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ag-gesundheitswesen - Re: [AG-Gesundheit] zukünftige Gesundheitspolitik

ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de

Betreff: AG Gesundheit

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Re: [AG-Gesundheit] zukünftige Gesundheitspolitik


Chronologisch Thread 
  • From: "Dr. Holger Scholz" <praxis AT dr-scholz.de>
  • To: "AG Gesundheit" <ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de>
  • Subject: Re: [AG-Gesundheit] zukünftige Gesundheitspolitik
  • Date: Thu, 17 May 2012 00:26:02 +0200
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-gesundheitswesen>
  • List-id: AG Gesundheit <ag-gesundheitswesen.lists.piratenpartei.de>

Hallo,

ich habe das hier nur eingestellt, der Artikel gibt nicht meine persönliche
Meinung wider.

Es ist aber unzweifelhaft, dass chronische Erkrankungen massiv zunehmen. Und
die Ursachen dafür sind zum großen Teil Menschen gemacht. Auf psychischer
Ebene und auf physischer Ebene. Auf der psychischen Ebene würde ich an erster
Stelle unser Wirtschafts- und Sozialsystem sehen. Es ist extrem schwer, sich
den Auswirkungen dieses Systems zu entziehen. Auf der physischen Ebene steht
für mich an erster Stelle die Ernährung, noch vor Mißbrauch von Suchtmitteln.

Ich kann und möchte keine Empfehlung geben wie man es konkret umsetzen kann.
Aber Fakt ist, wenn wir an diesen massiven Fehlentwicklungen nichts ändern,
dann wird die Zahl der chronisch Kranken zunehmen. Und dann ist auch völlig
egal, wie perfekt die medizinische Versorgung ist. Für die allermeisten
chronischen Erkrankungen haben wir nämlich keine Heilung, sondern nur eine
lebenslange Medikation. Heilung kann es nur durch Änderung des Verhaltens
geben. Wenn die Mehrheit das nicht will, und davon gehe ich ehrlich gesagt
aus, dann läuft es eben darauf hinaus, die Menschen durch geeignete
Medikation in der Arbeitswelt zu halten, damit sie diesem System weiter
dienen können. Aus meiner Sicht ist das nichts anderes als eine Form moderner
Sklaverei.

VG
HS

-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: ag-gesundheitswesen-bounces AT lists.piratenpartei.de
[mailto:ag-gesundheitswesen-bounces AT lists.piratenpartei.de] Im Auftrag von
Morgan le Fay
Gesendet: Mittwoch, 16. Mai 2012 11:40
An: ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de
Betreff: Re: [AG-Gesundheit] zukünftige Gesundheitspolitik

Hallo Holger,

das ist ja alles recht und grün, aber "Vernunft" kann man nicht gesetzlich
festschreiben.
Was ist ein "gesundes" Nahrungsmittel? Und wieviel davon? Ist
genmanipuliertes Getreide "gesund"? Oder Bier? Oder Kaffee?
Reagiert jeder Mensch gleich auf die Zufuhr von Nahrung/Energie?

Soweit ich weiß, muss in Kneipen mindestens 1 alkoholfreies Getränk billiger
sein als das preiswerteste alkoholische. Das ist auch in Ordnung.
Gehe ich aber z.B. in meiner (oft sehr knappen) Pause zum "Kochlöffel", dann
zahle ich für ein halbes Hähnchen um die 3 Euro, der gemischte Salat dort
kostet aber knapp 4 Euro. Gut, wir könnten ja vorschreiben, dass 1 "gesundes"
nahrungsmittel preiswerter sein muss als die preiswerteste Currywurscht. Aber
der Salat ist ja auch tatsächlich aufwändiger in der Vorbereitung!

Selbst etwas zubereiten, kann ich knicken, dafür reicht meine Zeit niemals.
Und dauernd vorbereitetes Zeug aufwärmen ist auch nicht gerade etwas für
Gourmets. Wie löst man dieses Problem?

Ganz richtig finde ich die Aussage, dass der Grundstein zum Adipösen in der
Jugend gelegt wird. Aber auch hier muss man sehen, dass es Familien gibt, wo
beide Elternteile arbeiten müssen, um über die Runden zu kommen. Und was
macht der Junior, dem man 2 Euro für ein Käsebrot aus der Schulkantine gibt?
Er holt sich einen Schokoriegel, denn das Verständnis fehlt den Kids doch
einfach noch.

Wie sieht es aus bei Leuten mit Allergien, die dies und jenes aus
gesundheitlichen Gründen nicht essen dürfen? Wie sieht es aus, wenn wir im
Winter nicht nur gesund, sondern ökologisch verantwortbar essen wollen? Da
wächst nämlich bei uns nicht viel und man muss sich u.U.
seinen "gesunden" Spargel aus Peru einfliegen lassen.

