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Betreff: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik
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- From: Gerhard <listmember AT rinnberger.de>
- To: ag-geldordnung-und-finanzpolitik AT lists.piratenpartei.de
- Subject: [AG-GOuFP] Debunking 'Wunder von Wörgl'
- Date: Mon, 13 Jul 2015 17:02:27 +0200
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- List-id: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik <ag-geldordnung-und-finanzpolitik.lists.piratenpartei.de>
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Hallo zusammen,
nachdem wieder einmal Silvio Gsells «Natürliche Wirtschaftsordnung» zur
Sprache kam, möchte ich da mal einige Anmerkungen zur theoretischen
Einordnung gemeinsam erarbeitenden Wissens zu Geldmodellen anbringen,
die auch für die Beurteilung moderner Regiogeldsysteme von Bedeutung
sein können.
Bei meinen Ausführungen beziehe ich mich auf die Darstellung in
<http://userpage.fu-berlin.de/~roehrigw/woergl/alles.htm>
* Mit der Emission der Scheine war ein 'Wohlfahrtsausschuss' genanntes
Gremium betraut, dessen Mitglieder sich aus allen Schichten der Gemeinde
zusammensetzten. Dies stellt gewissermassen die 'regionale Zentralbank'
dieses Regiogeldsystems dar.
* Kooperative Führung durch demokratisch legitimierte Vertreter und
fachlich verantwortungsbewusste Bürger. Unter Punkt 5 des Reglements
heisst es da wörtlich: „Vom Wohlfahrtsausschuß und vom Gemeinderate wird
je eine Vertrauensperson bestimmt, die gemeinsam mit dem Bürgermeister
die Nothilfe leiten.“
* Die Finalisierung einer Zahlung (=endgültig schuldbefreiende Wirkung)
ist durch die freiwillige Teilnahme gegeben (Punkt 3 des Reglements:
„Als Teilnehmer gilt, wer Arbeitsbestätigungen an Zahlungsstatt gibt und
annimmt.“).
* Die Arbeitswertscheine waren durch die Festlegung des Wechselkurses
auf 1:1 fix an das das nationale Bankensystem gekoppelt, Hatte also
'100%ige Deckung', Zitat: „Die Treuhänder der Nothilfe waren
verpflichtet, das Notgeld gegen bar an die Gemeindekasse abzugeben.
Dieses Bargeld hatten sie ihrerseits auf ein besonderes Konto bei der
Raiffeisenkasse Wörgl einzuzahlen.“
* „Die Gemeinde kaufte am 31. Juli 1932 vom Wohlfahrtsausschuß die
ersten 1000 Schilling und zahlte damit Löhne aus.“ Anders ausgedrückt:
die Gemeinde tauscht nationale Währung gegen regionale Währung. Sie
hatte damit das Finanzierungskapital, um die notwendigen
Infrastrukturmaßnahmen (Asphaltierung von Strassen, Kanalisierung,
Strassenbeleuchtung, Instanhaltungsmassnahmen) zu tätigen. 'Frisches
Geld' kam damit genau dort an, wo die konkrete Leistung erbracht wurde.
* Dass man seine Steuern im voraus zahlt, bestätigt damit die Kernthese
der Modern Monetary Theory, dass die Steuerpflicht der wesentliche
Faktor für die Nachfrage nach Währung, in diesem Fall also lokaler
Währung ist.
* Offiziell wurden diese Scheine als «Arbeitswertscheine» bezeichnet.
Die direkte Assoziation mit Arbeit als wertschöpfender Tätigkeit ist
uneingeschränkt zu begrüßen. Angenehmer Nebeneffekt: Wörgl entzog sich
damit elegant der Diskussion um eine Definition von Geld.
