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ag-geldordnung-und-finanzpolitik - Re: [AG-GOuFP] Kapitalismus - Definition für Vision

ag-geldordnung-und-finanzpolitik AT lists.piratenpartei.de

Betreff: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik

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Re: [AG-GOuFP] Kapitalismus - Definition für Vision


Chronologisch Thread 
  • From: moneymind <moneymind AT gmx.de>
  • To: ag-geldordnung-und-finanzpolitik AT lists.piratenpartei.de
  • Subject: Re: [AG-GOuFP] Kapitalismus - Definition für Vision
  • Date: Tue, 12 Aug 2014 14:33:44 +0000
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-geldordnung-und-finanzpolitik>
  • List-id: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik <ag-geldordnung-und-finanzpolitik.lists.piratenpartei.de>

Hallo Arne,

ich schrieb:

Zunächst zu *Punkt 3*: Vertragsfreiheit (schuldrechtlich) impliziert Rechtssicherheit und Vermögenshaftung, aber auch schon Eigentum.

du hast geantwortet:

diese Implikation sehe ich nicht. Nach meinem Rechtsverständnis liegen die Dinge wie folgt: (Ich bin für andere Argumente offen und freue mich auf deinen Einspruch.)

Vertragsfreiheit impliziert m.E. lediglich eine Rechtsordnung, in der die Rechtssubjekte die Erlaubnis haben, im eigenen Namen handelnd sich oder einen anderen rechtsgeschäftlich zu verpflichten. Die hier formulierte Verpflichtungsbefugnis ist m.E. ein guter Kandidat für die Definition des Begriffs Vertragsfreiheit.

Der Nachweis dieser rechtsgeschäftlichen Verpflichtung nennen wir Vertrag.


Dann nenne mir eine konkrete (real existierende) Rechtsordnung, in der es Vertragsfreiheit in Deinem Sinne gibt, aber KEINE Eigentumsrechte und KEINE Einklagbarkeit und Vollstreckbarkeit von Verträgen.

Rechtssicherheit ist eine ganz andere Baustelle und bedeutet, dass

* der gleiche rechtsrelevante Sachverhalt zur gleichen Rechtsfolge führt und

* diese Rechtsfolge durchgesetzt wird.



Ok, ich meinte mit Rechtssicherheit zunächst mal einfach Vertragssicherheit, d.h. Einklagbarkeit und Vollstreckbarkeit (Schuldrecht). Pacta sunt servanda.

Aber hiervon sind wir selbst im Hochkapitalismus weit entfernt. Gerade die wachsende Komplexität der Gesetze führt zu immer wendiger Rechtssicherheit. Der Spruch der Juristen: "Vor Gericht und auf Hoher See ist der Mensch in Gottes Hand.“ ist leider nicht ganz abwegig und im Grunde eine Bankrotterklärung des Rechtsstaats und der Rechtssicherheit.

Das ist eine andere Baustelle, von der ich nicht geredet habe.

Anstelle der Vermögenshaftung könnte die persönliche Haftung in Form von Auspeitschung, Verstümmelung oder auch die Sippenhaft bei Vertragsverletzung treten.

Gab es ja historisch teilweise auch (Schuldknechtschaft in der Antike z.B.). Deswegen hatte ich Einklagbarkeit und Vollstreckbarkeit als Definitionsmerkmale für Verträge /allgemein /benannt. Diese gibt es bei (ebenfalls frei vereinbarter) Nachbarschaftshilfe und verwandtschaftlicher Solidarität (Reziprozität) in Stammesgesellschaften eben nicht, sind deswegen spezifisch für zivilrechtliche Verträge.

Was bedeutet Vertragsfreiheit?
Das einzige freie an der Vertragsfreiheit ist die Fiktion, dass hier freie und gleiche Partner auf Augenhöhe einen Vertrag schließen - aber es genau so gut sein lassen könnten.

Weil ein Vertrag ein Kind einer bestimmten Rechtsordnung ist, erbt dieses Kind die Möglichkeiten und Grenzen, die durch diese Rechtsordnung gesetzt werden. Inhaltlich kann es deshalb keine Vertragsfreiheit geben. Als Vertrags“freiheit" wird das Zustande kommen eines Vertrages innerhalb der rechtlichen Möglichkeiten und Grenzen verstanden. Wie sehr die eine oder andere oder beide Seiten unter Druck standen ist unerheblich.

Natürlich, die Freiheit ist wie die Gleichheit rein formal und sieht von den konkreten Situationen der Vertragspartner per definitionem ab. Ist direkte und logische Folge des Gleichheitsprinzips, wie ich mehrfach beschrieben habe ("Dialektik der Gleichheit http://books.google.de/books?id=AHHO3e2hD78C&lpg=PP1&hl=de&pg=PA75#v=onepage&q&f=false";).

Eigentum:
Nach meinem Rechtsverständnis ist die Behauptung Vertragsfreiheit impliziert Eigentum ungefähr so, wie wenn man sagen würde, dass die Entscheidung in Urlaub zu fahren, impliziert Ballermann.

