Zum Inhalt springen.
Sympa Menü

ag-gesundheitswesen - Re: [AG-Gesundheit] Finanzierung des Gesundheitswesens bzw. der Krankenversicherung

ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de

Betreff: AG Gesundheit

Listenarchiv

Re: [AG-Gesundheit] Finanzierung des Gesundheitswesens bzw. der Krankenversicherung


Chronologisch Thread 
  • From: Wolfgang Gerstenhöfer <wolfgang.gerstenhoefer AT gmx.de>
  • To: "AG Gesundheit" <ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de>
  • Subject: Re: [AG-Gesundheit] Finanzierung des Gesundheitswesens bzw. der Krankenversicherung
  • Date: Sat, 11 Feb 2012 19:10:03 +0100
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-gesundheitswesen>
  • List-id: AG Gesundheit <ag-gesundheitswesen.lists.piratenpartei.de>

Hallo Alex,

vielen Dank für Deine Anmerkungen.

Gern nehme ich dazu Stellung.

Vorab:
Leider gibt es einfach bestimmte Fakten - gerade mit Blick auf die
demographische Entwicklung (Bevölkerungspilz statt -pyramide) und damit auf
das
Umlageverfahren -, die sich nicht dadurch ändern, weil man sie nicht wahr
haben möchte oder nicht bereit ist, entsprechende Konsequenzen zu ziehen.


----- Original Message ----- From: "checkinger" <checkinger AT news.piratenpartei.de>
To: <ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de>
Sent: Friday, February 10, 2012 10:25 PM
Subject: Re: [AG-Gesundheit]Finanzierung des Gesundheitswesens bzw. der
Krankenversicherung



Wolfgang Gerstenhöfer schrieb:
Es gibt keine sicheren Kapitalanlagen, und es hat sie auch noch nie
gegeben.

Da setze ich jetzt mal ein DICKES: !

Die Bildung von Alterungsrückstellungen, also von Rückstellungen, die
dazu dienen, die mit zunehmendem Alter steigenden Krankheitskosten zu
finanzieren, funktioniert.

Das klingt auch unheimlich logisch. Marktgesetzeskonform.

Ich zweifle trotzdem. Ist die PKV vielleicht das grösste Schneeballsystem
von allen ? (Unterstützt durch den durch das Wirtschaftwunder verstärkten
Aufsättigungseffekt: am Anfang waren es wenige Mitglieder und geringe
Kosten. Dann waren es viele Mitglieder und geringe Kosten. Heute sind es
viele Mitglieder und hohe Kosten.) Die PKV kommt an Ihre Grenzen. Viele
Mitglieder können die immer teureren Tarife nicht mehr bezahlen.

Es ist immer wieder schön, wenn Äpfel mit Birnen verglichen werden, leider
betrügt man sich damit nur selbst.

Erstens besteht mein Vorschlag/mein Konzept nicht daraus, einfach die
heutige PKV für alle zu öffnen, so wie ich auch nicht die heutige GKV auf
alle Bürger ausdehnen möchte.

Zweitens muss man bei Beitragsvergleichen auch immer einen kritischen Blick
auf die Leistungsseite werfen. Man kann nur die Beiträge für annähernd
gleiche Leistungen vergleichen. Und da muss sich die PKV, ohne dass ich hier
für sie
werben will, sicher nicht hinter der GKV verstecken.

Solche Vergleiche hinken aber letztendlich immer, weil es eben zwei völlig
andere Systeme sind.

Vielleicht noch eines: Es gibt keine Privatpatienten, weil es eine private
Krankenversicherung gibt, sondern es gibt eine private Krankenversicherung,
weil es Privatpatienten gibt (bzw. gab).

und des medizinischen Fortschritts - bei vertraglich garantierten
Leistungen, die nicht durch Gesetz jederzeit und einseitig gekürzt oder
gestrichen werden können.