* Sogar eine Form von Kreditsteuer war vorgesehen, wie sich aus Punkt 4.
des Reglements herauslesen läßt: „Die Arbeitsbestätigungen werden von
der Gemeindekasse in Verwahrung genommen, woselbst sie in den
Amtsstunden zum vollen Nennwerte gekauft und gegen Rücklaß von 2% des
Nennwertes (des Arbeitsbeschaffungsbeitrages) jederzeit rückverkauft
werden können.“
Wenn man sich das ansieht, hat das Wörgl-Experiment große Ähnlichkeit
mit einer keynesianisch motivierten Nachfragepolitik. Tatsächlich hat
der große Meister Keynes der Freigeldlehre bestätigt, "auf der richtigen
Spur" zu sein
<http://www.silvio-gesell.de/html/okonomen_uber__gesell.html#keynes>,
aber eben nur fast.
Wo könnte also noch ein Haken liegen?
Gemäß Bruuns Systematik weist die Freigeldtheorie Elemente aller
Theorien auf. Sie versteht sich selbst als naturalistischer Ansatz, der
Geld als 'Ware mit Ablaufdatum' versteht. Der Haken an der Sache ist,
sobald der Ultimo (Stichtag zum 'Stempeln') heranrückt, entsteht beim
Inhaber des Freigeldes eine Dichotomie hinsichtlich der Werthaltigkeit.
Im Falle einer Steuerzahlung ist das kein Problem: Man ist froh, im
allmonatlichen 'Reise nach Jerusalem'-Spiel noch einen Sitzplatz zu
ergattern und die bald abgewerteten Scheine losgeworden zu sein. So
finden auch Steuervorauszahlungen eine natürliche Erklärung. In einer
Depressionsphase hat diese Dichotomie noch kein Gewicht, man hat
existenziellere Sorgen. Mit zunehmender Verbesserung der eigenen
wirtschaftlichen Situation wird die Neigung, freiwillig daran
teilzunehmen, abnehmen. Es müsste eine zwangsweise Akzeptanz eingeführt
werden. Um aber Streitigkeiten bei Zahlungs-Transaktionen um das
Monatsende zu vermeiden, wird ein Verkäufer diese Erwartungen
einpreisen, was in eine Preissteigerungsspirale und damit Inflation
mündet. In Wörgl war dieses Verhalten nicht zu beobachten, dazu dauerte
der Versuch wohl nicht lang genug.
Bei modernen Regiogeldsystemen, die nach Gsells Muster arbeiten, kann
ich bzgl. der Rewig bestätigen, dass dort *nie* nennenswerte
Transaktionen in der Realo genannten Währung getätigt wurden.
Fazit: Das Freigeld kann, wie eine keynesianisch motivierte
Nachfragepolitik, einen auf Grund gelaufenen Konjunkturdampfer wieder
flott machen. Die dauerhafte Implementation eines solchen Geldsystems
führt jedoch zu einer systemimmanenten Inflation. Als dauerhaftes
Geldsystem fehlt ihm die Numeraire-Eigenschaft, die zeitunabhängige
Konstanz von Wert, unabhängig von individuellen Erwartungen.
Korollar für die politische Arbeit: Du machst zwar das
gesamtgesellschaftlich Wünschenswerte, bekommst aber bei Wahlen die
Quittung dafür, weil dir der Wähler die Inflation anhängt.
ivl1705
- [AG-GOuFP] Debunking 'Wunder von Wörgl', Gerhard, 13.07.2015
- Re: [AG-GOuFP] Debunking 'Wunder von Wörgl', Alexander Raiola, 13.07.2015
- Re: [AG-GOuFP] Debunking 'Wunder von Wörgl', Gerhard, 14.07.2015
- Re: [AG-GOuFP] Debunking 'Wunder von Wörgl', Alexander Raiola, 18.07.2015
- Re: [AG-GOuFP] Debunking 'Wunder von Wörgl', Gerhard, 26.07.2015
- Re: [AG-GOuFP] Debunking 'Wunder von Wörgl', Alexander Raiola, 18.07.2015
- Re: [AG-GOuFP] Debunking 'Wunder von Wörgl', Gerhard, 14.07.2015
- Re: [AG-GOuFP] Debunking 'Wunder von Wörgl', Alexander Raiola, 13.07.2015
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