ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de
Betreff: AG Gesundheit
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- From: Morgan le Fay <input.output AT freenet.de>
- To: ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de
- Subject: Re: [AG-Gesundheit] zukünftige Gesundheitspolitik
- Date: Wed, 16 May 2012 11:40:09 +0200
- List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-gesundheitswesen>
- List-id: AG Gesundheit <ag-gesundheitswesen.lists.piratenpartei.de>
Hallo Holger,
das ist ja alles recht und grün, aber "Vernunft" kann man nicht gesetzlich festschreiben.
Was ist ein "gesundes" Nahrungsmittel? Und wieviel davon? Ist genmanipuliertes Getreide "gesund"? Oder Bier? Oder Kaffee?
Reagiert jeder Mensch gleich auf die Zufuhr von Nahrung/Energie?
Soweit ich weiß, muss in Kneipen mindestens 1 alkoholfreies Getränk billiger sein als das preiswerteste alkoholische. Das ist auch in Ordnung.
Gehe ich aber z.B. in meiner (oft sehr knappen) Pause zum "Kochlöffel", dann zahle ich für ein halbes Hähnchen um die 3 Euro, der gemischte Salat dort kostet aber knapp 4 Euro. Gut, wir könnten ja vorschreiben, dass 1 "gesundes" nahrungsmittel preiswerter sein muss als die preiswerteste Currywurscht. Aber der Salat ist ja auch tatsächlich aufwändiger in der Vorbereitung!
Selbst etwas zubereiten, kann ich knicken, dafür reicht meine Zeit niemals. Und dauernd vorbereitetes Zeug aufwärmen ist auch nicht gerade etwas für Gourmets. Wie löst man dieses Problem?
Ganz richtig finde ich die Aussage, dass der Grundstein zum Adipösen in der Jugend gelegt wird. Aber auch hier muss man sehen, dass es Familien gibt, wo beide Elternteile arbeiten müssen, um über die Runden zu kommen. Und was macht der Junior, dem man 2 Euro für ein Käsebrot aus der Schulkantine gibt? Er holt sich einen Schokoriegel, denn das Verständnis fehlt den Kids doch einfach noch.
Wie sieht es aus bei Leuten mit Allergien, die dies und jenes aus gesundheitlichen Gründen nicht essen dürfen? Wie sieht es aus, wenn wir im Winter nicht nur gesund, sondern ökologisch verantwortbar essen wollen? Da wächst nämlich bei uns nicht viel und man muss sich u.U. seinen "gesunden" Spargel aus Peru einfliegen lassen.
Die FAZ macht es sich m.E. zu einfach.
Gruß
Harry
Am 16.05.2012 10:24, schrieb Dr. Holger Scholz:
Zur Information, wen es interessiert:
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.05.2012, Nr. 114, S. N2
Steuern auf schädliche Nahrung, mehr sozialer Druck - wie sollen die Leute
sonst zur Vernunft kommen? / Von Dietrich Garlichs
Die rasante Ausbreitung der neuen Zivilisationskrankheiten, die mit unserem
Lebensstil zusammenhängen, ist kein neues Phänomen. In den fünfziger Jahren
gab es in Deutschland kaum Menschen mit Diabetes, ihre Zahl lag bei weniger
als ein Prozent der Bevölkerung. Heute sind es mehr als sechs Millionen
Menschen, Dunkelziffer nicht eingerechnet, und Hunderttausende kommen jedes
Jahr hinzu. Ähnlich ist die Situation bei den anderen Volkskrankheiten
Herz-Kreislauf-Leiden, Krebs und Atemwegserkrankungen.
Die nicht übertragbaren Krankheiten sind inzwischen weltweit zur Hauptursache
von Tod, Krankheit und Behinderung geworden. In Europa entfallen hierauf nach
Angaben der Weltgesundheitsorganisation bereits 86 Prozent der Todesfälle und
77 Prozent der Krankheitslast. Die gemeinsamen Risikofaktoren sind schnell
aufgezählt: Rauchen, schädlicher Alkoholkonsum, körperliche Inaktivität und
ungesunde Ernährung. Wir konsumieren heute doppelt so viel Zucker, Salz und
Fett, als uns guttäte und zu wenig Ballaststoffe. In den westlichen Ländern
nehmen die Menschen durchschnittlich mehr als 4000 Kilokalorien täglich zu
sich, obwohl die Hälfte angebracht wären. Dies hat auch in Deutschland dazu
geführt, dass inzwischen die Hälfte der Frauen und zwei Drittel der Männer
als übergewichtig gelten. Auch die Entwicklung bei Kindern ist
besorgniserregend.
Die Skizzierung der Ursachen zeigt, dass sie weitgehend außerhalb der
Kontrolle des Gesundheitssektors liegen. Der Lebensstil wird geprägt von der
Familie, von der peer group und vom nahen sozialen Umfeld - und zwar in den
jungen Jahren. Die entscheidende Frage ist, wie wir die ungesunde
Lebensstilprägung zurückdrängen und eine ernsthafte Gesundheitsförderung
betreiben können, statt eines teuren, oft ineffizienten Reparaturbetriebs.
Die klassische Antwort der Gesundheitspolitik in Deutschland ist der Appell an die Vernunft des
Einzelnen. Daneben gibt es gut gemeinte Angebote zur Gesundheitsförderung für die Einsichtigen,
in ihrer Vielzahl kaum noch überschaubar. Projekte wie "In Form" oder die Plattform
"Ernährung und Gesundheit" sind nur zwei Beispiele hierfür. Sie haben allerdings eines
gemeinsam: Es sind Insellösungen, nicht eingebettet in nachhaltige Regelstrukturen, und sie sind
mit wenigen Ausnahmen erfolglos.
