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ag-geldordnung-und-finanzpolitik - Re: [AG-GOuFP] nicht Produktionsmittel, sondern ihr Vermögenswert ist "Kapital", was: Defin...

ag-geldordnung-und-finanzpolitik AT lists.piratenpartei.de

Betreff: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik

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Re: [AG-GOuFP] nicht Produktionsmittel, sondern ihr Vermögenswert ist "Kapital", was: Defin...


Chronologisch Thread 
  • From: moneymind <moneymind AT gmx.de>
  • To: ag-geldordnung-und-finanzpolitik AT lists.piratenpartei.de
  • Subject: Re: [AG-GOuFP] nicht Produktionsmittel, sondern ihr Vermögenswert ist "Kapital", was: Defin...
  • Date: Wed, 03 Sep 2014 13:54:15 +0000
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-geldordnung-und-finanzpolitik>
  • List-id: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik <ag-geldordnung-und-finanzpolitik.lists.piratenpartei.de>

Hallo Patrik,

ich formuliere mit Absicht mal bißchen provozierend - ist nicht persönlich gemeint, Deine Ansicht ist ja die der meisten Ökonomen, und gegen DIESE polemisiere ich hier, um eine grundlegende Diskussion zum Kapitalismusbegriff (und zum Begriff des "Werts") anzuregen.

Ich hoffe, Du kannst das so annehmen.

Du schreibst:

Nun, "Kapital" sind im Kern die Mittel, die zur Produktion eingesetzt werden. Was sollte es sonst sein?

Nein, dann hast Du - genau wie fast alle Ökonomen und im Gegensatz zu den Juristen - hinten und vorne nicht verstanden, was "Kapital" und "Kapitalismus" sind.

Die Mittel (Güter - Grundstücke, Gebäude, Maschinen usw.), die zur Produktion eingesetzt werden, "sind" *nicht* das "Kapital".

*Das "Kapital" "ist" ihr (in Geld ausgedrückter, bilanzierbarer) VERMÖGENSWERT. *

Dieser Vermögenswert ist aber /keine Eigenschaft der Güter/, sondern bezieht sich auf den immateriellen *Rechtstitel * ("EIGENTUM") an den Gütern. Dieses setzt eine bürgerliche (auf Eigentum und Vertrag basierende) Rechtsordnung voraus, und die setzt wiederum ein staatliches Gewaltmonopol voraus. Ohne dieses gibt es keinen bilanzierbaren "Vermögenswert" und kein "Kapital", sondern nur "Gebrauchswerte" und "Produktionsmittel".

In other words, "Kapital" hat nichts mit den stofflichen Gütern zu tun, sondern ist eine _soziale Zuschreibung_ oder "Konstruktion", die Menschen erst (und nur) im Kontext eines solchen Rechtssystems machen.

*Es ist also etwas "geistiges" (immaterielles), sozial konstruiertes und nichts materielles. *

"Kapital" (genauso wie der immaterielle "Vermögenswert", im Gegensatz zum stofflichen "Gebrauchswert") ist nichts materielles, sondern etwas rein soziales und immaterielles. Es ergibt sich aus einer bestimmten Form menschlicher Beziehungen, die auf Eigentum, Vertrag und Schuldrecht beruht.

Um das zu verdeutlichen, einige Beispiele.

1.) Eine Produktionsanlage, die riesig, aber völlig veraltet sind und daher zur Produktion von am Markt zu kostendeckenden Preisen absetzbaren Preisen nicht mehr taugen, ist kein "Kapital", sondern (nach betriebswirtschatlichen Kriterien) wertloser "Schrott", selbst dann, wenn sich rein physisch wunderbar mit ihnen arbeiten ließe. Nach betriebswirtschaftlichen Kriterien ist sie kein Kapital, sondern ein Non-Valeur. Kapital wäre sie ausschließlich dann, wenn sich damit so arbeiten ließe, daß sich damit am Markt ein mindestens kostendeckender monetärer Ertrag erzielen läßt. "Markt" wiederum ergibt sich nur aus Eigentum, Vertragsfreiheit und Schuldrecht.

Schon daran wird deutlich, daß "Kapital" nicht eine Eigenschaft der Güter selbst ist, sondern sich aus der speziellen Bedeutung ergibt, die Güter im Kontext einer bürgerlichen Rechtsordnung für die dieser unterworfenen Bürger als Mittel der Mehrung von abstraktem Vermögen haben.

