ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de
Betreff: AG Gesundheit
Listenarchiv
- From: "Dr. Holger Scholz" <praxis AT dr-scholz.de>
- To: "AG Gesundheit" <ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de>
- Subject: [AG-Gesundheit] zukünftige Gesundheitspolitik
- Date: Wed, 16 May 2012 10:24:08 +0200
- List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-gesundheitswesen>
- List-id: AG Gesundheit <ag-gesundheitswesen.lists.piratenpartei.de>
Zur Information, wen es interessiert:
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.05.2012, Nr. 114, S. N2
Steuern auf schädliche Nahrung, mehr sozialer Druck - wie sollen die Leute
sonst zur Vernunft kommen? / Von Dietrich Garlichs
Die rasante Ausbreitung der neuen Zivilisationskrankheiten, die mit unserem
Lebensstil zusammenhängen, ist kein neues Phänomen. In den fünfziger Jahren
gab es in Deutschland kaum Menschen mit Diabetes, ihre Zahl lag bei weniger
als ein Prozent der Bevölkerung. Heute sind es mehr als sechs Millionen
Menschen, Dunkelziffer nicht eingerechnet, und Hunderttausende kommen jedes
Jahr hinzu. Ähnlich ist die Situation bei den anderen Volkskrankheiten
Herz-Kreislauf-Leiden, Krebs und Atemwegserkrankungen.
Die nicht übertragbaren Krankheiten sind inzwischen weltweit zur Hauptursache
von Tod, Krankheit und Behinderung geworden. In Europa entfallen hierauf nach
Angaben der Weltgesundheitsorganisation bereits 86 Prozent der Todesfälle und
77 Prozent der Krankheitslast. Die gemeinsamen Risikofaktoren sind schnell
aufgezählt: Rauchen, schädlicher Alkoholkonsum, körperliche Inaktivität und
ungesunde Ernährung. Wir konsumieren heute doppelt so viel Zucker, Salz und
Fett, als uns guttäte und zu wenig Ballaststoffe. In den westlichen Ländern
nehmen die Menschen durchschnittlich mehr als 4000 Kilokalorien täglich zu
sich, obwohl die Hälfte angebracht wären. Dies hat auch in Deutschland dazu
geführt, dass inzwischen die Hälfte der Frauen und zwei Drittel der Männer
als übergewichtig gelten. Auch die Entwicklung bei Kindern ist
besorgniserregend.
Die Skizzierung der Ursachen zeigt, dass sie weitgehend außerhalb der
Kontrolle des Gesundheitssektors liegen. Der Lebensstil wird geprägt von der
Familie, von der peer group und vom nahen sozialen Umfeld - und zwar in den
jungen Jahren. Die entscheidende Frage ist, wie wir die ungesunde
Lebensstilprägung zurückdrängen und eine ernsthafte Gesundheitsförderung
betreiben können, statt eines teuren, oft ineffizienten Reparaturbetriebs.
Die klassische Antwort der Gesundheitspolitik in Deutschland ist der Appell
an die Vernunft des Einzelnen. Daneben gibt es gut gemeinte Angebote zur
Gesundheitsförderung für die Einsichtigen, in ihrer Vielzahl kaum noch
überschaubar. Projekte wie "In Form" oder die Plattform "Ernährung und
Gesundheit" sind nur zwei Beispiele hierfür. Sie haben allerdings eines
gemeinsam: Es sind Insellösungen, nicht eingebettet in nachhaltige
Regelstrukturen, und sie sind mit wenigen Ausnahmen erfolglos.
Aus diesen Gründen findet in der internationalen Diskussion zurzeit ein
Paradigmenwechsel statt. Der erste UN-Gipfel zu den nicht übertragbaren
Krankheiten im letzten Jahr und die Europäische Strategie der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) machen dies deutlich. Ohne klare
bevölkerungsbezogene Präventionsstrategien und ohne deutliche Stärkung der
Verhältnisprävention werden wir weiter scheitern. Nur wenn wir neben
Aufklärung und Appell das Umfeld des Menschen so gestalten, dass der gesunde
Weg der leichte Weg ( "the healthy choice the easy choice") wird, haben wir
eine Chance, den Zivilisationskrankheiten wirkungsvoll entgegenzutreten.
Als wesentliche Interventionen empfiehlt die WHO: Erstens: stärkere
Besteuerung von Tabak, Alkohol und verarbeiteten Nahrungsmitteln mit einem
hohen Gehalt an gesättigten Fettsäuren, Transfetten, Salz und Zucker, um die
Nachfrage zu senken und die Lebensmittelindustrie zu motivieren, die
Zusammensetzung ihrer Produkte zu verändern. Zweitens: Beschränkung der auf
Kinder zielenden Werbung für Lebensmittel mit hohem Salz-, Fett- und
Zuckergehalt und Verbot der Werbung für Tabakwaren. Drittens: Verbot von
Transfettsäuren in verarbeiteten Lebensmitteln und Ersetzen durch mehrfach
ungesättigte Fettsäuren. Viertens: Förderung einer gesünderen Ernährung durch
entsprechende Kennzeichnungsvorschriften. Fünftens: Die Reduzierung der
Salzaufnahme aus Lebensmitteln auf weniger als fünf Gramm pro Person und Tag.
Der Charme dieser Maßnahmen liegt darin, dass sie gesundheitsfördernde
Signale an die Gesamtbevölkerung senden und nicht nur an die ohnehin schon
Gesundheitsbewussten. Sie erfordern keine Finanzmittel, sondern generieren
solche. Wenn man sozialpolitische Benachteiligungen vermeiden will, kann man
die Steuermehreinnahmen verwenden für die Verbilligung gesunder Lebensmittel.