Dann nenne mir ein Gegenbeispiel - eine Rechtsordnung, in der es Vertragsfreiheit, aber kein Eigentum gibt.

Privat-Eigentum an Produktionsmittel ist m.E. das entscheidende Kriterium zwischen einem kapitalistischen und nicht-kapitalistischem Wirtschaftssystem.

Dann definiere bitte zunächst, was Du mit "Privat"-Eigentum meinst: hat ein Kibbutz-Mitglied (genossenschaftskapitalistisches System) "Privat-Eigentum"?

Hat ein Genosse, Mitglied in einer Genossenschaft, Teilhaber des Betriebs, in dem er arbeitet, "Privat"-Eigentum?

Ein wesentlicher Unterschied zwischen der DDR und BRD bestand im Privat-Eigentum an Produktionsmittel.


In der DDR nannte man die Produktionsmittel "Volks-Eigentum". Konnte "das Volk" dieses verkaufen oder als Kreditsicherheit einsetzen? Nein. Daher existierte für mich bestenfalls Volks-BESITZ; aber kein Eigentum. Zugegeben keine gebräuchliche, aber m.E. eine konsequente Begriffsverwendung (hier ausgeführt:
http://www.academia.edu/5900626/Theil_Eigentum_und_Verpflichtung_PDF

Hilf mir auf die Sprünge. Du sagst: „Eigentum, Freiheit, Gleichheit“ und meinst vermutlich: „Eigentum, Hohn und Spot?!“

Hohn: Die real existierende Freiheit vieler morgens aufzustehen, um den Tag im „Hamsterrad" zu verbringen für Wasser auf die Mühlen anderer.
Spot: Und dann auch noch so zu tun, als ob das die freie Entscheidung war, weil ja ein Millionär oder Milliardär die gleichen Chancen hat wie ein Bettler.

Nun, wie so hehre Ideale eben direkt zu solchen vermutlich damit nicht angezielten Zuständen führen, hat eine Kapitalismustheorie zu erklären, und genau das versuchen Kapitalismustheorie (wie die Marx'sche z.B) seit 200 Jahren.

Aus meiner Sicht folgt das einfach aus bereits den Grundprizipien Eigentum und Freiheit inhärenten Widersprüchen.

Was du beschreibst sind eine Art informelle Vertragsverhältnisse in überschaubaren gesellschaftlichen Gruppen.

Nein, es sind überhaupt kein Verträge, sondern eine andere Art von Beziehung (von Ethnologen herausgearbeitet), die Du auf der Basis oberflächlicher Gemeinsamkeiten "Verträge" nennst. Typisches Muster bürgerlicher Ideologie: bürgerliche Verhältnisse auf die gesamte Geschichte und alle Gesellschaften verallgemeinern.

Ich hatte die Unterschiede im Detail herausgearbeite.

Man kann so informell bleiben und in den von dir beschriebenen Situationen ist das auch die angemessene Form. - Aber man muss das nicht.

Will man zivilrechtliche Verträge, braucht man einen Staat (Zentralgewalt). Stämme haben keinen.

Und selbst diejenigen die keinen Ehevertrag geschlossenen haben, haben durch die Eheschließung implizit einen Vertrag mit sehr weitreichenden und tiefgreifenden Konsequenzen geschlossen.

Sie haben etwas vereinbart. Wie von mir beschrieben, fehlen wesentliche Merkmale des Vertrags, wie die enforceability. Du nennst etwas "impliziten Vertrag", was kein Vertrag ist. Damit Du Deinen Glauben bzw. - sage ich jetzt mal - Deine bürgerliche Ideologie von der Universalität des Vertrags aufrechterhalten kannst.

Wirf bitte mal einen Blick in ein beliebiges Buch zur Rechtsgeschichte, z.B. Wesel: Geschichte des Rechts. Da wirst Du eines besseren belehrt.

Befugnisse und insbesondere Verpflichtungsbefugnisse (= Vertragsfreiheit) sind zentrale Bausteine eines jeden Rechtssystems. Ohne diese Befugnisse hätten die Rechtssubjekte (= natürliche und juristische Personen) keine Erlaubnis zum rechtlichen Handeln.

Wenn Vertragsfreiheit zentraler Bestandteil jedes Rechtssystems wäre, könnte es kein öffentliches Recht geben. Steuerrecht und Strafrecht unterliegen nicht irgendeiner Vertragsfreiheit. In Stämmen gibt es keine Verträge, ergo keine Vertrags-Freiheit. Es gibt gegenseitige Verpflichtungen, es gibt einen Ausgleich von Geben und Nehmen, aber der folgt nicht den Prinzipien des Vertrags.

Bitte mal mit Rechtsethnologie und Rechtsgeschichte beschäftigen (Wesel ist sehr gut dazu).

