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ag-geldordnung-und-finanzpolitik - Re: [AG-GOuFP] Kritik der Gesellschen Zinstheorie von Samirah Kenawi

ag-geldordnung-und-finanzpolitik AT lists.piratenpartei.de

Betreff: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik

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Re: [AG-GOuFP] Kritik der Gesellschen Zinstheorie von Samirah Kenawi


Chronologisch Thread 
  • From: Rolf Müller <rolf.mueller9 AT t-online.de>
  • To: ag-geldordnung-und-finanzpolitik AT lists.piratenpartei.de
  • Subject: Re: [AG-GOuFP] Kritik der Gesellschen Zinstheorie von Samirah Kenawi
  • Date: Tue, 21 Feb 2012 09:20:16 +0100
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-geldordnung-und-finanzpolitik>
  • List-id: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik <ag-geldordnung-und-finanzpolitik.lists.piratenpartei.de>

Kritik der Gesellschen Zinstheorie

Die Hans Böckler Stiftung plante 2007 eine Tagung zu Silvio Gesell, deren Schwerpunkt
Gesells Zinstheorie sein sollte. Diese Tagung kam interessanterweise deshalb nicht zu­
stande, weil zu wenig Gesellkritiker für die Tagung gewonnen werden konnten.
Zwar ist es seltsam, dass eine Theorie nicht diskutiert wird, weil es nicht genug kritische
Stimmen gibt, doch soll dies zum Anlass genommen werden, hier eine Kritik der Gesell­
schen Zinstheorie zu versuchen.
Beim Lesen von Gesells Text stößt man auf einen scheinbaren Widerspruch. So stellt
Gesell zunächst fest,
... daß das Zinsverbot der Päpste die Geldwirtschaft aufhob ...,
1
was den Schluss zulässt, dass Gesell zu der Einsicht kommt, dass Geldwirtschaft ohne
Zins nicht funktioniert. Der Schlusssatz seines Buches lautet jedoch:
Warum fällt der Zins niemals unter 3 [%], warum geht der Zins nicht auf Null
zurück, und wenn es auch nur vorübergehend wäre, einen Tag im Jahre, ein Jahr
im Jahrhundert, ein Jahrhundert in zwei Jahrtausenden?2
 
Da Gesell weiß, dass ein Zinsverbot kontraproduktiv ist, weil mit dem Zins auch die Geld­
wirtschaft unterdrückt würde, zielt sein Buch darauf, Bedingungen zu schaffen, die das
zeitweise (!) Absinken des Zinses auf Null Prozent ermöglichen. Sein Ziel ist es, durch ein
temporäres Nullzinsniveau vorübergehendem Preisverfall entgegen zu wirken.
Nach Gesell besteht der Zins aus mindestens drei Bestandteilen. Soll der Gesamtzins auf
Null fallen, müssten entweder alle drei Bestandteile gleichzeitig auf Null sinken, oder sie
müssen sich irgendwie gegenseitig aufheben, so dass sie in der Summe Null ergeben.
Sehen wir uns diese Bestandteile einzeln an, um zu sehen ob und wann ein Nullzins­
niveau möglich wäre.
Gesell unterscheidet den Urzins, die Risikoprämie und die Hausseprämie. Der Urzins ist
jener Zinsanteil, der nach seiner Definition ungerechtfertigterweise, d.h. ohne Erbringen
einer Gegenleistung – allein aufgrund der Sonderstellung des Geldes auf dem Markt – er­
hoben werden kann. Diese Sonderstellung ergibt sich nach Gesell aus der Wertstabilität
des Geldes, die es erlaubt, Geld in beliebigem Umfang und beliebig lange aufzubewahren.
(Obwohl heute infolge schleichender Inflation faktisch kein wertstabiles Geld mehr existiert, hat
das Geld seine Sonderstellung bewahrt, weil es durch Finanzmarktgeschäfte faktisch leistungslos
vermehrbar ist. Solange man mit Geld Geld verdienen kann, werden Kaufkraftverluste infolge
Inflation oft mehr als ausgeglichen. Boomende Finanzmärkte gestatten deshalb den Rückzug des
Geldes aus der Warensphäre. Aus Sicht der Warenhändler erscheint das als Geldhortung, obwohl
das Geld an den Finanzmärkten zirkuliert. Diese moderne Geldhortung kommt in Gesells Theorie
noch nicht vor. Seine Idee, den Urzins in Kapital zu ersäufen, indem Geld durch Wertverlust in den
Umlauf getrieben wird, geht am Problem vorbei. Denn das Geld zirkuliert unentwegt an den Finanz­
märkten. Nur fließt es dabei genauso unentwegt an der Realwirtschaft (Warensphäre) vorbei. Statt
den Preisverfall der Waren zu beenden, verstärkt der immer größer und immer schneller werdende
Geldstrom an den Finanzmärkten den Preisverfall.)