Die FAZ macht es sich m.E. zu einfach.

Gruß
Harry



Am 16.05.2012 10:24, schrieb Dr. Holger Scholz:
> Zur Information, wen es interessiert:
>
>
> Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.05.2012, Nr. 114, S. N2
>
> Steuern auf schädliche Nahrung, mehr sozialer Druck - wie sollen die
> Leute sonst zur Vernunft kommen? / Von Dietrich Garlichs
>
> Die rasante Ausbreitung der neuen Zivilisationskrankheiten, die mit unserem
> Lebensstil zusammenhängen, ist kein neues Phänomen. In den fünfziger Jahren
> gab es in Deutschland kaum Menschen mit Diabetes, ihre Zahl lag bei weniger
> als ein Prozent der Bevölkerung. Heute sind es mehr als sechs Millionen
> Menschen, Dunkelziffer nicht eingerechnet, und Hunderttausende kommen jedes
> Jahr hinzu. Ähnlich ist die Situation bei den anderen Volkskrankheiten
> Herz-Kreislauf-Leiden, Krebs und Atemwegserkrankungen.
>
> Die nicht übertragbaren Krankheiten sind inzwischen weltweit zur
> Hauptursache von Tod, Krankheit und Behinderung geworden. In Europa
> entfallen hierauf nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation bereits 86
> Prozent der Todesfälle und 77 Prozent der Krankheitslast. Die gemeinsamen
> Risikofaktoren sind schnell aufgezählt: Rauchen, schädlicher Alkoholkonsum,
> körperliche Inaktivität und ungesunde Ernährung. Wir konsumieren heute
> doppelt so viel Zucker, Salz und Fett, als uns guttäte und zu wenig
> Ballaststoffe. In den westlichen Ländern nehmen die Menschen
> durchschnittlich mehr als 4000 Kilokalorien täglich zu sich, obwohl die
> Hälfte angebracht wären. Dies hat auch in Deutschland dazu geführt, dass
> inzwischen die Hälfte der Frauen und zwei Drittel der Männer als
> übergewichtig gelten. Auch die Entwicklung bei Kindern ist
> besorgniserregend.
>
> Die Skizzierung der Ursachen zeigt, dass sie weitgehend außerhalb der
> Kontrolle des Gesundheitssektors liegen. Der Lebensstil wird geprägt von
> der Familie, von der peer group und vom nahen sozialen Umfeld - und zwar in
> den jungen Jahren. Die entscheidende Frage ist, wie wir die ungesunde
> Lebensstilprägung zurückdrängen und eine ernsthafte Gesundheitsförderung
> betreiben können, statt eines teuren, oft ineffizienten Reparaturbetriebs.
>
> Die klassische Antwort der Gesundheitspolitik in Deutschland ist der Appell
> an die Vernunft des Einzelnen. Daneben gibt es gut gemeinte Angebote zur
> Gesundheitsförderung für die Einsichtigen, in ihrer Vielzahl kaum noch
> überschaubar. Projekte wie "In Form" oder die Plattform "Ernährung und
> Gesundheit" sind nur zwei Beispiele hierfür. Sie haben allerdings eines
> gemeinsam: Es sind Insellösungen, nicht eingebettet in nachhaltige
> Regelstrukturen, und sie sind mit wenigen Ausnahmen erfolglos.
>
> Aus diesen Gründen findet in der internationalen Diskussion zurzeit ein
> Paradigmenwechsel statt. Der erste UN-Gipfel zu den nicht übertragbaren
> Krankheiten im letzten Jahr und die Europäische Strategie der
> Weltgesundheitsorganisation (WHO) machen dies deutlich. Ohne klare
> bevölkerungsbezogene Präventionsstrategien und ohne deutliche Stärkung der
> Verhältnisprävention werden wir weiter scheitern. Nur wenn wir neben
> Aufklärung und Appell das Umfeld des Menschen so gestalten, dass der
> gesunde Weg der leichte Weg ( "the healthy choice the easy choice") wird,
> haben wir eine Chance, den Zivilisationskrankheiten wirkungsvoll
> entgegenzutreten.
>
> Als wesentliche Interventionen empfiehlt die WHO: Erstens: stärkere
> Besteuerung von Tabak, Alkohol und verarbeiteten Nahrungsmitteln mit einem
> hohen Gehalt an gesättigten Fettsäuren, Transfetten, Salz und Zucker, um
> die Nachfrage zu senken und die Lebensmittelindustrie zu motivieren, die
> Zusammensetzung ihrer Produkte zu verändern. Zweitens: Beschränkung der auf
> Kinder zielenden Werbung für Lebensmittel mit hohem Salz-, Fett- und
> Zuckergehalt und Verbot der Werbung für Tabakwaren. Drittens: Verbot von
