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ag-geldordnung-und-finanzpolitik - Re: [AG-GOuFP] Debunking 'Wunder von Wörgl'

ag-geldordnung-und-finanzpolitik AT lists.piratenpartei.de

Betreff: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik

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Re: [AG-GOuFP] Debunking 'Wunder von Wörgl'


Chronologisch Thread 
  • From: Alexander Raiola <a.raiola AT bzv-fr.piratenpartei-bw.de>
  • To: ag-geldordnung-und-finanzpolitik AT lists.piratenpartei.de
  • Subject: Re: [AG-GOuFP] Debunking 'Wunder von Wörgl'
  • Date: Mon, 13 Jul 2015 20:23:38 +0200
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-geldordnung-und-finanzpolitik>
  • List-id: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik <ag-geldordnung-und-finanzpolitik.lists.piratenpartei.de>

Am 13.07.2015 um 17:02 schrieb Gerhard:
> Hallo zusammen,
>
> nachdem wieder einmal Silvio Gsells «Natürliche Wirtschaftsordnung» zur
> Sprache kam, möchte ich da mal einige Anmerkungen zur theoretischen
> Einordnung gemeinsam erarbeitenden Wissens zu Geldmodellen anbringen,
> die auch für die Beurteilung moderner Regiogeldsysteme von Bedeutung
> sein können.
>
> Bei meinen Ausführungen beziehe ich mich auf die Darstellung in
> <http://userpage.fu-berlin.de/~roehrigw/woergl/alles.htm>
>
> * Mit der Emission der Scheine war ein 'Wohlfahrtsausschuss' genanntes
> Gremium betraut, dessen Mitglieder sich aus allen Schichten der Gemeinde
> zusammensetzten. Dies stellt gewissermassen die 'regionale Zentralbank'
> dieses Regiogeldsystems dar.
>
> * Kooperative Führung durch demokratisch legitimierte Vertreter und
> fachlich verantwortungsbewusste Bürger. Unter Punkt 5 des Reglements
> heisst es da wörtlich: „Vom Wohlfahrtsausschuß und vom Gemeinderate wird
> je eine Vertrauensperson bestimmt, die gemeinsam mit dem Bürgermeister
> die Nothilfe leiten.“
>
> * Die Finalisierung einer Zahlung (=endgültig schuldbefreiende Wirkung)
> ist durch die freiwillige Teilnahme gegeben (Punkt 3 des Reglements:
> „Als Teilnehmer gilt, wer Arbeitsbestätigungen an Zahlungsstatt gibt und
> annimmt.“).
>
> * Die Arbeitswertscheine waren durch die Festlegung des Wechselkurses
> auf 1:1 fix an das das nationale Bankensystem gekoppelt, Hatte also
> '100%ige Deckung', Zitat: „Die Treuhänder der Nothilfe waren
> verpflichtet, das Notgeld gegen bar an die Gemeindekasse abzugeben.
> Dieses Bargeld hatten sie ihrerseits auf ein besonderes Konto bei der
> Raiffeisenkasse Wörgl einzuzahlen.“
>
> * „Die Gemeinde kaufte am 31. Juli 1932 vom Wohlfahrtsausschuß die
> ersten 1000 Schilling und zahlte damit Löhne aus.“ Anders ausgedrückt:
> die Gemeinde tauscht nationale Währung gegen regionale Währung. Sie
> hatte damit das Finanzierungskapital, um die notwendigen
> Infrastrukturmaßnahmen (Asphaltierung von Strassen, Kanalisierung,
> Strassenbeleuchtung, Instanhaltungsmassnahmen) zu tätigen. 'Frisches
> Geld' kam damit genau dort an, wo die konkrete Leistung erbracht wurde.
>
> * Dass man seine Steuern im voraus zahlt, bestätigt damit die Kernthese
> der Modern Monetary Theory, dass die Steuerpflicht der wesentliche
