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ag-gesundheitswesen - Re: [AG-Gesundheit] Fahrplan Solidarier

ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de

Betreff: AG Gesundheit

Listenarchiv

Re: [AG-Gesundheit] Fahrplan Solidarier


Chronologisch Thread 
  • From: "Dieter Schlierf" <praxis AT dschlierf.de>
  • To: "'AG Gesundheit'" <ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de>
  • Subject: Re: [AG-Gesundheit] Fahrplan Solidarier
  • Date: Tue, 15 Nov 2011 12:47:16 +0100
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-gesundheitswesen>
  • List-id: AG Gesundheit <ag-gesundheitswesen.lists.piratenpartei.de>
  • Organization: Allgemeinarzt Dieter Schlierf

Warum sollte es bei den Piraten anders sein als in der übrigen Republik.

Es werden zahlreiche Gesichtspunkte durcheinandergeworfen und Vorurteile kultiviert.

 

Ich bin freiberuflich tätiger Allgemeinarzt und musste jetzt meine gutgehende Allgemeinpraxis beenden und mich einer Gemeinschaftspraxis anschließen, weil die Kosten und das Ho(h)norar nicht mehr im Einklang miteinander stehen.

Bei den Privatpatienten steht auf meiner Rechnung sehr oft nur eine Beratung und eine gründliche organbezogene Untersuchung, das sind die Ziffern 1 und 6 oder 7 der Gebührenordnung für Ärzte, auch hier zunächst in Punkten 80 plus 100 oder 160 Punkte mal Punktwert 5,825 Cent mal Multiplikator 2,3 ergibt für einen Arztbesuch 10,72 plus 13,40 oder 21,44 Euro. Meine Rechnungen lauten also häufig über 10,72 Euro (nur Beratung) oder 24,12 bzw. 32,16 Euro (Beratung und Untersuchung) bei einem Privatpatienten. Damit kann ich meine Praxis nicht finanzieren. Diese Beträge sind seit fast 20 Jahren nur ein einziges mal um 3% nach oben korrigiert worden, also ohne jeden Inflationsausgleich. Ich bin gezwungen, besser honorierte Leistungen wie EKG, Lungenfunktion, Laboruntersuchungen zusätzlich zu erbringen, was häufig durchaus sinnvoll ist und eben bei Privatpatienten zusätzliches Geld einbringt.

Bei Kassenpatienten bekomme ich einen Pauschalbetrag (bei mir sind das derzeit 41 Euro pro Quartal, also unter 14 Euro pro Monat!), egal, wie oft ich den Patienten sehe. Viele Untersuchungen und Behandlungen (EKG, Infusion, Ohrenspülung usw.) sind in diesem Pauschalbetrag enthalten. Manche Fachärzte bekommen einen noch niedrigeren Pauschalbetrag. Die Erstellung einer Rechnung für diese Patienten, damit sie kontrollieren können, was abgerechnet wurde, ist in diesem Fall völlig unsinnig. Trotzdem wird die Erfassung der Leistung und Einstellung ins Internet von Politikern wie dem Unionspolitiker Singhammer im Spiegel gefordert. Dies geschieht wohl eher um zu erzwingen, dass die Ärzte ihre Leistungen online stellen.

Völlig klar ist in diesem Fall, dass Ärzte versuchen müssen, in anderen Bereichen Umsätze zu erzeugen, wenn sie ihre Praxis erhalten wollen.

Dies geschieht z.T. mit IGeL, bei den Fachärzten zum Teil mit zusätzlichen Leistungen, die von der KV außerhalb der Grenzen des Regelleistungsverfahrens bezahlt werden. Hierzu gehören z.B. Magen- und Darmspiegelungen bei Internisten.  

 

Ein Bürger, der wenig Einblick in die Bedingungen einer freiberuflichen Arztpraxis hat, kann durch Umsatzzahlen massiv verwirrt werden. Was hat der Umsatz einer Radiologen- oder Nephrologenpraxis mit  der Bezahlung des Arztes zu tun? Antwort: fast gar nichts, denn die Nebenkosten einer solchen Praxis sind enorm. Das, was letztendlich beim Arzt als zu versteuerndes Einkommen bleibt, ist nur ein Bruchteil des Umsatzes. Selbst in meiner Praxis hatte ich einen Nebenkostenanteil von 60%! Dabei sind Rücklagen für eventuell anfallende Geräte noch nicht berücksichtigt.