Eine Rechtssystem ohne Privat-Eigentum am Produktivvermögen ist nicht nur denkbar, sondern war eine historische Realität.

Natürlich, wie kommst Du darauf, daß ich das bestreite?

Ein Rechtssystem ohne Verpflichtungsbefugnis (= Vertragsfreiheit) wäre ein Rechtssystem, in dem es nur Verträge gibt, in denen Leistung und Gegenleistung gleichzeitig ausgetauscht werden. Das Bedeutet, dass es insbesondere keine Kreditverträge gibt.

Nachbarn helfen sich gegenseitig, ohne daß direkt getauscht wird. Frau A gibt Frau B Milch, wenn sie kann - vielleicht 3, vielleicht 4 oder vielleicht auch 12 Wochen später - gibt Frau B ihr dafür ein paar Stück Kuchen.

Das war weder gleichzeitiger Tausch noch Kredit. Es war Nachbarschaftshilfe ohne jeglichen Vertrag. Das sind "gute Sitten". Gibt Frau B nie was zurück, obwohl sie könnte, wird Frau A eben das nächte mal zögern beim Aushelfen mit Milch. Aber sie reicht keine Klage gegen Frau B ein und holt sich ihre Milch mit dem Gerichtsvollzieher zurück.

*Fazit: Eigentum, Freiheit, Gleichheit und Vertrag sind nicht universell, sondern Kernmerkmale des Kapitalismus.*

Wau! - Ich bin mir aber nicht sicher, ob wir über die gleiche Welt reden. :=)


Über welche Welt redest DU denn?

Mein Fazit wäre: Grenzenloses Privat-Eigentum, Unfreiheit, Ungleichheit und Ausbeutung von Menschen und Umwelt sind die Kernmerkmale des Kapitalismus.

Natürlich stimmt das genauso. Der Witz des Kapitalismus, der zu erklären ist, ist doch genau der: Freiheit und Gleichheit als Kernideale führen - da sie eben rein formal sind - zu paradoxen Ergebnissen.

Das sind aber die PRAKTISCHEN ERGEBNISSE der "Axiome" rechtlicher Freiheit und Gleichheit, nicht die "Axiome".

Sag mir, dass du die letzten Absätze unter dem Einfluss eines zynischen Schocks geschrieben hast. - Ansonsten wäre ich ziemlich fassungslos.

Ich verstehe nicht, was daran zynisch sein soll. Entwicklungspolitik steht genau vor diesem Problem, und die EU mit postozialistischen Beitrittsländern wie Bulgarien ebenfalls. Es ist direkt politikrelevant.

Ich jedenfalls bin überzeugt, dass der Kapitalismus kein Modell einer gerechten und nachhaltigen Wirtschaft ist, die den Menschen ein hohes Maß an freier Entfaltung ihrer Persönlichkeit ermöglicht.


Das sind für mich Leerbegriffe. Kapitalismus ist Kapitalismus und erstmal zu erklären. In der Definition geht es m.E. nicht um Wertung, sondern ums Verstehen der Funktionsweise, das sollte man trennen.

Zur "gerechten und nachhaltigen Wirtschaft, die den Menschen ein hohes Maß an freier Entfaltung ... etc.": da wüßte ich gern, wie Du Dir diese vorstellst, und wie Du diese Vorstellung verwirklichen willst. Beispielsweise wüßte ich gern, welche Vorteile die "standardisierten Verträge", von denen Du redest, gegenüber dem real erkämpften Arbeitsrecht (das ja auch die Vertragsfreiheit einschränkt und das auch muß) hätte. Ich kann nichts neues darin entdecken, Vertragsfreiheit wird permanent durch Gesetze eingeschränkt, die von Interessengruppen per Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit auf den Weg gebracht werden, das ist Alltag, absolut notwendig und notwendige Folge der dem bürgerlichen Recht zugrundeliegenden Freiheit und Gleichheit ("Dialektik der Gleichheit").

Ich will Kapitalismus 1) überhaupt erstmal korrekt verstehen, 2) als nächsten Schritt wieder regulieren, damit eine neue Aufschwungphase eingeleitet werden kann. Das kann nur über Machtkämpfe durchgesetzt werden, und Krisen beeinflussen Machtkonstellationen und dominierende "Weltbilder" - v.a. wird die herrschende neoliberale Trance, sobald von der Wirklichkeit nochmals umfassender demontiert als schon 2008ff., unglaubwürdig werden und durch ein neues Politikkonzept abgelöst werden müssen, an dem wir hier arbeiten sollten.

Abschaffen wird auch der moderne Kapitalismus sich m.E. auf längere Sicht ganz von selbst, ganz ähnlich dem antiken "Kaufsklavenkapitalismus"; aber das ist Zukunftsmusik. Was jetzt politisch ansteht und praktisch umzusetzen und zu machen ist, ist 2). Dafür ist m.E. aber 1) Voraussetzung, also auch eine treffende Kapitalismusdefinition.

Gruß
Wolfgang




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