> Faktor für die Nachfrage nach Währung, in diesem Fall also lokaler
> Währung ist.
>
> * Offiziell wurden diese Scheine als «Arbeitswertscheine» bezeichnet.
> Die direkte Assoziation mit Arbeit als wertschöpfender Tätigkeit ist
> uneingeschränkt zu begrüßen. Angenehmer Nebeneffekt: Wörgl entzog sich
> damit elegant der Diskussion um eine Definition von Geld.
>
> * Sogar eine Form von Kreditsteuer war vorgesehen, wie sich aus Punkt 4.
> des Reglements herauslesen läßt: „Die Arbeitsbestätigungen werden von
> der Gemeindekasse in Verwahrung genommen, woselbst sie in den
> Amtsstunden zum vollen Nennwerte gekauft und gegen Rücklaß von 2% des
> Nennwertes (des Arbeitsbeschaffungsbeitrages) jederzeit rückverkauft
> werden können.“
>
> Wenn man sich das ansieht, hat das Wörgl-Experiment große Ähnlichkeit
> mit einer keynesianisch motivierten Nachfragepolitik. Tatsächlich hat
> der große Meister Keynes der Freigeldlehre bestätigt, "auf der richtigen
> Spur" zu sein
> <http://www.silvio-gesell.de/html/okonomen_uber__gesell.html#keynes>,
> aber eben nur fast.
>
> Wo könnte also noch ein Haken liegen?
>
> Gemäß Bruuns Systematik weist die Freigeldtheorie Elemente aller
> Theorien auf. Sie versteht sich selbst als naturalistischer Ansatz, der
> Geld als 'Ware mit Ablaufdatum' versteht. Der Haken an der Sache ist,
> sobald der Ultimo (Stichtag zum 'Stempeln') heranrückt, entsteht beim
> Inhaber des Freigeldes eine Dichotomie hinsichtlich der Werthaltigkeit.
> Im Falle einer Steuerzahlung ist das kein Problem: Man ist froh, im
> allmonatlichen 'Reise nach Jerusalem'-Spiel noch einen Sitzplatz zu
> ergattern und die bald abgewerteten Scheine losgeworden zu sein. So
> finden auch Steuervorauszahlungen eine natürliche Erklärung. In einer
> Depressionsphase hat diese Dichotomie noch kein Gewicht, man hat
> existenziellere Sorgen. Mit zunehmender Verbesserung der eigenen
> wirtschaftlichen Situation wird die Neigung, freiwillig daran
> teilzunehmen, abnehmen. Es müsste eine zwangsweise Akzeptanz eingeführt
> werden. Um aber Streitigkeiten bei Zahlungs-Transaktionen um das
> Monatsende zu vermeiden, wird ein Verkäufer diese Erwartungen
> einpreisen, was in eine Preissteigerungsspirale und damit Inflation
> mündet. In Wörgl war dieses Verhalten nicht zu beobachten, dazu dauerte
> der Versuch wohl nicht lang genug.
>
> Bei modernen Regiogeldsystemen, die nach Gsells Muster arbeiten, kann
> ich bzgl. der Rewig bestätigen, dass dort *nie* nennenswerte
> Transaktionen in der Realo genannten Währung getätigt wurden.
>
> Fazit: Das Freigeld kann, wie eine keynesianisch motivierte
> Nachfragepolitik, einen auf Grund gelaufenen Konjunkturdampfer wieder
> flott machen. Die dauerhafte Implementation eines solchen Geldsystems
> führt jedoch zu einer systemimmanenten Inflation. Als dauerhaftes
> Geldsystem fehlt ihm die Numeraire-Eigenschaft, die zeitunabhängige
> Konstanz von Wert, unabhängig von individuellen Erwartungen.
>
> Korollar für die politische Arbeit: Du machst zwar das
> gesamtgesellschaftlich Wünschenswerte, bekommst aber bei Wahlen die
> Quittung dafür, weil dir der Wähler die Inflation anhängt.
>
> ivl1705
>