Ein weiterer Vorteil dieser Maßnahmen ist, dass sie marktkonform sind und
keine zusätzliche Bürokratie erfordern.
Dass deutliche Preissignale in Verbindung mit massiver Verbraucheraufklärung
wirksam sein können, hat die Antiraucherkampagne gezeigt. Nach einer neuen
Untersuchung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hat sich der
Anteil der Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren, der zur Zigarette greifen,
in zehn Jahren mehr als halbiert.
In anderen Ländern wird mit der Besteuerung gesundheitsschädlicher und
adipogener Lebensmittel inzwischen Ernst gemacht - über die klassischen
Sondersteuern auf Tabak und Alkohol hinaus. In Deutschland haben diese
Vorschläge bisher keine Befürworter in der Gesundheitspolitik. Das scheint
nicht nur daran zu liegen, dass wir momentan einen liberalen
Gesundheitsminister haben, sondern an einer generellen Angst, die Freiheit
des Individuums einzuschränken, auch wenn sie die Freiheit zugunsten der
Krankheit ist. Nach dem Trauma der Diktaturen in Deutschland scheint dies
eine feste ideologische Fixierung zu sein, die nur schwer aufzubrechen ist.
Trotz permanenter Misserfolge baut man weiter ausschließlich auf den Appell
an die Vernunft des Einzelnen. Augenscheinlich brauchen wir in Deutschland
einen gesundheitspolitischen "Gau", damit eine Trendwende geschafft wird.
Vergangenes Jahr haben wir eine Energiewende geschafft, nach einem Gau am
anderen Ende der Welt. Lebensstilkrankheiten tun zunächst nicht weh, es sind
schleichende Krankheiten, die keine unmittelbare Betroffenheit schaffen,
sowohl was den Einzelnen betrifft wie für die Gesellschaft. Es gibt keine
Bilder wie von Flutkatastrophen oder Erdbeben, und darum wird kein
Handlungsdruck ausgelöst. Erst wenn der Herzinfarkt da ist, wird dies als
Einschnitt empfunden und alles getan, um den nächsten zu verhindern.
Die bisherige Trägheit der Gesundheitspolitik sollte uns aber nicht daran
hindern, die internationale Debatte hierzulande in Gang zu bringen. Wenn es
die Gesundheitspolitik nicht schafft, werden wir Unterstützung erhalten aus
der Finanzpolitik und aus der Wirtschaft. Der Finanzpolitik wird immer
deutlicher, dass wir die Kosten für eine gute Versorgung der Kranken nicht
aufbringen werden, wenn wir das Anwachsen der chronischen Erkrankungen nicht
umkehren. Schon heute verursachen zwanzig Prozent der Versicherten achtzig
Prozent der Ausgaben der Krankenkassen, und das ganz überwiegend für die
Behandlung chronischer Krankheiten und ihrer Folgen. Und in der Wirtschaft
sieht man angesichts der demographischen Entwicklung immer klarer, dass nur
eine frühzeitige Gesundheitsförderung die Gewähr für eine vitale Belegschaft
bietet. Finanzpolitik und Wirtschaft sind diejenigen, die der Gesellschaft
als Erste deutlich machen werden, dass Prävention genauso wichtig ist wie
Versorgung, und zwar gerade auch im Interesse derjenigen, die auf
medizinische Versorgung angewiesen sind.
Der Autor ist Geschäftsführer der Deutschen Diabetes-Gesellschaft
Alle Rechte vorbehalten © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am
Main
- [AG-Gesundheit] Krebsinformationsdienst, sozialpiraten, 14.05.2012
- Re: [AG-Gesundheit] Krebsinformationsdienst, Ignorant, 15.05.2012
- Re: [AG-Gesundheit] Krebsinformationsdienst, LouisB, 15.05.2012
- Re: [AG-Gesundheit] Krebsinformationsdienst, Ignorant, 15.05.2012
- Re: [AG-Gesundheit] Krebsinformationsdienst, LouisB, 15.05.2012
- Re: [AG-Gesundheit] Krebsinformationsdienst, Morgan le Fay, 15.05.2012
- Re: [AG-Gesundheit] Krebsinformationsdienst, Privacy, 15.05.2012
- Re: [AG-Gesundheit] Krebsinformationsdienst, David Pleiss, 15.05.2012
- [AG-Gesundheit] zukünftige Gesundheitspolitik, Dr. Holger Scholz, 16.05.2012
- Re: [AG-Gesundheit] zukünftige Gesundheitspolitik, Morgan le Fay, 16.05.2012
- Re: [AG-Gesundheit] zukünftige Gesundheitspolitik, Dr. Holger Scholz, 17.05.2012
- Re: [AG-Gesundheit] zukünftige Gesundheitspolitik, Martin E. Waelsch, 17.05.2012
- Re: [AG-Gesundheit] zukünftige Gesundheitspolitik, Ignorant, 17.05.2012
- Re: [AG-Gesundheit] zukünftige Gesundheitspolitik, Dr. Holger Scholz, 17.05.2012
- Re: [AG-Gesundheit] zukünftige Gesundheitspolitik, Dr. Holger Scholz, 17.05.2012
- Re: [AG-Gesundheit] zukünftige Gesundheitspolitik, Morgan le Fay, 16.05.2012
- Re: [AG-Gesundheit] Krebsinformationsdienst, Privacy, 15.05.2012
- Re: [AG-Gesundheit] Krebsinformationsdienst, Ignorant, 15.05.2012
Archiv bereitgestellt durch MHonArc 2.6.19.