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ag-gesundheitswesen - Re: [AG-Gesundheit] Privates Gesundheitswesen

ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de

Betreff: AG Gesundheit

Listenarchiv

Re: [AG-Gesundheit] Privates Gesundheitswesen


Chronologisch Thread 
  • From: Wolfgang Gerstenhöfer <wolfgang.gerstenhoefer AT gmx.de>
  • To: "AG Gesundheit" <ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de>
  • Subject: Re: [AG-Gesundheit] Privates Gesundheitswesen
  • Date: Wed, 7 Mar 2012 20:52:23 +0100
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-gesundheitswesen>
  • List-id: AG Gesundheit <ag-gesundheitswesen.lists.piratenpartei.de>

Ahoi Marwyn,

vielen Dank für Deine Stellungnahme.

Ob der Begriff Verstaatlichung ein Unwort ist, muß jeder für sich entscheiden. Nach meiner Meinung führt die Einschränkung wirtschaftlicher Freiheit in den meisten Fällen auch irgendwann zur Beschränkung politischer Freiheiten und das hat gar nichts mit der technischen Entwicklung zu tun. Erst kommt die Planwirtschaft und dann die Diktatur - und zwar egal, ob rot oder braun.

Übrigens sind Genossenschaften und Stiftungen grundsätzlich privatwirtschaftliche Rechtsformen, die nichts mit Verstaatlichung oder Sozialisierung gemeinsam haben. Dagegen ist absolut nichts einzuwenden.

Mir geht es darum, daß es einen Anreiz geben muß, effizient und effektiv zu arbeiten. Das habe ich bei Bürokratien, die sich anonym über Steuern und Abgaben finanzieren in der Regel leider nicht. Da steht und fällt alles mit dem Idealismus der handelnden Personen. Es gibt keine Kunden- bzw. Patientenorientierung. (Die vermissen wir ja inzwischen schon in Bereichen, von denen wir meinen, sie wären marktwirtschaftlich organisiert.)

Klar sehe ich auch, daß es in unserem derzeitigen System gewinnbringender sein kann, möglichst lange zu behandeln statt schnell zu heilen. Und hierzu habe ich auch schon den einen oder anderen Vorschlag gemacht.

Wie stellst Du Dir denn eine demokratische und dezentrale Verwaltung des Gesundheitswesens vor? So eine Art von Räterepublik Gesundheitswesen?

Das Beispiel Bildungswesen ist meines Erachtens ein gutes und ein schlechtes Beispiel zugleich. Ein gutes Beispiel insofern, als unser Bildungswesen auch nicht (mehr) gerade vorbildlich ist, denn auch dort fehlen Anreize, sich kunden- und in dem Fall schülerorientiert zu verhalten. Auch hier fehlt Leistungswettbewerb und zwar unter den Schulen und den Lehrern. Bitte nicht verwechseln mit dem Leistungsdruck, dem die Schüler ausgesetzt sind, der für mich eine Folge dieses mangelhaften Systems ist. Und deshalb ist es zugleich ein schlechtes Beispiel. Denn mit der gleichen Analogie kann ich auch die Lebensmittel- und die Bekleidungsindustrie und sicher auch noch viele andere Wirtschaftszweige "verstaatlichen".

Es hat im Gesundheitswesen keine einzige Reform gegeben, die wettbewerbsorientiert gewesen wäre. Von einer sozialen Marktwirtschaft sind wir im Gesundheitswesen sehr weit weg. Die zahlreichen Kostendämpfungsgesetze seit dem Gesetz zur Dämpfung der Ausgabenentwicklung und zur Strukturverbesserung in der gesetzlichen Krankenversicherung (Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz - KVKG) vom 27.6.1977 haben immer nur an den Symptomen herumgedoktert, aber es wurden nie die Ursachen für die diversen Mißstände angegangen.

Gewinne z. B. durch Innovationen und gutes Wirtschaften zu ermöglichen, ist nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck. Eine freiheitliche Wirtschaftsordnung - und zwar auch im Gesundheits- und Bildungswesen (= Dienstleistungen) - dient dem Wohl aller Bürger als Verbraucher, Unternehmer, Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Steuerzahler.

Sie erfordert aber auch einen starken Staat, der die Rahmenbedingungen setzt, damit der Markt funktionieren kann. Denn leider halten sich nicht immer alle an die Regeln – ganz so wie im richtigen Leben. Ein starker Staat ist allerdings nicht der, bei dem sich Bürger, die sich politisch engagieren (= Politiker) für die besseren Unternehmer und die großen Wirtschaftslenker halten.

