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ag-barrierefreiheit - Re: [Ag-barrierefreiheit] Wohin geht die Reise?

ag-barrierefreiheit AT lists.piratenpartei.de

Betreff: Koordinations und Arbeitsliste der AG Barrierefreiheit

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Re: [Ag-barrierefreiheit] Wohin geht die Reise?


Chronologisch Thread 
  • From: Kerstin Probiesch <k.probiesch AT googlemail.com>
  • To: Koordinations und Arbeitsliste der AG Barrierefreiheit <ag-barrierefreiheit AT lists.piratenpartei.de>
  • Subject: Re: [Ag-barrierefreiheit] Wohin geht die Reise?
  • Date: Tue, 12 Apr 2011 11:10:40 +0200
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-barrierefreiheit>
  • List-id: Koordinations und Arbeitsliste der AG Barrierefreiheit <ag-barrierefreiheit.lists.piratenpartei.de>

Guten Morgen,

ein paar Gedanken zum Thema "Beauftragter des Bundes für die Belange
behinderter Menschen". Forderungen an dieses Amt sollten gut
durchdacht und die einzelnen Aufgaben dieses Beauftragten genau
angeschaut werden. Allein schon, um auf (kritische) Fragen eine
Antwort zu haben. Vorausschicken möchte ich, dass ich möchte die
bisher geäußerten Vorstellungen und Ziele nicht madig machen will -
auch wenn es sich provokativ anhören mag. Es geht mir nur um die
Entwicklung von Argumentationshilfen.

Dieses Amt ist derzeit ein Ehrenamt. Der Bundesbeauftragte wird soweit
ich weiß immer von der regierenden Partei gestellt. Natürlich könnte
man fordern, dass dies geändert wird. Für das Ehrenamt fände ich es
sogar wichtig. Warum soll dieser Bundesbeauftragte eigentlich kein
Geld bekommen?

>> besetzt? Vorteil wäre: Die Person würde keiner Partei angehören und
>> würde nicht aufgerieben werden in den Grabenkämpfen und hätte trotzdem
>> dennoch die Macht, der Regierung auf die Finger zu klopfen.

Hier bin ich mir nicht mehr so sicher. Dass der Beauftragte der
regierenden Partei angehört hat auch Vorteile. Diese Vorteile sind
umso größer, je besser das Standing innerhalb der eigenen Partei und
je mehr geachtet er/sie sind. Jemand, der aus der Regierungspartei
kommt weiß, wen er dort für seine Anliegen gewinnen kann und wen eher
nicht. Er weiß eher, welche Strippen er zu ziehen hat, als jemand, der
keiner Partei angehört. Ob der Bundesbeauftragte tatsächlich
Grabenkämpfen ausgesetzt ist, wäre eine interessante Frage, die man
ihm mal stellen könnte.

> Die derzeitige Regierung hat überhaupt kein Interesse an einer Person,
> die "die Macht hat, der Regierung auf die Finger zu klopfen". Also wird
> sie sich für solche Posten Leute suchen, die nicht zu viel Kritik üben
> und lieber kuschen, statt aufzubegehren.

Soweit ich weiß war dieses Amt unter jeder Regierung ein Ehrenamt.
Fraglich ist, ob der Kuschfaktor tatsächlich vorhanden ist, ob er von
der formalen Gestaltung des Amtes abhängt oder auch von der jeweiligen
Person, die es besetzt.

>> Warum also nicht eine Bewegung gründen, die sich dafür einsetzt, dass
>> das Amt des Behindertenbeauftragten so gewählt wird, dass sich Leute
>> dafür zur Wahl stellen, die für die Kandidatur eine Behinderung
>> mitbringen müssen! Die Vorteile dafür muss ich gar nicht erst aufzählen,
>> oder?

Ich möchte ein paar mögliche Nachteile gegenüber stellen - für die man
Argumentationshilfen braucht.

Wer soll einen solchen Beauftragten wählen? Nehmen wir an, es stellen
sich vier Kandidaten zur Wahl. Dann könnte entweder derjenige, der aus
der zahlenmäßig größten Einzelgruppe kommt oder der aus der Gruppe
derjenigen, die am besten mobilisieren können. Ich bin mir sicher,
dass jeder Behindertenverband "seinen" Kandidaten pushen möchte und
sich Vorteile für die eigene Gruppe erhofft, wenn es "einer von ihnen"
ist. So sehr die Behindertenverbände sich ideell für mehr Integration
und Inklusion einsetzen, so sehr setzen sie sich meiner Beobachtung
nach im Ernstfall vor allem für die eigenen (potenziellen) Mitglieder
ein. Das kann man kritisieren, ist aber letztlich genau ihre Aufgabe.

Ein solcherart gewählter Beauftragter muss, um seinen Job gut zu
machen, zahlreiche Kontakte in alle relevanten Lager haben:
Arbeitgeber, Parteien, Forschung usw. und natürlich auch in die
Behindertenverbände hinein. Sollte er aber eine persönliche Nähe zu
einem bestimmten Verband oder einer bestimmten Gruppe haben? Ich
stelle mir schon jetzt vor, dass jeder Verband mehr oder weniger
eifersüchtig darüber wachen wird, ob er nicht zu mehr Veranstaltungen
der einen Gruppe geht. Ob er nicht zu den Problemen der einen Gruppe
mehr sagt, als zu denen der anderen. Sich evtl. mit dem einen öfter
trifft usw. Vorstellbar ist auch, dass er schnell despiktierlich z.B.
als "Bundesblindenbeauftragter" betitelt werden könnte. Dem müsste man
vorbeugen und gute Argumente entwickeln.

