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ag-gesundheitswesen - Re: [AG-Gesundheit] Die "Duale Vergütung" im Gesundheitswesen

ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de

Betreff: AG Gesundheit

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Re: [AG-Gesundheit] Die "Duale Vergütung" im Gesundheitswesen


Chronologisch Thread 
  • From: syna <syna AT news.piratenpartei.de>
  • To: ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de
  • Subject: Re: [AG-Gesundheit] Die "Duale Vergütung" im Gesundheitswesen
  • Date: Sun, 06 May 2012 21:01:18 +0000
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-gesundheitswesen>
  • List-id: AG Gesundheit <ag-gesundheitswesen.lists.piratenpartei.de>
  • Organization: Newsserver der Piratenpartei Deutschland - Infos siehe: http://wiki.piratenpartei.de/Syncom/Newsserver


Dr. Holger Scholz schrieb:
Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, warum es im PKV Bereich überhaupt allzu starke staatliche Eingriffe geben sollte. Der Bereich ist, wie der Name schon sagt, privat. Die beste "Waffe" gegen die PKVen ist eine leistungsfähige, steuerfinanzierte medizinische Grundversorgung. Daran muss gearbeitet werden. Was und warum der einzelne dann privat macht, ist privat.
VG
HS

Hallo Holger!

Das ist ja gerade das *Problem des "Dualen Vergütungssystems"*:

Das "Dualen Vergütungssystem" bringt soviele Nachteile, Verzerrungen
mit sich, dass es abgeschafft werden muss. Entweder sollte die PKV
abgeschafft werden (dafür bin ich) - oder es sollte die GKV abgeschafft
werden - oder es sollte ganz unabhänig ein neues System mit einer
einzigen Vergütung geschaffen werden.

Leider ist das Eingangsposting nicht mehr vorhanden. Darum wiederhole ich
es hier nochmal - mit *allem inhaltlichen Nachdruck*:

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Ein Kern-Charakteristikum des heutigen Gesundheitssystems ist die "Duale
Vergütung" im Gesundheitssystem. Was ist die "Duale Vergütung"?

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Duale Vergütung
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Die "Duale Vergütung" bedeutet, dass einige Patienten, nämlich
alle GKV-Versicherten, nach einem Standard-Tarif abgerechnet
werden. Das ist der EBM (Einheitlicher Bewertungsmaßstab) bzw.
EBMA (für zahnärztliche Leistungen). Und dass andere Patienten, nämlich
alle PKV-Patienten nach einem höheren Tarif abgerechnet werden. Dieser
höhere Tarif heißt GOÄ (Gebührenordnung für Ärzte) bzw. GOZ (für
Zahnärzte). Die Bezahlung der PKV-Patienten kann sogar alternativ - vor
der Behandlung - wie in normalen privatwirtschaftlichen Verträgen üblich -
frei ausgehandelt und festgelegt werden.

Zur Erklärung:
------------------------
GKV = Gesetzliche Krankenversicherung. 90% der Bevölkerung
sind "gesetzlich" versichert.

PKV = Private Krankenversicherung. Etwa 10% der Bevölkerung
in Deutschland sind "privat" versichert. Manche nennen diese 10%
auch die "Privilegierten".
------------------------

Die Bezahlung der Ärzte und Kliniken durch die PKV-Patienten ist sehr viel
höher. So bekommt ein Arzt bei Behandlung eines PKV-Patienten oft mehr
als das Doppelte, oft sogar mehr als das Dreifache wie er für die gleiche
Behandlung eines GKV-Patienten bekommen würde. Das ist die "Duale
Vergütung".

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Beispiel "Shop"
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"Ja und? Macht doch nichts!" könnte man sagen. So einfach
ist es aber nicht. Gucken wir uns an einem Beispielen mal an,
was denn so eine "Duale Vergütung" bewirkt.

Nehmen wir an, wie haben einen Sportartikel-Laden, in guter
Lage - in der Innenstadt. Und nehmen wir an, dort gäbe es eine
"Duale Vergütung". D.h. bestimmte Kunden, erkennbar an einer
besonderen Kundenkarte, zahlen für dieselben Artikel mehr als
das Doppelte. Was würde das bewirken?

Nun - so sozial und humanistisch idealistisch der Ladeninhaber
auch eingestellt sein mag: Insgeheim bevorzugt er diese besonderen
Kunden mit Kundenkarte. Bei schlechten Zeiten, also Konjunkturkrise,
schlechten Verkaufszahlen usw. - guckt er noch gieriger auf die
Kunden mit Kundenkarte, ja er hofiert diese. Er denkt sich
Werbestrategien aus, genau diese Kunden anzulocken. Für das
Überleben seines Ladens kann dies existenziell sein.

