ich entwickel die Problematik allmählich:

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Ein *Kern-Charakteristikum* des heutigen Gesundheitssystems ist:

die "Duale Vergütung"im Gesundheitssystem

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Duale Vergütung
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Was ist die "Duale Vergütung"?

Die "Duale Vergütung" bedeutet, dass einige Patienten, nämlich alle GKV-Versicherten,
nach einem Standard-Tarif abgerechnet werden. Das ist der EBM (Einheitlicher
Bewertungsmaßstab) bzw. EBMA (für zahnärztliche Leistungen). Und dass andere
Patienten, nämlich alle PKV-Patienten nach einem höheren Tarif abgerechnet werden.
Dieser höhere Tarif heißt GOÄ (Gebührenordnung für Ärzte) bzw. GOZ (für Zahnärzte).
Die Bezahlung der PKV-Patienten kann sogar alternativ - vor der Behandlung - wie in
normalen privatwirtschaftlichen Verträgen üblich - frei ausgehandelt und festgelegt
werden.

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Zur Erklärung:
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*GKV* = Gesetzliche Krankenversicherung. 90% der Bevölkerung sind "gesetzlich" versichert.

*PKV* = Private Krankenversicherung. Etwa 10% der Bevölkerung in Deutschland sind "privat"
versichert. Manche nennen diese 10% auch die "Privilegierten".

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Die Bezahlung der Ärzte und Kliniken durch die PKV-Patienten ist sehr viel höher. So
bekommt ein Arzt bei Behandlung eines PKV-Patienten oft mehr als das Doppelte, oft
sogar mehr als das Dreifache wie er für die gleiche Behandlung eines GKV-Patienten
bekommen würde. Das ist die "Duale Vergütung".

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Beispiel "Shop"
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"Ja und? Macht doch nichts!" könnte man sagen. So einfach ist es aber nicht. Gucken
wir uns an einem Beispielen mal an, was denn so eine "Duale Vergütung" bewirkt:

Nehmen wir an, wie haben einen *Sportartikel-Laden*, in guter Lage - in der Innenstadt.
Und nehmen wir an, dort gäbe es eine "Duale Vergütung". D.h. bestimmte Kunden,
erkennbar an einer besonderen Kundenkarte, zahlen für dieselben Artikel mehr als
das Doppelte. Was würde das bewirken?

Nun - so sozial und humanistisch idealistisch der Ladeninhaber auch eingestellt sein mag:
Insgeheim bevorzugt er diese besonderen Kunden mit Kundenkarte. Bei schlechten
Zeiten, also Konjunkturkrise, schlechten Verkaufszahlen usw. - guckt er noch gieriger
auf die Kunden mit Kundenkarte, ja er hofiert diese. Er denkt sich Werbestrategien aus,
genau diese Kunden anzulocken. Für das Überleben seines Ladens kann dies existenziell sein.

Immer wenn ein Mensch seinen Laden betritt, sieht er jetzt schon am Äußeren - an ganz
subtilen Dingen - ob das ein Kunde mit der Kundenkarte ist oder nicht. Und wenn der
Ansturm auf den Laden groß ist - und er zuwenig Personal hat, um alle Kunden zu bedienen,
dann sollen auf jeden Fall die Kunden mit Kundenkarte zuvorkommend bedient werden. So
hat er es seinen Mitarbeitern eingeschärft. Die anderen Kunden müssen schon mal länger
warten - oder werden bisweilen gar nicht bedient.

Wir sehen bei diesem Beispiel, dass so eine "Duale Vergütungsstruktur" ganz automatisch
Kunden in *Kunden erster Klasse* und in *Kunden zweiter Klasse* separiert. Der Markt
richtet sich immer nach der Bezahlung aus und generiert damit die Separation in die
erste Klasse und die zweite Klasse.