Bereits im Jahr 2002 wurde als betriebswirtschaftlich sinnvoller Punktwert für gesetzlich versicherte Patienten in der Arztpraxis 5,1 Cent festgelegt. Das hätte dann der Vergütung eines Oberarztes nach BAT entsprochen. Wir bekommen jetzt, nach 8 Jahren 3,5 Cent! Dieser Betrag ist allerdings auch noch nach oben gedeckelt, sodass eine Ausweitung der ärztlichen Tätigkeit mit mehr Patienten oder zusätzlichen Notdiensten nicht wirtschaftlich ist.

 

Die Bürger bezahlen aber doch enorme Beiträge in die Sozialversicherung. Wo bleibt denn dann das Geld? Neben den enormen Kosten der Verwaltung (mehr Geld für Krankenkassenverwaltung als für die gesamte hausärztliche Versorgung!) und den weit über dem europäischen Durchschnittspreisen liegenden Arzneimittelkosten fallen in den Facharztpraxen sehr hohe Nebenkosten z.B. für Herzkatheter-Einmalmaterial oder für Dialyselösungen an. Dieses Geld steht also gar nicht den Ärzten zur Verfügung sondern wird an die Gesundheitskonzerne weitergereicht.

 

Leute! Geht mal zu Eurem Hausarzt und lasst Euch dort erklären, wo der seine Segelyacht und sein Reitpferd und den Ferrari stehen hat. Dann fragt ihn noch, wie es mit einem Nachfolger für seine Praxis aussieht.

 

Letztendlich wird es nicht anders gehen, als dass jeder Arzt seinem Patienten eine Rechnung für die tatsächlich erbrachten Leistungen stellt und dieser die Rechnung (je nach finanzieller Ausstattung eventuell nicht vollständig sondern nur teilweise) von seiner Krankenversicherung erstattet bekommt. Das ist ein Vorgehen, wie es in der übrigen Welt zum normalsten überhaupt gehört. Gleichzeitig müssen aber Alle in die Krankenversicherung einzahlen oder die Beteiligung des Staates an den Gesundheitskosten muss steuerfinanziert erheblich gesteigert werden. Derzeit beträgt übrigens die Beteiligung des Staates an den Gesundheitskosten nur wenigen Milliarden Euro, also in der Nähe von 1% der Gesamtkosten während zweistellige Milliardenbeträge allein in Form der Mehrwertsteuer für Medikamente eingezogen werden.

 

Hanns-Dieter

 

Von: ag-gesundheitswesen-bounces AT lists.piratenpartei.de [mailto:ag-gesundheitswesen-bounces AT lists.piratenpartei.de] Im Auftrag von Morgan le Fay
Gesendet: Dienstag, 15. November 2011 10:03
An: ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de
Betreff: Re: [AG-Gesundheit] Fahrplan Solidarier

 

Am 15.11.2011 09:23, schrieb swagi 666:

Am 15.11.11 08:16, schrieb Morgan le Fay:

Hallo swagi,

erstens bin ich selbst privat versicherter Unternehmer, zweitens bin ich im Gesundheitswesen beruflich tätig und drittens widersprichst Du mir doch gar nicht!
Mal abgesehen davon, dass die Leistungserbringer mehr Geld aus den PKVen abzocken, als denen guttut (auch die privaten Kassen haben massive Finanzprobleme!), sind wir ja anscheinend einer Meinung, dass es die 2-Klassen-Medizin nicht geben darf.

Wir sind uns eigentlich bei den Solidariern darüber einig, dass allenfalls sog. "Hotelleistungen" optional versichert werden können, aber Prävention, Diagnose und Therapie auch beim GKV-Versicherten dem modernsten Stand der Wissenschaft und Technik entsprechen muss, wie es das SGB V eigentlich schon heute vorschreibt.
Nicht jeder kann  soviel "Geld in die Hand nehmen", dass er die Honorarvorstellungen mancher Ärzte erfüllt. Soll er deshalb mehr leiden müssen als ein Selbständiger oder Reicher?

Gruß
Harry
-- 
AG-Gesundheitswesen mailing list
AG-Gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de
https://service.piratenpartei.de/listinfo/ag-gesundheitswesen

Hi Harry,

über das Ziel sind wir uns dann einig. Ich hatte Deine erste Mail wirklich falsch verstanden. Ich sehe aber im Augenblick eigentlich kein Problem bei der Finanzausstattung aller Beteiligten im System, sondern viel mehr eine grassierende Selbstbedienungsmentalität gepaart mit purer Menschenverachtung (so leid es mir tut).

Ich weiss nicht, warum so ein Aufriss um die "Patientenquittung" gemacht wird. Ich verstehe nicht, warum die KV die Anwendung der GOÄ für Kassenpatienten mal eben abgeschafft hat und warum es statt dessen dieses total unsinnige Punktesystem gibt.