Immer wenn ein Mensch seinen Laden betritt, sieht er jetzt schon
am Äußeren - an ganz subtilen Dingen - ob das ein Kunde mit der
Kundenkarte ist oder nicht. Und wenn der Ansturm auf den Laden
groß ist - und er zuwenig Personal hat, um alle Kunden zu bedienen, dann
sollen auf jeden Fall die Kunden mit Kundenkarte zuvorkommend
bedient werden. So hat er es seinen Mitarbeitern eingeschärft. Die
anderen Kunden müssen schon mal länger warten - oder werden
bisweilen gar nicht bedient.

Wir sehen bei diesem Beispiel, dass so eine "Duale Vergütungsstruktur"
ganz automatisch Kunden in Kunden erster Klasse und in Kunden zweiter
Klasse separiert. Der Markt richtet sich immer nach der Bezahlung aus und
generiert damit die Separation in die erste Klasse und die zweite Klasse.

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Beispiel "Niedergelassener Allgemeinarzt"
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Was bedeutet die "Duale Vergütungsstruktur" aber im Gesundheitswesen?
Stellen wir uns also einen jungen, niedergelassenen Allgemeinarzt vor.
Sein Studium hat er mit großem Impetus und viel Idealismus absolviert,
er möchte ja den Menschen helfen, er hat den hippokratischen Eid
geleistet und er ist hochmotiviert.

Aber für seine erste Praxis muss er einen hohen Kredit aufnehmen. Und
er ist erstmals mit den ökonomischen Bedingungen konfrontiert: Er muss
jetzt jeden Patienten mit "der Kasse abrechnen" - und darauf achten, dass
er die Gehälter seiner Angestellten und den Kredit zeitgerecht bedienen
kann.

Ihm fällt sofort auf, dass er für PKV-Patienten mehr als doppelt soviel
abrechnen kann als für andere Patienten. Mit der Zeit entdeckt er, dass er
bei PKV-Patienten schon mal öfters lächelt, sich sogar mehr Zeit nimmt
und bereitwilliger auf deren Wünsche eingeht. Damit die auch wirklich
wiederkommen.

Als er sich mit seinen früheren Kommilitonen trifft, und die von ihrer Yacht
auf dem Mittelmeer erzählen, da kommt er schon mal ins Grübeln: Er hat so
lange studiert - und sich dabei mit BAFÖG und Jobben über Wasser
gehalten - und kann seine Praxis jetzt "gerade so" finanzieren. Er
beschließt also, dass seine Finanzlage endlich besser werden müsse. Aber
wie?

Da kommen ihm die Privatpatienten wie gerufen. Der frühere Studienkollege
mit der Yacht im Mittelmeer behandelt am Starnberger See ausschließlich
Privatpatienten! Unser Jungarzt beschließt also, einige "Verfahrensweisen"
in seiner Praxis zu ändern: Die Privatpatienten bekommen einen eigenen
Praxis-Zugang - also eine andere besondere Tür - und haben in Zukunft
keine Wartezeit mehr. Er wird sie sofort empfangen. Die anderen Patienten
im Wartezimmer ahnen davon nichts. Das Personal wird angehalten, bei
Terminwünschen genau zwischen GKV- und PKV-Patienten zu
unterscheiden: Privatversicherte sollen noch in der Woche einen ihnen
genehmen Termin bekommen. Gesetzliche Patienten werden normal "hinten
in die Schlange" eingereiht.

Denn es gilt sich einen Ruf für Privat-Kunden-Patienten zu erarbeiten. Über
Weiterempfehlungen von Patient zu Patient in seinem Stadtteil will er sich
den Ruf erarbeiten, besonders schnell, zuvorkommend und kompetent zu
sein - und zwar für Privatpatienten. Es ist für ihn wichtig, den Anteil der
Privatpatienten stark zu erhöhen, nur so kann er seine Kredite bedienen
und selbst auch mal Urlaub am Mittelmeer machen.

Diese Ausrichtung für Privatpatienten gelingt in Gebieten wie Starnberger
See oder Hamburg Blankenese sehr einfach: Dort gibt es eigentlich nur
Privatpatienten. Aber in ländlichen Bereichen oder prekären Stadtteilen -
etwa in Berlin Neukölln - da funktioniert das nicht. Denn da gibt es gar
keine Privatpatienten. Entsprechend unattraktiv - oder sogar ökonomisch
gar nicht tragbar - ist es dort für einen jungen Arzt, sich niederzulassen.