Stimmt so nicht. Die Leistungen der PKV sind kodifiziert in der GOÄ
(Gebührenordnung für Ärzte). Verkürzt gesagt: Durch die PKV
erstattungsfähig ist nur diejenige Leistung, die in der GOÄ ausgewiesen
ist. Die GOÄ ist (nicht durch die ärztliche Selbstverwaltung bestimmt,
sondern) ein Gesetz, das durch den Bundesrat beschlossen wird. Die letzte
inhaltliche Änderung der GOÄ datiert auf das Jahr 1996. Das relativiert
gleich beide Deine Aussagen:
1. Fortschritt: Der Fortschritt hat seit 1996 in der GOÄ keinen
Niederschlag gefunden. Neuartige Leistungen erhielten also keine
Abrechnungsziffer. Diese Leistungen müssen durch teilweise abstruse, sog.
Analog-Ziffern abgerechnet werden. Ob diese Analog-Leistungen im
Einzelfall erstattet werden, unterliegt einem undurchsichtigen Gemauschel
der einzelnen Kasse, das Faktoren wie Charisma, Bekanntheit, Institution
unterliegt. Nach GOÄ hat ein medizinischer Fortschritt nicht
stattgefunden.
2. "Vertraglich garantierte Leistungen, die nicht durch Gesetz...": s.o.
Die GOÄ ist ein Gesetz ! Warum? Und: Warum wurde die GOÄ seit 1995 nicht
geändert ? Weil der Staat der grösste Empfänger=Zahler von GOÄ-Leistungen
ist ! Alle seine Beamten erhalten vom Arzt eine Privatrechnung nach GOÄ.
Eine Anpassung der GOÄ an die allgemeine Preissteigerung hätte zum
ultimativen Kollaps der Staatsfinanzen geführt.
Streng genommen, wurde die Vergütung für keine einzige privatärztiche
Leistung an die Inflation / Anstieg der Lebenshaltungskosten angepasst.
Privatärzte haben seit 1995 keine Lohnanpassung erhalten. (2001 wurde
lediglich irgendwas für de Podologen=Fusspfleger und die EURO-Umrechnung
(auf 5-Stellen hinter dem Komma) eingefügt). Die goldenen Zeiten für Ärzte
sind also auch im KV Bereich vorbei. Trotzdem ist die GOÄ-Liquidation auch
heute noch der Bringer für jede Arztpraxis. Die GKV-Scheine erwirtschaften
lediglich die Kosten...

Mehr zur GOÄ hier:
http://de.wikipedia.org/wiki/Geb%C3%BChrenordnung_f%C3%BCr_%C3%84rzte
(Lesenswert !)

Stimmt so auch nicht.

Selbstverständlich nimmt die PKV dort, wo es entsprechende
Rechtsvorschriften gibt, darauf Bezug. Die GOÄ ist wie die GOZ eine
verbindliche Rechtsverordnung, die - mit einer Marktwirtschaft meines
Erachtens in dieser Form nicht vereinbar - Preise für ärztliche bzw.
zahnärztliche Leistungen festlegt.

Für die Leistungen der PKV ist in der Regel ausschließlich die medizinische
Notwendigkeit maßgeblich. Klar werden deshalb analoge Berechnungen auch in
diesem Rahmen erstattet. Dabei orientiert sich die PKV grundsätzlich an den
von der
Bundesärztekammer empfohlenen Analogziffern.

Natürlich ist der medizinische Fortschritt mitversichert. Denn es können
heute Krankheiten behandelt werden, die man früher eben nicht oder nicht so
wirkungsvoll und zum Teil eben auch nicht mit den entsprechenden Kosten
behandeln konnte und dabei handelt sich nicht nur um Krebs, AIDS oder
ähnliche schwere Erkrankungen.

Wenn Du meinen Vorschlag gelesen hast, dann weißt Du, dass ich die
Gebührenordnungen weitgehend durch Verträge zwischen den jeweiligen
Erbringern der medizinischen Leistungen und den Trägern der
Krankenversicherung abschaffen möchte.