Dann die Frage, welche Behinderung darf er denn haben? Das hört sich
erstmal seltsam an, aber:

Außer Leuten, die sich nun gar nicht auskennen würde sicher jeder
sagen, dass z.B. ein blinder Bundesbeauftragte mit den existierenden
technischen Hilfsmitteln, persönlicher Assistenz, Beraterstab seine
tägliche Kommunikation gut hinbekommt. Dies gilt sicher für viele
andere Einschränkungen auch. Aber: gilt dies auch für jemanden, der
auf Leichte Sprache angewiesen ist? Wie lange würde wohl allein das
Beantworten einer Mail zur Präiimplantationsdiagnostik dauern, wenn
evtl. jeder Satz in Leichte Sprache übersetzt und natürlich
rückübersetzt werden müsste? Die Forderung, dass jeder in Leichter
Sprache kommunizieren soll (Parteimitglieder, Arbeitgeber,
Wissenschaftler usw.) könnte man zwar stellen, eine Erfüllung halte
ich jedoch für illusorisch. In seiner täglichen Arbeit muss er sich ad
hoc zu den unterschiedlichsten Problemen äußern können. Ist dies
sowohl von der Belastung her als auch von der Belastbarkeit her z.B.
von einem Menschen mit Trisomie 21 mit großem Unterstützungsbedarf
leistbar? Welchen Rückhalt hätte derjenige bei den unterschiedlichen
Behindertenverbänden?

Das hört sich etwas dahergeholt an und arg konstruiert an. Die Frage,
die sich dennoch stellt ist: Würde "man" einen solchen Kandidaten für
geeignet halten, um sein Amt gut zu führen, Druck zu machen, sich zu
Themen, wie betreutes Wohnen gleichermaßen kompetent zu äußern, wie
zur PID - trotz Beraterstab, trotz Assistenz? Schon bei "normalen"
Arbeitsverhältnissen schwingt oft der "Verdacht" im Raum, dass der
Mensch mit Behinderung das nicht selber gemacht hat, sondern von
seiner Assistenz hat machen lassen. Wäre dieser Verdacht, einhergehend
mit evtl. Respektverlust, umso größer, je mehr Assistenzbedarf der
Bundesbehindertenbeauftragte selber hat? Hätte man schon hier die
ersten Einschränkung, nach dem Motto: "er soll selber eine Behinderung
haben, außer er hat eine sogenannte Lernbehinderung?

Derzeit sind Menschen mit Behinderung von diesem Amt nicht
grundsätzlich ausgeschlossen. Die Forderung, dass er eine Behinderung
haben _soll_ hört sich erstmal zustimmungswürdig an und gefällt. Warum
sollte ein Mensch mit Behinderung das auch nicht können - außer er/sie
ist....?

Darf er in einem bestimmten Behindertenverband aktiv (gewesen) sein
oder stünde der Vorwurf mangelnder Neutralität im Raum, weil er dort
die meisten Leute kennt? Darf er Mitglied einer Partei sein? Darf er
aus einem Arbeitgeberverband kommen? Einer Gewerkschaft? Auch hier
könnten sich zahlreiche Fragen und Vermutungen hinsichtlich der
Neutralität ergeben. Wenn das alles (auch) nicht sein soll, woher hat
er dann die nötigen Kontakte, um Druck zu machen?

Zum Schluss nochmal zur Wahl eines solchen Beauftragten: Wer soll ihn
wählen dürfen? Die Wahlunterlagen müssten verschickt werden. Nach
welchem Kriterium? Dies ist nicht unwichtig, da in Deutschland noch
nicht einmal der Schwerbehindertenausweis ein eindeutiges Kriterium
sein könnte. Es gibt zig Tausend Menschen, die einen Anspruch darauf
hätten und ihn nicht beantragen. Sollen die Eltern von Kindern mit
einer Behinderung wählen dürfen oder nicht? Wie würde man das
feststellen?

Ich denke, es gibt eine grundsätzliche Überlegung:

Ist wichtiger, dass der Bundesbeauftragte die richtigen Leute kennt
und mit ihnen kann, also die richtigen Strippen ziehen kann, bei
gleichzeitiger größerer Befugnis und Macht oder ist das Merkmal
"Behinderung" wichtiger? Natürlich kann dies Hand in Hand gehen. Ein
solcher Beauftragter erscheint nicht aus dem Nichts, sondern hat sich
schon vorher einen Namen gemacht.

Die oben dargestellten Szenarien müssen nicht eintreffen. Ich halte
sie aber auch nicht für so unwahrscheinlich. Vielleicht gibt es für
alles eine Lösung.

Ohne Juristin zu sein und das einschätzen zu können: Was ist mit
folgender Forderung: Umwandlung des Amtes des
Bundesbehindertenbeauftragter in eine "echte" Arbeitsstelle - bezahlt,
sozialversicherungspflichtig usw.. Dann müssten doch die Gesetze zur
Gleichstellung greifen und bei gleicher Qualifikation ein Bewerber mit
einer Behinderung (angeblich funktioniert das wirklich, manchmal)
eingestellt werden? Auch daraus ergeben sich sicher Fragen, dieser Weg
erscheint mir auf den ersten Blick konfliktfreier. Das muss natürlich
einem zweiten Blick nicht standhalten.

Soweit ein kurzes Brainstorming meinerseits

Viele Grüße

Kerstin

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