Ein weiterer Zinsanteil ist die Risikoprämie. Sie ist notwendig, um Rücklagen zur Ab­
sicherung gegen Kreditausfälle zu bilden. Deshalb kann sie weder durch menschliches
noch göttliches Gesetz abgeschafft werden. Ein pauschales Zinsverbot würde deshalb das
Kreditwesen an sich lähmen, wie Gesell erkennt.
In der Hausseprämie sieht Gesell einen zeitweise sinnvollen, weil regulierend wirkenden
Zinsanteil. Zinsaufschläge in Form der Hausseprämie entstehen, wenn Preisanstiege er­
wartet werden. Da solche Erwartungen spekulative Kauflust wecken, steigt die Kredit­
nachfrage. Das veranlasst die Banker, die Zinsen hoch zu setzen. Die Kauflust wächst,
sobald Kaufleute hoffen, vor einem Preisanstieg Waren günstig einkaufen, und nach
Preisanstieg mit Extragewinn verkaufen zu können.
Der Extragewinn wird durch den erhöhten Zins in Form der Hausseprämie teilweise von
den Bankern abgeschöpft und mindestens theoretisch durch steigende Sparzinsen teil­
weise an die Sparer weiter gereicht. Der Vermögenszuwachs in den Taschen der Geld­halter hebt sich nach Gesell jedoch dadurch auf, dass infolge des Preisanstiegs die Kauf­kraft dieses Vermögens sinkt. (Halten wir uns hier nicht damit auf, über jene nachzu­
denken, deren Lohn trotz steigender Preise nicht wächst.)
Gesetzt den Fall die Hausseprämie ist insofern ein berechtigter Zinsanteil, als sie Preis­
anstiege infolge unkontrollierten Geldmengenwachstums neutralisiert, so kann dieses
Modell doch nicht erklären, wie der Zins jemals auf Null sinken soll. Selbst wenn es ge­
länge, den Urzins abzuschaffen, so bildet die Risikoprämie doch einen notwendigen, stän­
dig positiven Zinsanteil, während die Hausseprämie zwar zeitweise auf Null aber nie da­
runter sinken kann. Auch ohne Gesells Urzins kann der Zins in der Summe also niemals
Null ergeben.
Wenn wir Gesells Idee einer Hausseprämie aufgreifen und weiterentwickeln, bietet seine
Zinstheorie allerdings tatsächlich Möglichkeiten, den Zins zeitweise auf Null zu drücken.
So lässt sich in Ergänzung zur Preisanstiegseffekte neutralisierenden Hausseprämie um­
gekehrt analog  eine „Baisseprämie“ denken, die Preisverfallseffekte neutralisiert. Wir
müssen hier natürlich eher von einem Baisseabschlag reden, weil zur Neutralisierung von
Preisrückgängen alle Geldvermögen mit einem negativen Zins belastet werden müssten,
damit die Kaufkraft dieser Vermögen den sinkenden Preisen angepasst wird. Erst ein so­
lcher negativer Zinsanteil vermag in Kombination mit der stets positiven Risikoprämie in
der Summe zeitweise ein Nullzinsniveau zu schaffen.
Doch statt während der Preisverfallszeiten einen Baisseabschlag (einen negativen Spar­
zins) zu fordern, der das Spargeld in den Umlauf treiben und die Preise dadurch wieder
heben würde, schlägt Gesell ein Schwundgeldsystem vor, das einen ständigen Kaufkraft­
schwund in den Händen aller Geldbesitzer bewirkt.