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Beispiel "Niedergelassener Allgemeinarzt"
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Was bedeutet die "Duale Vergütungsstruktur" aber im Gesundheitswesen?
Stellen wir uns also einen jungen, niedergelassenen Allgemeinarzt vor.
Sein Studium hat er mit großem Impetus und viel Idealismus absolviert,
er möchte ja den Menschen helfen, er hat den hippokratischen Eid geleistet
und er ist hochmotiviert.

*Aber für seine erste Praxis* muss er einen hohen Kredit aufnehmen. Und
er ist erstmals mit den ökonomischen Bedingungen konfrontiert: Er muss jetzt
jeden Patienten mit "der Kasse abrechnen" - und darauf achten, dass er die
Gehälter seiner Angestellten und den Kredit zeitgerecht bedienen kann.

Ihm fällt sofort auf, dass er für PKV-Patienten *mehr als doppelt soviel*
*abrechnen kann* als für andere Patienten. Mit der Zeit entdeckt er, dass er
bei PKV-Patienten schon mal öfters lächelt, sich sogar mehr Zeit nimmt und
bereitwilliger auf deren Wünsche eingeht. Damit die auch wirklich wiederkommen.

Als er sich mit seinen früheren Kommilitonen trifft, und die von ihrer Yacht auf
dem Mittelmeer erzählen, da kommt er schon mal ins Grübeln: Er hat so lange
studiert - und sich dabei mit BAFÖG und Jobben über Wasser gehalten - und
kann seine Praxis jetzt "gerade so" finanzieren. Er beschließt also, dass seine
Finanzlage endlich besser werden müsse. Aber wie?

*Da kommen ihm die Privatpatienten wie gerufen.* Der frühere Studienkollege mit
der Yacht im Mittelmeer behandelt am Starnberger See ausschließlich
Privatpatienten! Unser Jungarzt beschließt also, einige "Verfahrensweisen" in
seiner Praxis zu ändern: Die Privatpatienten bekommen einen eigenen Praxis-Zugang
- also eine andere besondere Tür - und haben in Zukunft keine Wartezeit mehr.
Er wird sie sofort empfangen. Die anderen Patienten im Wartezimmer ahnen
davon nichts. Das Personal wird angehalten, bei Terminwünschen genau
zwischen GKV- und PKV-Patienten zu unterscheiden: Privatversicherte sollen
noch in der Woche einen ihnen genehmen Termin bekommen. Gesetzliche
Patienten werden normal "hinten in die Schlange" eingereiht.

*Denn es gilt sich einen Ruf für Privat-Kunden-Patienten zu erarbeiten.* Über
Weiterempfehlungen von Patient zu Patient in seinem Stadtteil will er sich den
Ruf erarbeiten, besonders schnell, zuvorkommend und kompetent zu sein - und
zwar für Privatpatienten. Es ist für ihn wichtig, den Anteil der Privatpatienten
stark zu erhöhen, nur so kann er seine Kredite bedienen und selbst auch mal
Urlaub am Mittelmeer machen.

Diese Ausrichtung für Privatpatienten gelingt in Gebieten wie Starnberger See
oder Hamburg Blankenese sehr einfach: Dort gibt es eigentlich nur Privatpatienten.
Aber in ländlichen Bereichen oder prekären Stadtteilen - etwa in Berlin Neukölln -
da funktioniert das nicht. Denn da gibt es gar keine Privatpatienten. Entsprechend
unattraktiv - oder sogar ökonomisch gar nicht tragbar - ist es dort für einen
jungen Arzt, sich niederzulassen.

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Beispiel "Krankenhaus-Chirurg"
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Krankenhäuser sind seit den 90igern einem starken ökonomischen Druck ausgesetzt.
Nicht nur, dass die Krankenkassen die Pflegesätze nicht erhöhen wollen. Nein,
durch immer neue gesetzliche Vorgaben der Abrechnung, durch Regelungen für
Fallpauschalen und Sonderentgelte, für Liegezeiten u.a. ist die Krankenhausleitung
angehalten, sich immer neue Verfahren zur "ökonomischen Optimierung" auszudenken.
Die Stadt oder Kommune droht jedes Jahr auf's Neue mit Privatisierung. Und falls die
Klinik schon einem privaten Betreiber gehört, dann ist das Controlling sowieso die
oberste Stelle, die letzlich "das Sagen" hat.