Ich bin fest davon überzeugt, daß es keine Wirtschaftsordnung gibt, die auch nur annähernd so erfolgreich ist – und zwar für alle Bürger. Die soziale Marktwirtschaft ist keine Veranstaltung zur bloßen Gewinnmaximierung. Sie ist auch keine kollektive Hängematte. Sie ist die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der Freiheit. Eine Wettbewerbswirtschaft ist die ökonomischste und zugleich die demokratischste Form der Wirtschaftsordnung.

Auf das Beispiel USA möchte ich hier nicht näher eingehen. Auch die USA ist für mich kein Vorbild. Dort gibt es nämlich auch keine soziale Marktwirtschaft und nicht nur nicht im Gesundheitswesen. Ich befürchte, daß wir hier sehr schnell Äpfel mit Birnen vergleichen.

Piratig-liberale Grüße
Wolfgang


----- Original Message ----- From: "Marwyn" <Marwyn AT news.piratenpartei.de>
To: <ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de>
Sent: Tuesday, March 06, 2012 1:27 PM
Subject: Re: [AG-Gesundheit] Privates Gesundheitswesen



checkinger schrieb:
Privat vs. Staatlich: Sind das die Gegensätze des 21. Jahrhunderts ?

Gute Nacht !

Der Alex aka checkinger

Ahoi schro, Wolfgang, Alex

Die Frage von Alex bringt mE das Problem gut auf den Punkt: Im Ausgangspost mag mit dem Begiff "Verstaatlichung" ein Unwort gefallen sein, aber letztlich gibt es neben dem Privateigentum eine Menge "öffentliche" Eigentumsformen (kommunales, genossenschaftliches, Stiftung, etc.). Das Gespenst einer "Zentralverwaltungswirtschaft" (Wolfgang) wäre keinesfalls automatische Folge einer "de-privatisierenden" Reform sondern droht lediglich bei einer allgemeinen Verstaatlichung "von oben herab" und "mit der Sense". - Schon im Ausgangspost wurde von schro aber lediglich von "kritischen Bereichen" gesprochen, nicht vom Gesundheitswesen als ganzes.
Zu klären ist also zweierlei: Erstens, was genau ist "kritisch"? (Meines Erachtens zumindest der Finanzierungsmechanismus - also die Versicherung(en) - sowie die Kliniken der Maximalversorgung. In der Forschung bedarf es deutlicher Regulation, evtl. auch öffentliche Forschung parallel zur privaten.)
Zweitens muss klar sein, dass öffentliches Eigentum im Gesundheitswesen nicht "zentral" und "hierarchisch" (also ala Ostblock-Kommunismus) verwaltet werden soll, sondern dezentral und demokratisch. (Außerdem sollte man nicht unterschätzen, dass mit der Digitalisierung die technischen Voraussetzungen für effiziente Verwaltung deutlich besser geworden sind, als sie zu Zeiten des Ostblock waren. Insgesamt halte ich Wolfgangs Verweis auf "Erfahrungen" mit Zentralverwaltungswirtschaft daher für ziemlich hinfällig: Die Erfahrungen entstanden in Diktaturen und unter technisch überholten Bedingungen.)

Schro hat recht mit seiner Kritik eines Gesundheitswesen, das ein "finanzielles Interesse daran hat, dass es uns nicht gut geht". Das zeigt sich übrigens nicht nur bei der Pharmaindustrie, hier ein guter Artikel aus dem Ärzteblatt zu den Folgen von Privatisierung im Bereich der Krankenhäuser: Was sich nicht rechnet, findet nicht statt http://www.aerzteblatt.de/archiv/65373.

Ein Analogieschluss: Die zentrale Aufgabe des Bildungswesens ist nicht, Gewinne zu machen, sondern Bildung zur Verfügung zu stellen und das bei gleichen Bildungschancen für alle. Vergleichbares gilt für das Gesundheitssystem: Seine Aufgabe besteht darin, Gesundheit zu bewahren bzw. so weit wie möglich wieder herzustellen, Gewinne sind nicht Ziel des Systems. Beide Sektoren sind Teil der öffentlichen Daseinsfürsorge und wettbewerbliche Lösungen sind nur dort sinnvoll, wo sie mit dem übergeordneten Ziel zumindest nicht kollidieren, idealerweise dieses sogar unterstützen.

Für mich ist nur schwer nachvollziehbar, warum manche nach bald 20 Jahren immer neuer wettbewerbsorientierter Reformen, die weder das Kostenwachstum gestoppt, noch das System effizient gemacht haben noch immer "mehr davon" fordern. Das am stärksten privatisierte Gesundheitssystem der westlichen Welt, das der USA ist übrigens auch das teuerste und ineffizienteste.
--
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https://service.piratenpartei.de/listinfo/ag-gesundheitswesen





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