Ein weiteres Beispiel, um zu verdeutlichen, daß der Vermögenswert eines Guts keine Eigenschaft des Gutes selber ist, sondern sich allein auf den Rechtstitel an dem Gut bezieht:

2.) Ein Hauseigentümer vermietet sein Haus. Der Mieter wird Besitzer, aber der Vermieter bleibt Eigentümer. Der Mieter kann den Vermögenswert des Hauses nicht als Aktivposten in seiner Bilanz verbuchen. Das kann nur der Eigentümer, und das ist der Vermieter. Daran sieht man, daß sich der Vermögenswert nicht auf das materielle Haus selbst, sondern auf den Eigentumstitel daran bezieht. Der ergibt sich aus der bürgerlichen Rechtsordnung. Existiert diese nicht, hat das Haus auch keinen bilanzierbaren Vermögenswert - wohl aber Nutzungsmöglichkeiten und Tauschmöglichkeiten.

Sowohl Arbeitswerttheorie als auch Grenznutzentheorie verpassen diese immaterielle, sozial konstruierte Natur des Vermögenswerts völlig - nur bei Marx gibt es - mit seiner Unterscheidung von Gebrauchswert und Tauschwert sowie von konkret-gebrauchswertschaffender und abstrakt-wertschaffender Arbeit eine Ahnung davon. Aber "abstrakte Arbeit" bleibt ein inhaltlich unbestimmter Leerbegriff, und der Begriff "Vermögenswert" kommt bei Marx nicht vor. Als Materialist formuliert er letztlich auch eine materialistische Werttheorie - und genau die geht vorbei an der tatsächlichen Funktionsweise des "Kapitalismus".

*Ökonomen raffen also von vorneherein gar nicht, worum es bei "Kapital" und "Vermögen" eigentlich geht: um RECHTE, BUCHFÜHRUNG, BUCHGEWINNE und VERMÖGENSWERTE, nicht um "Produktion". Die wird nur als Mittel für ersteres gebraucht und kann eben auch durch Handel mit Gütern oder Vermögenstiteln - Spekulation - ersetzt werden).

In jedem juristischen Lehrbuch zum Privatrecht steht jedoch völlig lapidar drin, was tatsächlich und praktisch im Kapitalismus Sache ist: *

/"Vermögen ist eine Summe, eine Zusammenfassung von Rechten, und zwar im Hinblick auf eine bestimmte Person, der sie zustehen. *Auch hier begegnet uns wieder die Gleichsetzung der Sache mit dem Eigentum an der Sache; so, wenn in einer Vermögensaufstellung nacheinanderangeführt werden: Grundstücke, bewegliche Sachen, Forderungen und andere Vermögensrechte. Gemeint sind: Eigentumsrechte an Grundstücken, Eigentumsrechte an beweglichen Sachen, Forderungen und sonstige Rechte.* Mit Recht sagt v. Tuhr: *Keine unmittelbaren Bestandteile des Vermögens sind die Objekte der zum Vermögen gehörenden Rechte; das Vermögen besteht aus dem Eigentum an den Sachen, die dem Berechtigten gehören, nicht aus den Sachen selbst, aus den Forderungen, nicht aus den Leistungsgegenständen, die vermöge der Forderung verlangt werden können*.’ ” (Karl Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts I, Allgemeiner Teil, München 1989, S. 304f.)/

Ich hatte das mal etwas genauer (mit weiteren Zitaten von Juristen) auszuführen versucht.

ALSO:

- Produktionsmittel gehören in die Welt der Güter. Sie können auch außerhalb einer bürgerlichen Rechtsordnung genutzt werden (wie in sozialistischen Zentralplanwirtschaften), sind dann aber KEIN Kapital.

- "Kapital" gehört in die Welt des bürgerlichen Rechts und der dieses voraussetzenden (doppelten) Buchhaltung (in monetären Vermögensgrößen) und damit in die Welt rein geistiger, sozialer Konstruktionen (Recht basiert auf den abstrakten Ideen "Freiheit" und "Gleichheit"), die allerdings institutionell mit Gewalt durchsetzbar sein müssen (staatl. Gewaltmonopol, Gerichtsvollzieher, etc.). Juristen nennen das (mit Hegel) die Welt des "objektiven Geistes".