In diesem Umfeld wird die "Duale Vergütung" von Behandlungsleistungen
natürlich ganz besonders berücksichtigt. Dem Controlling fällt ja täglich auf,
dass PKV-Patienten lukrativ sind. GKV-Patienten dagegen eher weniger. Deshalb
wird die interne Organisation so gestaltet, dass PKV-lern jedes Diagnoseverfahren
und jede Therapie offen steht und angeboten wird.

*Je mehr Druck die Stadt oder Kommune macht,* je diffiziler die Verhandlungen mit
den Krankenkassen werden, desto höher ist der Kostendruck auf den kaufmännischen
Direktor. Sein Posten hängt oft am seidenen Faden, am "Kostenfaden". Deshalb
wendet er alle Energie auf, um möglichst viele Kosten über die Patientenbehandlung
hereinzuholen. Deshalb richtet er sein Augenmerk ganz stark auf die Privatpatienten.
Deshalb wird die interne Organisation umgebaut und das Controlling angewiesen,
entsprechende Vorschläge zu machen. Einige Kliniken richten sogar einen baulich
getrennten, eigenen Bereich ein, um Privatpatienten angemessen hofieren zu
können. Das nennen sie dann "Privita" oder so ähnlich.

Diese Umorganisation hat natürlich Auswirkungen auf die Behandlung. An Unikliniken
und anderen Kliniken "höchster Exzellenz" spezialisieren sich Chirurgen auf bestimmte
komplizierte OPs und OP-Verfahren. Sie erwerben sich damit eine besondere
Reputation. Diese Reputationen werden z.B. in der Zeitschrift Focus regelmäßig veröffentlicht.

*Die Klinikleitung strebt danach, *solche Spezialisten in der Chirurgie einzustellen
- um mit deren Reputation auch die Reputation der Klinik für PKV-Patienten
auszubauen. Damit möglichst viele PKV-Patienten in ihre Klinik kommen. Und damit
sie dadurch eine gute Jahresbilanz ausweisen können.

Deshalb wirbt die Klinikleitung diese Spezialisten aus Unikliniken oder anderen Kliniken
ab, indem sie ein besseres "Gehalt" anbietet. Dies kann sie aber nur zahlen, wenn sie
konsequent das Geschäftsmodell "Reputation bei PKV-Patienten" einhält. Die interne
Krankenhausorganisation sorgt dafür , dass der neue, bekannte hochbezahlte
Spezialist fast nur PKV-Patienten behandelt, weil da die "Kostenstruktur stimmt".

*Dabei ist es egal,* ob diese Privatpatienten gerade die OP benötigen, auf die sich
der Spitzenchirurg spezialisiert hat oder nicht. Der hochbezahlte Spezialist muss
sich dann auch dafür hergeben, Blinddarm-OPs in großer Zahl durchzuführen. Weil
diese Blinddarm-OPs bei PKV-Patienten viel besser dotiert sind - und so die Kosten
überhaupt erst wieder hereinkommen. Der kaufmännische Direktor, die Klinikadministration
und das Controlling bestehen darauf, dass es so gemacht wird!

Umgekehrt steht der Spezialist für ernste OPs von GKV-Patienten kaum zur Verfügung.
Weniger erfahrene, manchmal noch junge Chirurgen, oder Chirurgen, die "alles querbeet
machen", werden bei GKV-Patienten die komplizierte Bauchspeichel-OP durchführen müssen.