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Beispiel "Krankenhaus-Chirurg"
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Krankenhäuser sind seit den 90igern einem starken ökonomischen Druck
ausgesetzt. Nicht nur, dass die Krankenkassen die Pflegesätze nicht
erhöhen wollen. Nein, durch immer neue gesetzliche Vorgaben der
Abrechnung, durch Regelungen für Fallpauschalen und Sonderentgelte, für
Liegezeiten u.a. ist die Krankenhausleitung angehalten, sich immer neue
Verfahren zur "ökonomischen Optimierung" auszudenken. Die Stadt oder
Kommune droht jedes Jahr auf's Neue mit Privatisierung. Und falls die Klinik
schon einem privaten Betreiber gehört, dann ist das Controlling sowieso die
oberste Stelle, die letzlich "das Sagen" hat.

In diesem Umfeld wird die "Duale Vergütung" von Behandlungsleistungen
natürlich ganz besonders berücksichtigt. Dem Controlling fällt ja täglich
auf, dass PKV-Patienten lukrativ sind. GKV-Patienten dagegen eher
weniger. Deshalb wird die interne Organisation so gestaltet, dass PKV-lern
jedes Diagnoseverfahren und jede Therapie offen steht und angeboten
wird.

Je mehr Druck die Stadt oder Kommune macht, je diffiziler die
Verhandlungen mit den Krankenkassen werden, desto höher ist der
Kostendruck auf den kaufmännischen Direktor. Sein Posten hängt oft am
seidenen Faden, am "Kostenfaden". Deshalb wendet er alle Energie auf, um
möglichst viele Kosten über die Patientenbehandlung hereinzuholen.
Deshalb richtet er sein Augenmerk ganz stark auf die Privatpatienten.
Deshalb wird die interne Organisation umgebaut und das Controlling
angewiesen, entsprechende Vorschläge zu machen. Einige Kliniken richten
sogar einen baulich getrennten, eigenen Bereich ein, um Privatpatienten
angemessen hofieren zu können. Das nennen sie dann "Privita" oder so
ähnlich.

Diese Umorganisation hat natürlich Auswirkungen auf die Behandlung. An
Unikliniken und anderen Kliniken "höchster Exzellenz" spezialisieren sich
Chirurgen auf bestimmte komplizierte OPs und OP-Verfahren. Sie erwerben
sich damit eine besondere Reputation. Diese Reputationen werden z.B. in
der Zeitschrift Focus regelmäßig veröffentlicht.

Die Klinikleitung strebt danach, solche Spezialisten in der Chirurgie
einzustellen - um mit deren Reputation auch die Reputation der Klinik für
PKV-Patienten auszubauen. Damit möglichst viele PKV-Patienten in ihre
Klinik kommen. Und damit sie dadurch eine gute Jahresbilanz ausweisen
können.

Deshalb wirbt die Klinikleitung diese Spezialisten aus Unikliniken oder
anderen Kliniken ab, indem sie ein besseres "Gehalt" anbietet. Dies kann sie
aber nur zahlen, wenn sie konsequent das Geschäftsmodell "Reputation bei
PKV-Patienten" einhält. Die interne Krankenhausorganisation sorgt dafür,
dass der neue, bekannte hochbezahlte Spezialist fast nur PKV-Patienten
behandelt, weil da die "Kostenstruktur stimmt". Dabei ist es egal, ob diese
Privatpatienten gerade die OP benötigen, auf die sich der Spitzenchirurg
spezialisiert hat oder nicht. Der hochbezahlte Spezialist muss sich dann
auch dafür hergeben, Blinddarm-OPs in großer Zahl durchzuführen. Weil
diese Blinddarm-OPs bei PKV-Patienten viel besser dotiert sind - und so die
Kosten überhaupt erst wieder hereinkommen. Der kaufmännische Direktor,
die Klinikadministration und das Controlling bestehen darauf, dass es so
gemacht wird!

Umgekehrt steht der Spezialist für ernste OPs von GKV-Patienten kaum zur
Verfügung. Weniger erfahrene, manchmal noch junge Chirurgen, oder
Chirurgen, die "alles querbeet machen", werden bei GKV-Patienten die
komplizierte Bauchspeichel-OP durchführen müssen.

Man kann sich leicht vorstellen, was das bedeutet: Stellen Sie sich vor, sie
müssten bei ihrem Auto den Vergaser austauschen. Wenn Sie das erst ein
oder zweimal gemacht haben, werden Sie sich schwer tun: Sie müssen
erstmal gucken, wo der Vergaser überhaupt ist, was für Anschlüsse der
hat. Sie müssen sich überlegen, in welcher Reihenfolge sie welche
Schraube lösen usw. Zuletzt springt Ihr Auto nicht an, weil Sie eine
Kleinigkeit übersehen haben.