Kapital bedeutet, mit "etwas" am Markt monetäre Erträge (vermögensmäßige Bilanzgewinne) erzielen zu können; dieses "Etwas" sind immer Rechtstitel, ob es nun Rechtstitel an Gütern, an Ideen (Patente) oder Anrechte auf Leistungen (Forderungen, Anleihen etc.) sind.

*Endzweck kapitalistischer Produktion sind nicht Güter und ihr Gebrauchswert, sondern der immaterielle Vermögenswert und seine Mehrung.
*
[Daß dabei gesamtwirtschaftlich eine Überflußversorgung mit Gebrauchswerten entsteht, ergibt sich aus dem "klassischen Konkurrenzparadoxon" (Stützel) des Adam Smith (privates egoistisches Profitstreben führt - quasi als Nebeneffekt des Profitstrebens - zu gesamtgesellschaftlichem Güterwohlstand). - Das nur am Rande. ]

Warum ist das wichtig?

Weil man ohne die Installation einer funktionierenden und verläßlichen bürgerlichen Rechtsordnung keinen "Kapitalismus" (mit funktionierendem Kredit- und Geldsystem dynamischer Ausdifferenzierung der Arbeitsteilung, innovativen Unternehmern usw.) schaffen kann.

Aber genau DAS suggeriert Deine (falsche) Definition von "Kapital", die aber ja vom Großteil der Wirtschaftswissenschaften geteilt wird: daß Kapital immer schon da sei, wenn nur große Produktionsmittelanhäufungen vorhanden seien.

Dieser Kernfehler gehört zu den wichtigsten Gründen nicht nur für die völlige Ratlosigkeit und das komplette Versagen der Entwicklungstheorie, die "Kapitalmangel" für einen Mangel an Produktionsmitteln hält statt für einen Mangel an Rechtsstrukturen (und darauf bezogenen Wahrnehmungs- und Handlungsgewohnheiten der ihr Unterworfenen).

Auch Keynesianer wie Flaßbeck tappen bei ihren entwicklungstheoretischen Überlegungen voll in diese Falle (werde ich später noch belegen).

Sie gehört auch zu den Kernfehlern, die der völlig falschen und nach hinten losgegangenen Strategie, die Rußland - auf Anraten westlicher Berater - unter Gorby, Jelzin und Gaidar gewählt hat und die zu einem völligen Scheitern der Transformation geführt hat, die Putin geradezu gezwungen hat, wieder einen starken Zentralstaat zu schaffen (daß er verläßliches Zivilrecht brauchen würde, versteht er vermutlich gar nicht, denn in Russland gibt es - außer in Novgorod ab dem 15.-17. Jdht, das mit der Hanse Kontakt hatte - ganz einfach so gut wie keine diesbezügliche Tradition).

Ergebnis der auf der Basis Deines Denkfehlers (=des Kerndenkfehlers der Wirtschaftswissenschaft) falsch angegangenen Transformation daß in RU heute wieder antiwestliche Ressentiments blühen und viele Russen sagen, "westlicher Liberalismus ist nix für uns".

Das völlige Chaos, das resultiert, wenn man die staatliche Zentralplanung einfach beseitigt, aber kein solches Rechtssystem schafft, ist gut dokumentiert. Es funktioniert dann gar nichts - ich hab dazu in der Quellensammlung Texte verlinkt, deren Autoren das en detail beschreiben:

[url=http://wiki.piratenpartei.de/AG_Geldordnung_und_Finanzpolitik/Quellen/sortiert_nach_person#Woodruff.2C_David]Vorwort zu David Woodruffs "Money Unmade: Barter and the Fate of Russian Capitalism" http://%5Dhier%5B/url

Diss von Elena Vinogradova: Contract Enforcement in the New Russia. http://wiki.piratenpartei.de/AG_Geldordnung_und_Finanzpolitik/Quellen/sortiert_nach_person#Vinogradova.2C_Elena

Dein Denkfehler, der ja nicht nur Deiner ist, sondern von den Wirtschaftswissenschaften und deren Werttheorien ebenfalls gemacht wird, ist also nicht einfach nur irgendein folgenloser Denkfehler, sondern hat ungeheure praktische Konsequenzen für die komplette Weltwirtschaft.

Daher nochmal zurück zur Kapitalismusdefinition: die essentiellen Bestandteile der Kapitalismusdefinition, die dem Kapitalismus zugrundeliegenden Grundideen sind (für mich):

*Freiheit, Gleichheit, Eigentum, Vertrag (bürgerliches Recht). *

Gruß!




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