Man kann sich leicht vorstellen, was das bedeutet: *Stellen Sie sich vor, sie müssten *
*bei ihrem Auto den Vergaser austauschen.* Wenn Sie das erst ein oder zweimal gemacht
haben, werden Sie sich schwer tun: Sie müssen erstmal gucken, wo der Vergaser
überhaupt ist, was für Anschlüsse der hat. Sie müssen sich überlegen, in welcher
Reihenfolge sie welche Schraube lösen usw. Zuletzt springt Ihr Auto nicht an, weil
Sie eine Kleinigkeit übersehen haben.

Der Spezialist, der schon 1000 Vergaser ausgetauscht hat, macht das alles schnell
und routiniert. Und er kann sich auf die üblichen Fehlerstellen konzentrieren - und
das Auto fährt nach dem Eingriff besser als je zuvor.

So ähnlich ist es in der Chirurgie leider auch. *Nur mit dem Unterschied,* dass es dort
um Leben oder Tod geht: Die Überlebensrate hängt sensibel von der Routine der
Operateurs ab. Das zeigen zahlreiche Studien aus den USA:

Wenn der GKV-Patient ernsthaft operiert werden muss, dann geben Controlling
und OP-Planung vor, welcher Chirurg gerade "offen" ist. Das kann ein erfahrener
Chirurg sein, das ist aber oft ein "Allgemein-Chirurg", der so alles macht, oder es
kann sogar der unerfahrene Neuling sein, der gerade eingestellt wurde.

Wenn der PKV-Patient ernsthaft operiert werden muss, dann - auch das gibt
das Controlling vor - wird der Operateur mit der hohen Reputation - der Spezialist
für diese OP - selbstverständlich für die OP geplant und diese durchführen.

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Was bedeutet das also?
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Jeder kann sich vorstellen, was das für die Überlebensaussichten im Falle einer
Krebs-OP für PKV-Patienten und für GKV-Patienten bedeutet.

Man nennt dieses Phänomen, das die reputierten Spezialisten in den Kliniken
betrifft, *"Fehlallokation"*: Die Fähigkeiten solcher Spezialisten werden lieber für
Trivialeinsätze bei PKV-lern verschwendet. Sie stehen dabei für komplexe,
über Leben oder Tod-entscheidende Eingriffe bei GKV-Patienten nicht zur Verfügung.

Und das ist *die schwerwiegendste Konsequenz* der "Dualen Vergütungsstruktur":
Da die internen Abläufe in den Kliniken, der existenzielle Druck des kaufmännischen
Direktors und des Controllings dem Außenstehenden selten bewusst werden,
erkennen Außenstehende nicht so leicht, wie die Fehlallokation zustande kommt -
und was für Konsequenzen sie hat.

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Selbstversuch!
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Wer das selbst einmal überprüfen will, der mache doch einfach mal den
*Selbstversuch*: Suchen Sie sich einen reputierten OP-Spezialisten für eine schlimme
Krebsart heraus. Die finden Sie bei der Zeitschrift Focus oder auf vielen medizinischen
Such- und Online-Portalen. Rufen Sie dort in der Uniklinik an, in der Absicht, einen
Termin zu bekommen. Die entscheidenden Frage, die das Sekretariat Ihnen stellen
wird, wird sein: "Wie sind Sie versichert?". Wenn Sie dann "gesetzlich" oder "Kasse"
sagen, ist das Gespräch hier beendet. Manchmal bekommen Sie noch einen
Phantasie-Termin in 6 Monaten oder so - aber das war's dann.

*Was dahinter steckt,* habe ich versucht, oben zu schildern und kausal zu entwickeln.
Ich finde: Wenn wir verantwortungsvolle Politik für alle Bürger machen wollen, dann
müssen wir uns der Fehlallokation mit ihren "versteckten", aber dennoch
bestimmenden Abläufen bewusst sein!

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Ahoi, Piraten!

Grüsse an Alle - mit dem Wunsch, dass 2012 ein fantastisches,
gerechteres Jahr für Alle wird!

Syna.




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