Der Spezialist, der schon 1000 Vergaser ausgetauscht hat, macht das alles
schnell und routiniert. Und er kann sich auf die üblichen Fehlerstellen
konzentrieren - und das Auto fährt nach dem Eingriff besser als je zuvor.

So ähnlich ist es in der Chirurgie leider auch. Nur mit dem Unterschied,
dass es dort um Leben oder Tod geht: Die Überlebensrate hängt sensibel
von der Routine der Operateurs ab. Das zeigen zahlreiche Studien aus den
USA:

Wenn der GKV-Patient ernsthaft operiert werden muss, dann geben
Controlling und OP-Planung vor, welcher Chirurg gerade "offen" ist. Das
kann ein erfahrener Chirurg sein, das ist aber oft ein "Allgemein-Chirurg",
der so alles macht, oder es kann sogar der unerfahrene Neuling sein, der
gerade eingestellt wurde.

Wenn der PKV-Patient ernsthaft operiert werden muss, dann - auch das
gibt das Controlling vor - wird der Operateur mit der hohen Reputation -
der Spezialist für diese OP - selbstverständlich für die OP geplant und
diese durchführen.

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Was bedeutet das also?
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Jeder kann sich vorstellen, was das für die Überlebensaussichten im Falle
einer Krebs-OP für PKV-Patienten und für GKV-Patienten bedeutet.

Man nennt dieses Phänomen, das die reputierten Spezialisten in den
Kliniken betrifft, "Fehlallokation": Die Fähigkeiten solcher Spezialisten
werden lieber für Trivialeinsätze bei PKV-lern verschwendet. Sie stehen
dabei für komplexe, über Leben oder Tod-entscheidende Eingriffe bei
GKV-Patienten nicht zur Verfügung.

Und das ist die schwerwiegendste Konsequenz der "Dualen
Vergütungsstruktur": Da die internen Abläufe in den Kliniken, der
existenzielle Druck des kaufmännischen Direktors und des Controllings dem
Außenstehenden selten bewusst werden, erkennen Außenstehende nicht
so leicht, wie die Fehlallokation zustande kommt - und was für
Konsequenzen sie hat.

Wer das selbst einmal überprüfen will, der mache doch einfach mal den
Selbstversuch: Suchen Sie sich einen reputierten OP-Spezialisten für eine
schlimme Krebsart heraus. Die finden Sie bei der Zeitschrift Focus oder auf
vielen medizinischen Such- und Online-Portalen. Rufen Sie dort in der
Uniklinik an, in der Absicht, einen Termin zu bekommen. Die entscheidenden
Frage, die das Sekretariat Ihnen stellen wird, wird sein: "Wie sind Sie
versichert?". Wenn Sie dann "gesetzlich" oder "Kasse" sagen, ist das
Gespräch hier beendet. Manchmal bekommen Sie noch einen Phantasie-
Termin in 6 Monaten oder so - aber das war's dann.

Was dahinter steckt, habe ich versucht, oben zu schildern und kausal zu
entwickeln. Ich finde: Wenn wir verantwortungsvolle Politik für alle Bürger
machen wollen, dann müssen wir uns der Fehlallokation mit ihren
"versteckten", aber dennoch bestimmenden Abläufen bewusst sein!

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Last not least ...
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Neben der Fehlallokation (1) , die wohl die schwerwiegendste Wirkung ist,
hat die "Duale Vergütungsstruktur" natürlich noch andere Nebenwirkungen:

*2. Geringe Forschungsleistung*

PKV-Patienten sind auch für Professoren so lukrativ, dass diese
sich lieber diesen Patienten widmen statt ihre Forschung stringent zu
betreiben.

*3. Doppelte Facharztschiene. *

Dadurch dass - durch verschiedenste verwirrende Regelungen -
GKV-Patienten i.d.R. die ambulante Behandlung in Kliniken verwehrt ist,
sind GKV-ler oftmals einer "Drehtürmedizin" ausgesetzt. Für
GKV-Krebspatienten ist das desaströs, für die Kosten des
Gesundheitswesens ebenfalls.

Das Thema "Solidarität und Gerechtigkeit" bei der Finanzierung habe ich in
diesem Posting bewusst ausgespart. Das wäre ein eigenes, großes Thema
(das im Thread "Die PKV muss abgeschafft werden" mitbehandelt wird).




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