> Transfettsäuren in verarbeiteten Lebensmitteln und Ersetzen durch mehrfach
> ungesättigte Fettsäuren. Viertens: Förderung einer gesünderen Ernährung
> durch entsprechende Kennzeichnungsvorschriften. Fünftens: Die Reduzierung
> der Salzaufnahme aus Lebensmitteln auf weniger als fünf Gramm pro Person
> und Tag.
>
> Der Charme dieser Maßnahmen liegt darin, dass sie gesundheitsfördernde
> Signale an die Gesamtbevölkerung senden und nicht nur an die ohnehin schon
> Gesundheitsbewussten. Sie erfordern keine Finanzmittel, sondern generieren
> solche. Wenn man sozialpolitische Benachteiligungen vermeiden will, kann
> man die Steuermehreinnahmen verwenden für die Verbilligung gesunder
> Lebensmittel. Ein weiterer Vorteil dieser Maßnahmen ist, dass sie
> marktkonform sind und keine zusätzliche Bürokratie erfordern.
>
> Dass deutliche Preissignale in Verbindung mit massiver
> Verbraucheraufklärung wirksam sein können, hat die Antiraucherkampagne
> gezeigt. Nach einer neuen Untersuchung der Bundeszentrale für
> gesundheitliche Aufklärung hat sich der Anteil der Jugendlichen zwischen 12
> und 17 Jahren, der zur Zigarette greifen, in zehn Jahren mehr als halbiert.
>
> In anderen Ländern wird mit der Besteuerung gesundheitsschädlicher und
> adipogener Lebensmittel inzwischen Ernst gemacht - über die klassischen
> Sondersteuern auf Tabak und Alkohol hinaus. In Deutschland haben diese
> Vorschläge bisher keine Befürworter in der Gesundheitspolitik. Das scheint
> nicht nur daran zu liegen, dass wir momentan einen liberalen
> Gesundheitsminister haben, sondern an einer generellen Angst, die Freiheit
> des Individuums einzuschränken, auch wenn sie die Freiheit zugunsten der
> Krankheit ist. Nach dem Trauma der Diktaturen in Deutschland scheint dies
> eine feste ideologische Fixierung zu sein, die nur schwer aufzubrechen ist.
> Trotz permanenter Misserfolge baut man weiter ausschließlich auf den Appell
> an die Vernunft des Einzelnen. Augenscheinlich brauchen wir in Deutschland
> einen gesundheitspolitischen "Gau", damit eine Trendwende geschafft wird.
> Vergangenes Jahr haben wir eine Energiewende geschafft, nach einem Gau am
> anderen Ende der Welt. Lebensstilkrankheiten tun zunächst nicht weh, es
> sind schleichende Krankheiten, die keine unmittelbare Betroffenheit
> schaffen, sowohl was den Einzelnen betrifft wie für die Gesellschaft. Es
> gibt keine Bilder wie von Flutkatastrophen oder Erdbeben, und darum wird
> kein Handlungsdruck ausgelöst. Erst wenn der Herzinfarkt da ist, wird dies
> als Einschnitt empfunden und alles getan, um den nächsten zu verhindern.
>
> Die bisherige Trägheit der Gesundheitspolitik sollte uns aber nicht daran
> hindern, die internationale Debatte hierzulande in Gang zu bringen. Wenn es
> die Gesundheitspolitik nicht schafft, werden wir Unterstützung erhalten aus
> der Finanzpolitik und aus der Wirtschaft. Der Finanzpolitik wird immer
> deutlicher, dass wir die Kosten für eine gute Versorgung der Kranken nicht
> aufbringen werden, wenn wir das Anwachsen der chronischen Erkrankungen
> nicht umkehren. Schon heute verursachen zwanzig Prozent der Versicherten
> achtzig Prozent der Ausgaben der Krankenkassen, und das ganz überwiegend
> für die Behandlung chronischer Krankheiten und ihrer Folgen. Und in der
> Wirtschaft sieht man angesichts der demographischen Entwicklung immer
> klarer, dass nur eine frühzeitige Gesundheitsförderung die Gewähr für eine
> vitale Belegschaft bietet. Finanzpolitik und Wirtschaft sind diejenigen,
> die der Gesellschaft als Erste deutlich machen werden, dass Prävention
> genauso wichtig ist wie Versorgung, und zwar gerade auch im Interesse
> derjenigen, die auf medizinische Versorgung angewiesen sind.
>
> Der Autor ist Geschäftsführer der Deutschen Diabetes-Gesellschaft
>
> Alle Rechte vorbehalten © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH,
> Frankfurt am Main
>
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