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Betreff: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik
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- From: moneymind <moneymind AT gmx.de>
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- Subject: Re: [AG-GOuFP] Kapitalismus - Definition für Vision
- Date: Wed, 03 Sep 2014 20:58:44 +0000
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ad1) Ich finde es ziemlich arrogant von dir zu unterstellen, dass ich irgendetwas "nicht kapieren" würde oder "falsch verstehe". Ich kapiere sehr viel, ich (und besagte Ökonomen und Juristen) teile nur deine Meinung nicht.
Sorry für die Formulierung. Ich weiß, daß Du meine Sicht der Dinge nicht teilst, und daß Du Dich mit deinem Kapitalbegriff auf der Seite der Mehrheit der sog. "Ökonomen" befindest (und ich aus einer absoluten Minderheitenposition heraus versuche, zu erklären, wo ich es eben anders sehe).
Es stimmt wahrscheinlich auch, daß ich zu dogmatisch formuliere und daß das eher abschreckt und Widerspruch provoziert als daß es irgendwie überzeugen würde.
ad2) was du (und bspw. Arne) nicht kapierst ist, dass "Rechte", "Werte" etc. nichts weiter als intellektuelle Konstrukte sind, die nur in den Köpfen und evtl. als Repräsentation in Form von figurativen Tintenelementen auf Cellulose existieren.
Und von einem sehr materiellen Justiz- und Gewaltapparat garantiert bzw. durchgesetzt werden.
Jeder Bauer weiß, dass sein Acker sein Kapital und nicht etwa dessen Vermögenswert und sein Eigentumsrecht daran.
Dazu fand ich Hernando DeSotos "The Mystery of Capital" https://wiki.piratenpartei.de/AG_Geldordnung_und_Finanzpolitik/Quellen/sortiert_nach_person#DeSoto.2C_Hernando sehr erhellend. Der zeigt, daß die Mehrheit der Bauern in Entwicklungsländern ihren Acker natürlich bebauen und dessen Früchte essen können, diesen aber eben gerade /nicht /als Kapital nutzen können (um Kredit zu bekommen), weil eben die formalen Eigentumsrechte daran fehlen.
Dein (aus meiner Sicht) Mißverständnis, das Du mit fast allen Ökonomen teilst, daß nämlich Kapital aus "Gütern" bestehe, zu widerlegen, ist das einzige Thema seines Buchs. Güteranhäufungen führen eben nicht automatisch zu Kapitalismus.
Seine Früchte gedeihen nämlich auf dem Boden und nur die kann er essen.
Genau, essen kann er die immer, ob er nun Eigentumsrechte an seinem Acker hat und ihn über Verträge als Kapital einsetzen kann (indem er z.B. Kredit nimmt, einen Traktor kauft, und den Kredit aus dem Erlös des Kartoffelverkaufs zurückzahlt), ob er aus dem Acker "nur" eine Tributpflicht gegenüber seinem Feudalherrn erbringen muß oder ob er ein Kolchosbauer ebenfalls ohne Eigentumsrechte an seinem Acker ist. Nur: in den beiden letzten Fällen ist der Acker für ihn kein Kapital, sondern bloß ein Acker. In dem Fall ist ein Acker einfach nur ein Acker, kein Kapital.
Hat der Bauer Eigentumsrechte daran und lebt er im Kontext einer bürgerlichen Rechtsordnung, ist der Acker für ihn immer noch ein Acker. Aber jetzt kann er ihn zusätzlich als Kapital einsetzen (d.h. ihn in Verträgen als Kreditsicherheit einsetzen). Das heißt aber dann auch, daß er ihn per Zwangsvollstreckung verlieren kann, wenn er zahlungsunfähig wird - nicht zuletzt daraus bezieht der Kapitalismus seinen "Drive", denn das setzt ihn mächtig unter Druck, wenn er Schulden hat und im Verkauf (der Vertragsrecht voraussetzt) qualitäts- und preismäßig gegen Konkurrenten antreten muß.
In other words, die bürgerliche Rechtsordnung ändert stofflich nix am Acker, sie fügt für den Bauer bestimmte soziale Handlungsmöglichkeiten und -Zwänge hinzu, die vorher so nicht existiert haben.