Als ständige Einrichtung kann das Schwundgeld zeitweisem Preisverfall nicht gezielt
gegensteuern. Statt dessen belastet es den gesamten Geldumlauf dauerhaft. Während
ein negativer Sparzins gezielt das Spargeld in den Umlauf treiben würde, schwächt
Schwundgeld die Kaufkraft aller Bargeldnutzer kontinuierlich. Dabei werden Geringver­
diener überproportional belastet. Denn oft verfügen sie nur über geringe bis gar keine
Sparguthaben, so dass sie wenig bis gar nicht von Sparzinsen infolge von Hausseprämien
profitieren. Obwohl sie durch steigende Preise bedingte Kaufkraftverluste selten durch
Zinseinnahmen ausgleichen können, drohen ihnen durch Schwundgeld ständige Kauf­
kraftverluste – und zwar ganz unabhängig von der Preisentwicklung. Geringverdiener
mittels Schwundgeld kontinuierlich zum Kaufen anzuhalten, ist auch deshalb unsinnig,
weil sie oft gar keine Möglichkeit haben, Kaufkraft zurück zu halten. Denn oft benötigen
sie ihr komplettes Einkommen zur Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse. Geringverdiener
müssen nicht zum Geld ausgeben motiviert werden. Ihre Grundbedürfnisse reichen als
Kaufanreiz vollkommen aus.
Schwundgeld scheint kaum geeignet, einem Preisverfall sinnvoll entgegen zu wirken. Es
kann das Zinsproblem weder lösen, noch fördert es wirtschaftliche Gerechtigkeit. Eine
gezielte Spargeldbelastung durch negative Zinsen würde hingegen nicht nur das Spargeld
direkt in den Umlauf treiben. Durch negative Sparzinsen könnte auch der Kreditzins trotz
positiver Risikoprämie zeitweise auf Null fallen. Negative Sparzinsen können aber nur
durchgesetzt werden, wenn das Spargeld keine Möglichkeit hat, diesem Baisseabschlag
auszuweichen. Das erfordert das Schließen der Finanzmärkte und das Unterbinden jeder
Art von Wertpapierhandel. Außerdem müssen dem Spargeld alle anderen Fluchtwege in
Sachwerte, Devisen, Kunst, Antiquitäten etc. versperrt werden. Um tatsächlich alles
Spargeld durch negativen Zins in den Umlauf zu treiben, muss auch das Horten von Bar­
geld verhindert werden. Gesells Schwundgeldidee erweist sich hier als genialer Vor­
schlag. Da Schwundgeld voraussichtlich den Gebrauch von Bargeld senken würde, könn­
ten „nebenbei“ enorme Mengen Baumwolle (zur Geldscheinherstellung) sowie Metall und
Energie eingespart werden.
Gesells Ideen sind noch immer interessant, sofern wir den Mut haben, sie weiter zu ent­
wickeln.
Berlin, 17.7.07
-------------------------------------
1
 Gesell, Silvio (1991): Gesammelte Werke. Band 11. 1920. Die Natürliche Wirtschaftsordnung
durch Freiland und Freigeld. 4. überarb. Aufl. – Lütjenburg: Gauke Verlag, S. 325
2
 Ebenda, S. 376
--
instead of focusing on our differences,
we should look at what we all have in common...
http://www.youtube.com/watch?v=WibmcsEGLKo&feature=player_embedded

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