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ag-gesundheitswesen - Re: [AG-Gesundheit] Die "Duale Vergütung" im Gesundheitswesen

ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de

Betreff: AG Gesundheit

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Re: [AG-Gesundheit] Die "Duale Vergütung" im Gesundheitswesen


Chronologisch Thread 
  • From: "Dr. A. Cavicchioli" <cavicchioli AT t-online.de>
  • To: ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de
  • Subject: Re: [AG-Gesundheit] Die "Duale Vergütung" im Gesundheitswesen
  • Date: Sun, 06 May 2012 18:22:52 +0200
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-gesundheitswesen>
  • List-id: AG Gesundheit <ag-gesundheitswesen.lists.piratenpartei.de>

Ciao,

Ergänzung: ich sehe neben den Gehältern in der PKV auch das Problem der Risikoselektion. Das kann zur genetischen Vorselektion oder einer Eintelung in Risikogruppen führen. Auch dies spricht gegen eine allgemeine PKV. Ich bin gerne bereit, für andere, die kränker sind, einzustehen und erwarte dann das Gleiche bei mir.

Viele Grüße
Alessandro

Am 06.05.2012 15:13, schrieb syna:

Wolfgang Gerstenhöfer schrieb:
Ahoi Syna,

Sorry Wolfgang,

leider dauert es manchmal lange, bis ich Zeit für Antworten habe.
Shame on me! Aber jetzt will ich gerne Stellung nehmen:

Wolfgang Gerstenhöfer schrieb:
zu dieser Thematik eine E-Mail von mir vom 10. Februar:

....

Ich stehe für eine Reform, die zu einer generationengerechten, möglichst zukunftssicheren und bezahlbaren Krankenversicherung führt, die größtmögliche Wahlfreiheit mit der medizinisch notwendigen Vorsorge, Untersuchung und Behandlung verbindet.

Na, das hört sich ja gut an. Aber das sagt sinngemäß
auch JEDE Partei in ihrem Parteiprogramm - aber lesen wir mal weiter:

Wolfgang Gerstenhöfer schrieb:
Kern meines Vorschlags ist deshalb die Umstellung des Finanzierungssystems vom Umlage- auf das Kapitaldeckungsverfahren und gleichzeitig die Verlagerung des Sozialausgleichs in das Steuersystem und damit auf eine wesentlich breitere Basis (alle Bürger und Unternehmen), ohne den Menschen eine Einheitsversicherung oder überhaupt einen bestimmten Versicherungsschutz aufzuzwingen.

Lieber Wolfgang,

das bereitet mir in der Tat *Kopfschmerzen*. Gerade das Gebaren der
PKVen in bestimmten Situationen/Bereichen - also das Schließen des
Pools, die Steigerung der Beiträge, das Ansteigen der Inkasso-Verfahren -
wirft ein bezeichnendes Licht auf die PKVen.

Es macht mir auch Kopfschmerzen, dass die höchste Maxime der PKVen,
wie für jedes privatwirtschaftliche Unternehmen, die *Rendite-Maximierung*
ist. Schön als Antrieb für schlankere Strukturen und die Aktionäre. Aber
schlecht für Bürger und Patienten: Die Kosten für Vorstand und
Administration sind in der PKV die Höchsten:

Verwaltungskosten pro Mitglied in der PKV: 377€
Verwaltungskosten pro Mitglied in der GKV: 115€

Quelle:

http://www.bpb.de/popup/popup_druckversion_sosi.html?guid=WZDR7I&sosi_guid=AAA741&sosi_lt=AAA739#AAA505

Führungskräfte der PKV und ihre Vertreter verdienen besonders durch
Provisionen! Bei ca. sechs oder sieben Monatsbeträgen
Abschlussprovision sind es im Standard-Tarif 2.100,-€ Provision, für den
Basis-Tarif aber 4.200,.-€. (2011).