Stoffliche Produktionsmittel gibt es in jeder Gesellschaftsform, Kapitalismus inclusive. "Kapital" oder "Vermögen" dagegen nicht. Die gibt's nur da, wo es eine bürgerliche Rechtsordnung gibt.
Wenn sich eine Rechtsordnung ändert oder auflöst, ändert sich an dem Acker genau gar nichts,
Genau. Am Acker ändert sich überhaupt nichts, nur an seiner Bedeutung für seinen Besitzer.
und derjenige, der die FAKTISCHE Verfügungsgewalt darüber, ist der "Kapitalist" - egal wie irgendwelche akademischen Zirkel darüber befinden mögen.
Dann wäre der Mieter (hat faktische Sachherrschaft) der Kapitalist und nicht der Vermieter (hat rechtliche Sachherrschaft, ergo den vermieteten Gegenstand auf der Aktivseite seiner Bilanz). Tatsächlich kann der Mieter das Haus nur stofflich nutzen (bewohnen), aber nicht als Kapital (z.B. es als Kreditsicherheit einsetzen), weil es nicht in seiner Bilanz, sondern in der des Vermieters steht. Der hat nämlich die Eigentumsrechte daran.
Zum Rest: da bin ich mit Dir in vielen Bewertungen, die Du machst, völlig einig, aber mir geht es hier nicht um das /Beurteilen /von Kapitalismus, sondern darum, die essentiellen Merkmale zu benennen, die ihn von anderen Formen sozialer Reproduktion unterscheiden. Eine moralische Perspektive, wie Du sie einnimmst, wäre eine eigene Diskussion, und ich meine, es macht Sinn, beides (Analyse und Bewertung) zu trennen und nacheinander anzugucken.
Deine Empörung darüber, daß es im Kapitalismus eben nicht in erster Linie um die Güter geht, sondern um deren Vermögenswert, deren Mehrung sie da zu dienen haben, kann ich völlig nachvollziehen. Das ist eine "Verkehrung", die z.B. der Marx mal den "Warenfetischismus" genannt hat und die viele verabscheuen, ich auch.
*Vom rein stofflich-materiellen Standpunkt betrachtet ist das nämlich schlicht verrückt. *
Vom Standpunkt der stofflichen Bedürfnisse ist die ganze kapitalistische Logik hinten und vorne absolut verrückt bzw. verkehrt.
Es ist aber die Logik des Kapitalismus, und uns geht es hier ja darum, zu verstehen, wie sie zustandekommt. Ich sage: sie sind die direkten Konsequenzen der übers bürgerliche Recht umgesetzten Grundideen Eigentum, (Vertrags-)Freiheit und Gleichheit - den Kernidealen der abendländischen Zivilisation.
Daß es paradox erscheint, daß z.B. rechtliche Gleichheit mit Notwendigkeit zu faktischer Ungleichbehandlung führt und dann nachträglich wieder durch Einschränkungen der Freiheit und Gleichheit halbwegs ausgeglichen werden muß, ist klar. Ich bestreite das nicht, im Gegenteil: ich sage, es folgt direkt und notwendig aus den Idealen "Freiheit" (Vertragsfreiheit) und "Gleichheit" (vor dem Recht).
Und ich sage wie Du, das kann man nicht hinnehmen. Hier geht es aber ja darum, zunächst mal zu verstehen, warum das so ist.
Ich scheisse auf "viel Kohle", sonst würde ich nicht machen, was ich mache (z.B. solche Postings schreiben). Ich scheisse im Prinzip auch darauf, wie die ganze Scheisse funktioniert. Der einzige Grund, warum ich mich überhaupt damit befasse, ist, daß ich mich nicht (von irgendwelchen sozialwissenschaftlichen Klugscheissern) verschaukeln lassen will. Es ist reiner Trotz. Wahrscheinlich keine gute Motivation.
Jedenfalls will ich damit nicht die Menschheit beglücken, retten, befreien oder bekehren, und darüber bin ich recht froh. Im Grunde will ich nur den oberschlauen Wissenschaftsfuzzis die Zunge rausstrecken und ihnen ihr Versagen so richtig genüßlich unter die Nase reiben.