Und um wieder auf die Beitragsvergleiche zwischen GKV und PKV zu kommen: Die
Gebührenordnungen ermöglichten es, dass Ärzte für die gleiche Leistung von
einem Privatpatienten zwischen 130 und 250 Prozent mehr verlangen können,
als sie für die Behandlung des Kassenpatienten nach dem Einheitlichen
Bewertungsmaßstab (EBM) bekamen. Inzwischen wissen sie zum Zeitpunkt der
Behandlung noch nicht mal, ob und ggf. wie viel sie für die einzelne
Leistung erhalten werden. Ein Vergleich ist deshalb mittlerweile fast
unmöglich.

Sie konnten nach den Gebührenordnungen auch nur ungefähr den Betrag
berechnen, den sie für einen Kassenpatienten bekommen hätten. Das hatte aber
einen sehr hohen Seltenheitswert. Fast immer wurde und wird Privatpatienten
nicht der einfache Satz, sondern der so genannte Regelhöchstsatz (2,5-facher Satz) berechnet.

Auch das sollte man bei Vergleichen bitte immer bedenken.

Was würde denn in unserem Gesundheitswesen geschehen, wenn es keine
Privatpatienten mehr geben würde?

Um es noch einmal ganz deutlich zu machen: Ich lehne die Aufteilung in
Kassen- und Privatpatienten aufgrund einer mehr oder weniger willkürlich
festgelegten Einkommensgrenze ab. Ich will aber nicht nur Kassenpatienten,
sondern ich möchte ausschließlich Privatpatienten.

Das Umlageverfahren aus den 1880er Jahren fährt mit künftigen
Verhältnissen von einem Erwerbstätigen zu einem Rentner und dann sogar
von nur noch zwei Erwerbstätigen auf drei Rentner vor die Wand. Das ist
so sicher wie das Amen in der Kirche.

Das sehe ich nicht so skeptisch. Die Produktivität ist seit den 30er
Jahren enorm gestiegen. Gleichzeitig haben sich die Lebens-Arbeitszeiten
deutlich reduziert. (Frankreich hat -noch- die 35-Std-Woche).
Offensichtlich können heute weniger Leute (jaja, ich weiss: Die CDU sagt:
"Wir hatten noch nie so viele Erwerbstätige") in kürzerer Zeit einen
höheren Wohlstand erzeugen. Wenn jetzt die Arbeit noch besser auf mehr
Köpfe verteilt wird.. Und im Sozial-Bereich soviele Jobs entstehen, wie
dort wirklich gebraucht werden... Und mehr für qualifizierte soziale
Arbeit bezahlt wird... Dann stimmen Deine Zahlenverhältnisse garnicht...

Ausserdem: Der Staat übernimmt soviel Daseinsvorsorge, dass wir heute in
weiten Bereichen von einer Vollversorgung ohne existentielle Risiken
sprechen können. (Ich weiss, jetzt kriege ich Dresche !)

Dazu hat Michaela bereits Stellung genommen.

Das kann ich nur insofern noch einmal unterstützen, als die Produktivität
nichts, aber auch gar nichts mit dem Zahlenverhältnis zwischen jüngeren und
älteren Menschen, also Menschen unter und Menschen über 60 bzw. 65 Jahren
(man
spricht hier auch vom so genannten Altenquotienten) zu tun hat. Daran ändert
auch die Erwerbstätigen- oder Beschäftigungsquote nichts.

Es werden einfach nicht mehr Menschen ...

Sorry, Ironie: Hier kommt Hoffnung ins Spiel:
Das Kapitaldeckungsverfahren in Kombination mit dem Sozialausgleich über
das Steuersystem (und nur dort spielt das Einkommen eine Rolle) kann die
Situation nur verbessern. Es mag zwar sein, dass es keine Nettoverzinsung
von 9 und mehr Prozent mehr gibt, aber dass gar keine Zinsen irgendwo auf
der Welt mehr zu erwirtschaften sind, halte ich für äußerst
unwahrscheinlich.