Denn die PKV zahlen ihren Vorständen mehr Geld, sie zahlen hohe
Provisionen für Neu-Abschlüsse, und sie zahlen Dividenden aus. Und sie
bezahlen Kosten für Werbung, Marketing, Produktentwicklung. *Das alles
müssen GKVen* (bzw. muss eine Bürgerversicherung) *nicht zahlen.*

Aber auch die Gegenüberstellung Kapitaldeckungsverfahren versus
Umlagefinanzierung finde ich nicht sehr gelungen. Beide Verfahren haben
ihre Schwachpunkte. Gerade in der Finanzkrise hat sich gezeigt, dass das
Kapitaldeckungsverfahren sehr anfällig ist, wenn das Kapitel auch
"eingesetzt" wird. Wird es dagegen nicht eingesetzt, ist die Verzinsung
extrem niedrig bzw. man hat sehr hohe Inflationsverluste.

Da bevorzuge ich schon eher das *Umlageverfahren*, welches generell ja
auch im Sozialhaushalt so benutzt wird - und welches - mit variablen
Anpassungsparametern ausgestattet - durchaus zukunftssicher ist. Der
Gedanke hinter dem Umlageverfahren ist ja auch ein eher solidarischer,
demokratischer Grundgedanke.

*Auch der zweite Punkt* "Steuerermäßigung bzw. Ausgleich bei
Geringverdienern" funktioniert nicht. Ganz einfach, weil viele
Geringverdiener, Rentner und Studenten unterhalb des Existenzfreibetrags
liegen und deshalb gar keine oder nur wenig Steuern zahlen. Wie sollen
diese dann eine Steuerermäßigung bekommen? Nur wer viel Steuern
zahlt kann auch von einer Ermäßigung profitieren.

Oder soll es - auf Antrag - eine *Zahlung vom Finanzamt geben?* Wollen
Sie also hier den Bürokratie-Apparat weiter aufblähen: Muss also jeder
Kleinst- und Geringverdiener eine Steuererklärung abgeben und zweitens
einen Antrag auf Zahlung eines "Gesundheitsausgleichsbetrags" stellen?
Wie soll das vor sich gehen: Die wenigsten, die betroffen sind, füllen
überhaupt eine Steuererklärung aus. Für Hartz-IV-er ist es eine
zusätzliche Bittstellungs-Komponente - eine schon heute diskriminierte
und psychisch kleingehaltene Klientel? Wollen Sie dort noch zusätzlich
"draufschlagen"?

------------------------------------------------------------------------

*Lieber Wolfgang,* ich sehe für Ihren Vorschlag genaugenommen eigentlich
gar keinen Spielraum bei den Piraten.

------------------------------------------------------------------------

Auch die Floskel "überhaupt einen bestimmten Versicherungsschutz
aufzuzwingen" finde ich nicht gelungen. Jede Art von Solidarität bedeutet
ja immer, dass einige Gutverdienende mehr zahlen müssen als
Geringverdiener, das ist der Inhalt von Solidarität. Sie posaunen ja oben
lautstark in das Horn der Solidarität! Aber jede Solidarität hat - leider
immer ein bißchen - mit Zwang bzw. Ansprüchen an die, die ja auch die
Gewinner bzw. Profiteure unseres marktwirtschaftlichen Systems sind, zu
tun.

Ich finde auch *Freiheit und Liberalität* sind wichtige und großartige
Werte - sie sollten Grundmaximen sein. Deshalb ja auch: Freies Internet,
keine GEZ- und Kulturflat- oder sonstige Abgaben usw.

Aber im Bereich Gesundheit bewegen wir uns auf anderem Terrain - dies ist
*existenziell für das Dasein des Einzelnen* und damit letztlich auch für die
Demokratie. Deshalb ist hier auf der Einnahmeseite des Gesundheitswesens
Solidarität eine Voraussetzung für unser Gemeinwesen - und deshalb ist
hier auf der Einnahmeseite ein Solidarzwang gegenüber
den Profiteueren unverzichtbar.