In Ländern, wo es keine so elaborierte und etablierte Rechtsordnung wie bei uns gibt, da pfeifen die "Kapitalisten" (i.S.v. im Besitz der Verfügungsgewalt über die realen Produktionsmittel) einfach auf diese "Rechte" und "Werte", und organisieren den Schutz ihrer Verfügungsgewalt einfach selbst.
Genau - und deswegen sind es auch keine "Kapitalisten", sondern Feudalherren, Banditen oder was auch immer. Die haben kein BWL-Buch + BGB unterm Arm, sondern Knarren. Siehe Hernando DeSoto.
Und um dein Bonmot etwas umzudrehen: Buchhalter raffen also von vorneherein gar nicht, worum es in der realen Welt geht: Nämlich nicht um die schönen Zahlen auf irgendwelchen Festplatten, sondern um die reale Produktion realer Güter in realen Produktionsstätten, die realen Menschen gehören, und mit deren Hilfe sie sich realen Einfluss auf das reale Leben anderer realer Menschen sichern.
Absolut - die ganze Welt der Buchführung von Vermögenswerten, die ganze Welt von BWL und Jura ist eine rechtlich konstruierte konstruierte Schein-Welt, in der etwas eigentlich sekundäres plötzlich zum wichtigsten wird. Die Schein-Welt der uncoolen oberschlauen Brillenträger und Blah-Stussler, die fernab von jeglichem wirklichen Leben über ihren Büchern hängen und ansonsten nicht mal einen Nagel in die Wand klopfen können.
Genau das ist die Grund-Verkehrung des Kapitalismus.
"Er" stellt die reale Welt sozusagen komplett auf den Kopf und unterwirft sie abstrakten Kopf-Produkten (Recht, Vermögen, Buchhaltung etc.). Es ist eine Verkehrung von Abstraktem und Konkretem (wie in der Philosophie, in der absolut inhaltsloses weil abstraktes Leergeschwätz ohne jeden Bezug zur sinnlichen Realität als "das Höchste" gilt).
Aber genau das, diese perverse Verkehrung, ist (aus meiner Sicht) eben der Kern der abendländischen Zivilisation, des Kapitalismus.
Und die Kern-Abstraktion ist die der "Gleichheit" - für mich die absolute Kernidee des Kapitalismus.
Deine Empörung reproduziert die die des jungen Marx (und die vieler anderer), wenn er gegen Idealismus der "deutschen Ideologie" ankämpft. Daß es aber genau diese idealistischen, abstrakten Kopfgeburten (Eigentum, Freiheit, Gleichheit, Recht, Gesetz usw.) sind, die "Kapitalismus" produzieren, hat er nicht verstanden, weil er meinte, sie aus "den materiellen Verhältnissen ableiten" zu müssen, aus denen sie angeblich "hervorwachsen" (Materialismus).
Doch genau das hat ihm m.E. das Verständnis des Kapitalismus verbaut.
Putins Kapital ist nicht sein Eigentumsrecht an den Gas, sondern das reale Gas selber (bzw. die Verfügungsgewalt über die Produktions- und Transportinfrastuktur).
Putin ist kein Kapitalist, sondern ein politischer Herrscher.
Denn wenn der den ganz realen Gashahn zudreht, sterben im nächsten Winter ganz real Menschen in der Ukraine, völlig wurst, ob sie Eigentums- oder Vermögensrechte gegenüber Gasprom haben.
Natürlich, das bestreitet doch keiner. Da geht es ja gerade um Beziehungen, die KEINE Vertragsbeziehungen sind. Zwischen Staaten gibt es kein Recht, nur Macht. Denn es gibt keine übergeordnete Rechtsinstanz.
Die "Bücherwürmer" verkennen, dass das bisschen Tinte oder die intellektuellen Konzepte dahinter alleine gar nichts sind, was zählt ist die gelebte Praxis.
Ganz genau. Nur in der abendländischen Zivilisation ist das anders, verkehrt herum. Und genau das ist die Verkehrung, um die es geht.