Aus diesen Gründen findet in der internationalen Diskussion zurzeit ein
Paradigmenwechsel statt. Der erste UN-Gipfel zu den nicht übertragbaren Krankheiten im
letzten Jahr und die Europäische Strategie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) machen
dies deutlich. Ohne klare bevölkerungsbezogene Präventionsstrategien und ohne deutliche
Stärkung der Verhältnisprävention werden wir weiter scheitern. Nur wenn wir neben
Aufklärung und Appell das Umfeld des Menschen so gestalten, dass der gesunde Weg der
leichte Weg ( "the healthy choice the easy choice") wird, haben wir eine
Chance, den Zivilisationskrankheiten wirkungsvoll entgegenzutreten.
Als wesentliche Interventionen empfiehlt die WHO: Erstens: stärkere
Besteuerung von Tabak, Alkohol und verarbeiteten Nahrungsmitteln mit einem
hohen Gehalt an gesättigten Fettsäuren, Transfetten, Salz und Zucker, um die
Nachfrage zu senken und die Lebensmittelindustrie zu motivieren, die
Zusammensetzung ihrer Produkte zu verändern. Zweitens: Beschränkung der auf
Kinder zielenden Werbung für Lebensmittel mit hohem Salz-, Fett- und
Zuckergehalt und Verbot der Werbung für Tabakwaren. Drittens: Verbot von
Transfettsäuren in verarbeiteten Lebensmitteln und Ersetzen durch mehrfach
ungesättigte Fettsäuren. Viertens: Förderung einer gesünderen Ernährung durch
entsprechende Kennzeichnungsvorschriften. Fünftens: Die Reduzierung der
Salzaufnahme aus Lebensmitteln auf weniger als fünf Gramm pro Person und Tag.
Der Charme dieser Maßnahmen liegt darin, dass sie gesundheitsfördernde
Signale an die Gesamtbevölkerung senden und nicht nur an die ohnehin schon
Gesundheitsbewussten. Sie erfordern keine Finanzmittel, sondern generieren
solche. Wenn man sozialpolitische Benachteiligungen vermeiden will, kann man
die Steuermehreinnahmen verwenden für die Verbilligung gesunder Lebensmittel.
Ein weiterer Vorteil dieser Maßnahmen ist, dass sie marktkonform sind und
keine zusätzliche Bürokratie erfordern.
Dass deutliche Preissignale in Verbindung mit massiver Verbraucheraufklärung
wirksam sein können, hat die Antiraucherkampagne gezeigt. Nach einer neuen
Untersuchung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hat sich der
Anteil der Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren, der zur Zigarette greifen,
in zehn Jahren mehr als halbiert.
In anderen Ländern wird mit der Besteuerung gesundheitsschädlicher und adipogener
Lebensmittel inzwischen Ernst gemacht - über die klassischen Sondersteuern auf Tabak
und Alkohol hinaus. In Deutschland haben diese Vorschläge bisher keine Befürworter in
der Gesundheitspolitik. Das scheint nicht nur daran zu liegen, dass wir momentan einen
liberalen Gesundheitsminister haben, sondern an einer generellen Angst, die Freiheit
des Individuums einzuschränken, auch wenn sie die Freiheit zugunsten der Krankheit ist.
Nach dem Trauma der Diktaturen in Deutschland scheint dies eine feste ideologische
Fixierung zu sein, die nur schwer aufzubrechen ist. Trotz permanenter Misserfolge baut
man weiter ausschließlich auf den Appell an die Vernunft des Einzelnen. Augenscheinlich
brauchen wir in Deutschland einen gesundheitspolitischen "Gau", damit eine
Trendwende geschafft wird. Vergangenes Jahr haben wir eine Energiewende geschafft, nach
einem Gau am anderen Ende der Welt. Lebensstilkrankheiten tun zunächst nicht weh, es
sind schleichende Krankheiten, die keine unmittelbare Betroffenheit schaffen, sowohl
was den Einzelnen betrifft wie für die Gesellschaft. Es gibt keine Bilder wie von
Flutkatastrophen oder Erdbeben, und darum wird kein Handlungsdruck ausgelöst. Erst wenn
der Herzinfarkt da ist, wird dies als Einschnitt empfunden und alles getan, um den
nächsten zu verhindern.
Die bisherige Trägheit der Gesundheitspolitik sollte uns aber nicht daran
hindern, die internationale Debatte hierzulande in Gang zu bringen. Wenn es
die Gesundheitspolitik nicht schafft, werden wir Unterstützung erhalten aus
der Finanzpolitik und aus der Wirtschaft. Der Finanzpolitik wird immer
deutlicher, dass wir die Kosten für eine gute Versorgung der Kranken nicht
aufbringen werden, wenn wir das Anwachsen der chronischen Erkrankungen nicht
umkehren. Schon heute verursachen zwanzig Prozent der Versicherten achtzig
Prozent der Ausgaben der Krankenkassen, und das ganz überwiegend für die
Behandlung chronischer Krankheiten und ihrer Folgen. Und in der Wirtschaft
sieht man angesichts der demographischen Entwicklung immer klarer, dass nur
eine frühzeitige Gesundheitsförderung die Gewähr für eine vitale Belegschaft
bietet. Finanzpolitik und Wirtschaft sind diejenigen, die der Gesellschaft
als Erste deutlich machen werden, dass Prävention genauso wichtig ist wie
Versorgung, und zwar gerade auch im Interesse derjenigen, die auf
medizinische Versorgung angewiesen sind.
Der Autor ist Geschäftsführer der Deutschen Diabetes-Gesellschaft
Alle Rechte vorbehalten © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am
Main
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