Es kann also nur besser werden.

Ja, diese hohe Verzinsung erhältst Du derzeit beim Kauf von Staatsanleihen
aus den PIG-Staaten. Sonst gibt es bei seriösen Geschäften wohl niemals
solch hohe Zinsen. (Ausser man heisst: Zuckerberg, Page, Gates, Jobs o.ä.)

In der Vergangenheit konnte die PKV tatsächlich solche Nettoverzinsungen
erzielen - und sicher nicht mit Staatsanleihen aus den PIIGS-Staaten. Die
hat es damals noch gar nicht gegeben.

an verfassungsrechtliche Grenzen stoßen.

Bitte erkläre mir das einmal genauer. Welches Grundrecht wird da verletzt
?

Sowohl die privaten Krankenversicherer als auch
die Privatversicherten stehen unter dem Schutz des Grundgesetzes. Berührt
sind hier mindestens die Grundrechte auf Eigentum, auf Berufs- und
Vereinigungsfreiheit und
auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit.

Auch und gerade die private Krankenversicherung braucht als Versicherung
immer wieder neue Kunden, denn
ohne eine ständige Ergänzung der Versichertengemeinschaft um junge und
gesunde Menschen wird sie unbezahlbar. Dank der Vorsorge durch die
Alterungsrückstellung ist das Problem zwar nicht so dramatisch wie beim
Umlageverfahren der gesetzlichen Krankenversicherung, aber
selbstverständlich bedarf jede Versicherung - und nur das macht sie zu einer
Versicherung - des Risikoausgleichs. Versicherungsbegriff nach Farny:
Versicherung ist die Deckung, eines im Einzelnen ungewissen, insgesamt
schätzbaren Geldbedarfs, auf der Grundlage eines Risikoausgleichs im
Kollektiv und in der Zeit.

Vorab: Ich habe mehrfach reiche (privatversicherte) Menschen
kennengelernt, die entsetzt waren über die Arbeitsbedingungen im
Gesundheitswesen und die gerne viel Geld bezahlt hätten, wenn sie im
Krankheitsfall (von Angehörigen) auf glückliche, enspannte, kompetente
zeithabende Ärzte oder Pfleger gestossen wären.

Und Du bist wirklich davon überzeugt, dass Du diesem Ziel mit einer
Zwangseinheitskrankenversicherung mit Umlageverfahren näher kommst?!

Und/oder mit einer Supergesundheitsbehörde, bei der alle Ärzte, Zahnärzte,
Pfleger, Physio- und Psychotherapeuten, Heilpraktiker, Optiker und, und, und
angestellt sind?!

Wenn wir nur noch Kassenpatienten und Gesundheitsbeamte haben, wird alles
besser ... Die Zentralverwaltungswirtschaft läßt grüßen.

Das glaube ich nicht, tut mir leid.

Wir wollen doch ein gerechtes System. Gerecht ist nicht, wenn jeder
nominell den gleichen Betrag bezahlt. Gerecht ist, wenn der Betrag den
jeder bezahlt, jedem "gleich weh" tut.

Ist das gerecht? Was ist gerecht? Darüber könnte man nun trefflich streiten
oder philosophieren.

Meine Ansprüche sind gar nicht so hoch.

Ich möchte nur eine
generationengerechte, möglichst zukunftssichere und bezahlbare
Krankenversicherung, die
größtmögliche Wahlfreiheit mit der medizinisch notwendigen Vorsorge,
Untersuchung und Behandlung verbindet und zu angemessenen Arbeitsbedingungen
im Gesundheitswesen führt - nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Piratig-solidarische Grüße und ein schönes Wochenende

Der Alex

Piratig-liberale und -solidarische Grüße
Wolfgang





Archiv bereitgestellt durch MHonArc 2.6.19.

Seitenanfang