Wenn eine Gruppe von Menschen Entscheidungen trifft, indem sie darüber diskutieren und dann die Hand heben, IST das Demokratie, auch wenn sie nicht mal lesen und schreiben können und keine Ahnung, was ein Recht oder ein Wert ist. Im Gegenteil ist ein Gruppe, die anders handelt, nicht demokratisch, egal welche Satzung sie sich gibt.
Nein, das ist keine Demokratie sondern z.B. eine Stammesversammlung ohne Herrschaft. Demokratie ist eine Herrschaftsform, haben die ollen Griechen erfunden. Und die setzt staatliche Strukturen voraus.
Eine kapitalistische Gesellschaft ist eine, indem es zu großen (realen) Anhäufungen von "Vermögen" kommt. Wie man dieses Zustandekommen theoretisch begründet/rechtfertigt ist dabei zweitrangig.
Aber das ist eine Endlosdiskussion, die man auch auf der Grundlage der Frage führen könnte, ob ein Stein ein Stein ist, oder "nur" die materielle Repräsentation der Konzepte 1 (als Element in einem zu definierenden Zahlenraum) und und "Stein" als Idee eines Objektes mit bestimmten definierten Eigenschaften.
Nimm es mir nicht übel, aber ich gebe der Welt der Dinge den Vorzug über den der Welt der Ideen.
Ja, ich auch.
Auch im (rechtstsaatlich organisierten) Kapitalismus dienen diese immaterielen Vermögensrechte LETZTLICH einzig und allein der Durchsetzung der Verfügungsgewalt über die reale Infrastruktur - in diesem Fall real durchgesetzt durch die staatliche Ordnung.
Ja, aber die Form, in der das abläuft, sind Recht und Vermögen (Vertrag, Buchführung usw.). Die kanalisieren die realen, stofflichen Machtkämpfe eben in "kapitalistische" Bahnen, und das sind völlig andere, als "realsozialistische" oder "feudale". Uns ging es doch darum, herauszufinden: was /unterscheidet/ Kapitalismus von anderen Formen sozialer Reproduktion.
Exkurs: Und deshalb versuchen die Multinationalen Konzerne auch, sich so verzweifelt die öffentliche Infrastuktur unter den Nagel zu reißen; nicht weil es ihnen abstrakte Vermögenswerte zukommen lässt, sondern weil die dadurch die Verfügungsgewalt über ganze Völker bekommen. Dass der Staat ihnen dabei dienlich ist, und sich somit faktisch selbst entmachtet, ist reinste Realsatire.
Ja, natürlich. Letztlich geht es um Machtstreben. Aber im Kapitalismus verläuft das eben in den Bahnen von Recht und Vermögensvermehrung.
Nochmal: ein Acker ist ein Acker ist ein Acker. Eine bürgerliche Rechtsordnung verändert an ihm nichts. Aber sie macht ihn für den Bauern /zusätzlich/ dazu, daß er ein Acker ist, auch zu (bilanzierbarem und per Zwangsvollstreckung verlierbarem Kapital. Wird aus dem Dorf dagegen eine sozialistische Kolchose, wird der Acker NICHT zu Kapital (kann auch nicht per Zwangsvollstreckung verloren werden, sozialistische Betriebe können nicht pleite gehen).
Gruß + gute Nacht.
- Re: [AG-GOuFP] nicht Produktionsmittel, sondern ihr Vermögenswert ist "Kapital", was: Defin..., moneymind, 03.09.2014
- Re: [AG-GOuFP] nicht Produktionsmittel, sondern ihr Vermögenswert ist "Kapital", was: Defin..., Patrik Pekrul, 03.09.2014
- Re: [AG-GOuFP] Kapitalismus - Definition für Vision, moneymind, 03.09.2014
- Re: [AG-GOuFP] Kapital - Definition, moneymind, 04.09.2014
- Re: [AG-GOuFP] Kapitalismus - Definition für Vision, Axel Grimm, 04.09.2014
- Re: [AG-GOuFP] nicht Produktionsmittel, sondern ihr Vermögenswert ist "Kapital", was: Defin..., Patrik Pekrul, 03.09.2014
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