Ich möchte zu den Argumenten gegen das Freigeld folgendes sagen:
1. Bzgl. der Preissteigerungsspirale mit folgender Inflation möchte ich
ein Wort dagegen halten: Mengenrabatt.
Wenn am Monatsende alle zu mir rennen (wenn ich Verkäufer wäre), um sich
Sachen zu kaufen, nur damit sie nicht die - sagen wir - 1% Verlust
hinnehmen müssen, dann wäre das für mich als Verkäufer so, als hätte ich
den Käufern einen minimalen Rabatt gewährt. Ich sehe die Gefahr der
Inflation daher als nicht gegeben an.
Außerdem bedeutet "Inflation" ja, dass Geld weniger Wert wird und das
ist sowieso schon Teil des Systems, Preisspirale hin oder her, einfach
weil es sich um Schwundgeld handelt. Die Inflation ist ja schließlich
der Sinn der Sache, damit das Geld ausgegeben wird, anstatt in
Kapitalsammelbecken gespart zu werden.
Ich behaupte, so lange das Geld nicht nachgedruckt wird, wird es
außerdem auch deshalb keine Preisspirale geben, weil die Nachfrage nach
dem Schwundgeld dies wieder ausbalancieren kann.
Und schließlich stellt sich die Frage: Wie viel Geld verliert man
eigentlich, wenn man Transaktionen mit Euros durchführt? Ein Verkäufer
schlägt 19% Mehrwertsteuer auf seine Produkte drauf, sowie Umsatzsteuer,
Lohnsteuer und was es sonst noch so alles gibt, also deutlich mehr als
diese 1% der Reise nach Jerusalem, aber das ist doch nicht der Grund für
unsere Preisspirale, oder?
2. Die Behauptung, dass man eher nicht daran teilnehmen will, wenn es
einem wirtschaftlich gut geht:
Ich behaupte, dass man mit dem Schwundgeld im Vergleich zum € Steuern
sparen kann, wenn man es für die Transaktionen verwendet, während man
die Euros aber z.B. auf der Bank fest verzinst anlegt. Da die Steuern
des Schwundgeldes allein über die "Reise nach Jerusalem" bezahlt werden,
gibt es keine Mehrwertsteuer, keine Lohnsteuer, keine Umsatzsteuer und
auch sonst keine Steuer, wenn man mit diesem Geld bezahlt. Von daher
lohnt es sich für Menschen aller wirtschaftlichen Schichten, Schwundgeld
zu verwenden, und dass Menschen, denen es wirtschaftlich gut geht, immer
weiter nach Gewinnen streben, liegt auf der Hand.

Ein weiteres Argument für das Freigeld ist natürlich auch die
Einfachheit der Steuergesetze:
Da außer der "Reise nach Jerusalem" keine Steuern anfallen, werden z.B.
auch Quittungen obsolet, also wenn ich z.B. mich spontan dafür
entscheiden würde, jemandem Mathe-Nachhilfe zu geben, würde das meine
Steuererklärung nicht verkomplizieren, so lange ich mich in Wörgl
bezahlen lasse.


Zitat:
"Bei modernen Regiogeldsystemen, die nach Gsells Muster arbeiten, kann
ich bzgl. der Rewig bestätigen, dass dort *nie* nennenswerte
Transaktionen in der Realo genannten Währung getätigt wurden."
Soweit ich weiß, gelten für alle Regionalwährungen die gleichen
Steuergesetze, also gibt es keinen Anreiz, die Währung zu wechseln. Die
Steuergesetze entsprechend zu ändern, ist übrigens der Hauptgrund, warum
ich die Diskussion überhaupt losgetreten habe, denn Politiker können
Gesetze ändern.

Viele Grüße
Alexander

PS: Ich sehe, du schickst die Nachricht immer auch gleich an eine
Newsgruppe und mein Mailprogramm unterstützt das nicht. Kann ich das
irgendwie ändern oder ist das nur Leuten mit besonderen Rechte vorbehalten?




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