Wolfgang Gerstenhöfer schrieb:
Was bei einer Einheitskrankenversicherung - vielleicht auch noch in Form eines Staatlichen Gesundheitsdienstes - geschieht, kann man sich durchaus in verschiedenen Ländern ansehen. Dort entsteht nämlich quasi ein zweiter, privater Gesundheitsmarkt, den sich dann nur noch sehr wenige leisten können.

Dann haben wir nicht mehr "nur" die Unterscheidung zwischen Kassen- und Privatpatienten, die ich beseitigen möchte, sondern die Unterscheidung zwischen "Staatspatienten" und Selbstzahlern.

Die Rationierung der Gesundheitsleistungen wird dann noch stärker als bisher auf dem Rücken der im Gesundheitswesen Beschäftigten ausgetragen und eine gute bis optimale Versorgung können sich nur noch die leisten, die es aus der eigenen Tasche - also ohne die Hilfe einer Solidar-, einer Versichertengemeinschaft - bezahlen können.

Dann haben wir tatsächlich eine Zwei-Klassen-Medizin, die ich nicht erleben und auch meinen beiden Töchtern nicht wünschen möchte.

Auch hier malen Sie ein* schiefes Bild.* Nur weil im NHS in
England nicht alles super funktioniert, nehmen Sie auschließlich die
negativen Erscheinungen dieses Systems auf. Die Lebenserwartung ist in
England höher als in Deutschland. Gleichzeitig sind die
Gesundheitsausgaben niedriger als in Deutschland. Für mich sind das
Kennzeichen eines überlegenen Systems - trotz aller seiner Schwächen in
manchen Details.

Die Ärzte innerhalb des NHS können sich zudem wirklich *um die Patienten
kümmern*, müssen sich nicht - wie in Deutschland teilweise - dem Diktat
des Khs-Controllers oder dem Diktat ihrer Praxiserwerbs-Schulden unterwerfen.

Wenn man dagegen das System in den *USA als Vergleich* nimmt - ein rein
privatwirtschaftliches System, wie Sie es ja auch hier propagieren - dann
sieht es ganz anders aus: Die Gesundheitsausgaben in den USA sind mit
Abstand die höchsten überhaupt (über 15% des BIP). Da zeichnet sich
ein desaströses Bild des rein privatwirtschaftlichen Vorzeige-
Gesundheitswesens ab.

Wenn es in diese Richtung geht, dann müssen Ihre Töchter schon viel
Glück haben (gute Heirat oder sehr hohes Einkommen!), um auf Dauer für
ihre Gesundheit und die ihrer Familie sorgen zu können. Überlegen Sie
mal!

Wolfgang Gerstenhöfer schrieb:
Wir brauchen nach meiner Überzeugung eine radikale und solidarische Reform. Mehr Menschen in ein schon lange nicht mehr zeitgemäßes System zu zwingen, macht es nicht besser. Es mag sein, dass wir damit die Probleme noch ein paar Jahre, vielleicht sogar noch das eine oder andere Jahrzehnt aufschieben, aber aufgeschoben ist bekanntlich nicht aufgehoben.

Jetzt gilt es, die Finanzierung unseres Gesundheitswesens bzw. unserer Krankenversicherung auf eine zukunftsorientierte Basis zu stellen und das Problem nicht weiter zu vertagen.

Ja, Wolfgang: Diesen Allgemeinplätzen kann ich
zustimmen. Sie sehen aber: In der konkreten Ausgestaltung bin ich - aus
guten Gründen - ganz anderer Meingung. Sie umrahmen Ihre Vorschläge
immer mit Attributen wie "solidarisch" und "zukunftssicher" - in der realen
Ausgestaltung kommen Ihre Vorschläge diesen Attributen aber kaum
nahe.

Einen schönen Sonntag wünsche ich Ihnen,

Greetings, Syna.




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