Und zu guter Letzt verstehe ich einfach nicht, warum Röslers Vorschlag von der optionalen Vorauszahlung damals so brutal torpediert wurde. Ein durchschnittlicher Arztbesuch kostet unter 100€. Ich behaupte, ein Grossteil der gesetzlich Versicherten ist in der Lage, dieses Geld für die Gesundheit aufzubringen. Und ich behaupte auch, ein Grossteil würde dies gerne freiwillig machen, wenn man dadurch schneller zum Arzt kommt.

Dir als Privatpatient brauche ich es ja nicht sagen - aber der Beweis für die Selbstbedienungsmentalität ist bei mir empirisch dadurch erbracht, dass ich derzeit eine Quote von 50% habe, bei der eine falsche Rechnung gestellt wurde (sprich da standen Leistungen drauf, die nie erbracht wurden).

Aber schön, dass wir und dann doch einig sind :-)

swagi

Das, was von den Beitragszahlern derzeit ins System gezahlt wird, ist mehr als genug Geld. Eine weitere Belastung der Versicherten ist nicht möglich. Das Problem liegt an den davonlaufenden Kosten, denen keiner Herr wird oder werden will (merke: Pharmaaktienbesitzer zahlen gerne mehr in der Apotheke, bestimmte Politiker nehmen gerne "Spenden" involvierter Lobbyisten an)

Die Patientenquittung bringt nix, da kaum ein Mensch nachvollziehen kann, ob die darauf quittierte Leistung überhaupt erforderlich war oder nicht. Ich schätze, dass sich 95% aller Patienten in den Praxen verunsichern lassen. Die gigantischen Umsätze mit IGeLn belegen das.

Das Punktesystem ist deshalb nötig, weil ein "fleißiger" Arzt dann mehr aus dem Solidartopf entnähme als ein fauler (sparsamer?).
Aber weiß man, ob der "fleißige" nicht nur abzockt und seine Patienten unnötig einbestellt? Man nivelliert deshalb bestimmte Erkrankungen stückzahlmäßig und aufwandsmäßig. Das ergibt unterm Strich das Punktesystem mit Deckelung. Andernfalls wäre denkbar, dass der eine Arzt in München 250 Fälle einer bestimmten Erkrankung abrechnet und der andere in Fürstenfeldbruck 700. Natürlich gibt es auch die Sorte Patienten, die wegen jedem quersitzenden Pups zum Arzt rennen. Durch die Pauschale hat der Arzt "Anreize", solche Patienten nur jedes Quartal einzubestellen. Aber es führt auch zu menschenverachtender Ignoranz, zu Verstößen gegen das SGB V und die ärztliche Berufsordnung.

Eine Dauerlösung ist das Punktesystem deshalb nicht.

Die gesetzlich Versicherten Privatzahler sind übrigens die 2.Klasse einer 3-Klassen-Medizin. Ich habe Röslers Modell solange für gut gehalten, bis ich -nach langer Rumdruckserei von Ärzten- gestanden bekommen habe, dass man von diesen Patienten die ganz normalen erweiterten GOÄ-Sätze verlangt, die aber natürlich von der GKV später nicht voll erstattet werden. Wer soll denn das bezahlen?
Heute müssen viele Rentner, Arbeitssuchende, Studierende usw. jeden Cent zusammenkratzen, um über die Runden zu kommen. Wäre ich Arzt und damit Kaufmann, hätte ich doch diese begehrte Klientel nicht mit normalen Privatpreisen vergrault, sondern irgendeinen Preis zwischen Fallpauschale und erweiterem GOÄ-Satz berechnet. Derzeit bekommt z.B ein Augenarzt um die 20 Euro für einen Patient im Quartal. Warum also nicht einem privaten Vorabzahler nicht 50 Euro fürs Quartal berechnen?

Neiiin, man meint, den Leuten mit gierigen Pratzen voll in die Taschen greifen zu können! Bei privat Versicherten wird oftmals aus lauter Geldgier viel zuviel gemacht! Wie erwähnt, stöhnt inzwischen auch die PKV und guckt strenger auf Rechnungen und Kostenvoranschläge.
Dass häufig falsche Rechnungen erstellt würden, könnte ich weder bei mir noch bei meiner Frau (auch privat) feststellen. Trotzdem weiß man nie, ob das, was sie einem als "notwendige Behandlung" andrehen, wirklich auch nötig ist. Ich rate meinen Kunden stets, gleich in der Praxis des Facharztes klarzustellen, dass man sich keine IGeL andrehen lässt.
Wenn eine Behandlung wirklich indiziert ist, zahlt sie nach wie vor die GKV.

Gruß
Harry




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