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nds-gifhorn - [NDS-Gifhorn] Das Tao der technischen Entwicklung

nds-gifhorn AT lists.piratenpartei.de

Betreff: Ortsgruppe Gifhorn (Niedersachsen)

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[NDS-Gifhorn] Das Tao der technischen Entwicklung


Chronologisch Thread 
  • From: "Ralf S" <ra-live AT freenet.de>
  • To: <nds-gifhorn AT lists.piratenpartei.de>
  • Subject: [NDS-Gifhorn] Das Tao der technischen Entwicklung
  • Date: Sat, 14 Jun 2014 10:24:15 +0200
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/nds-gifhorn>
  • List-id: "Ortsgruppe Gifhorn \(Niedersachsen\)" <nds-gifhorn.lists.piratenpartei.de>

Folgendes Problem bringt Geldmacher zum Nachdenken: Sowohl von meiner Frau als auch aus der öffentlichen Debatte höre ich in letzter Zeit häufiger den Satz: "Wie bekomme ich Beruf, Beziehung, Kinder und Freizeit unter einen Hut?". Von meiner Oma, die soagr 1 Kind mehr als meine Frau aufzog und 2 Weltkriege über sich ergehen lassen musste und durch die Kriegsgefangenschaft von Opa längere Zeit alleinerziehend war, habe ich das nie gehört. Jetzt haben wir Ingenieure doch aber unseren Frauen zahllose technische Hilfsmittel entwickelt, die damals Oma noch nicht zur Verfügung standen. Oma hatte kein Auto, kein Mobiltelefon, keinen Mikrowellenherd, keine Tiefkühltruhe, keine Zentralheizung. In der Zeit in der sie ihre Kinder großzog verfügte nicht mal über Festnetztelefon und auch kein fließendes Wasser, keine Dusche und kein WC. Würde ich jetzt versuchen die innere Zufriedenheit beider Frauen zu vergleichen postuliere ich hier, denn nachmessen kann ich das leider nicht, jetztJürgen ganz der Ingenieur, dass auch beide in etwa gleich zufrieden bzw. unzufrieden waren. Gleichzeitig weiß ich doch aber von vielen Kollegen, dass der innere Antrieb, die vielen technischen Geräte zu entwickeln, die jetzt meiner Frau und uns allen zur Verfügung stehen, natürlich schon in erster Linie das Geld war, das man damit verdienen kann, aber in zweiter Linie immerhin auch der Gedanke, dass sie dazu dienen sollten, den Menschen ihren Alltag zu erleichtern, so dass sie dann mehr Zeit haben. Diese Strategie war offensichtlich nicht nur wenig zielführend, sondern hat sogar einen gegenteiligen Effekt hervorgerufen. Der moderne Mensch fühlt sich wesentlich gehetzter als die alte Generation. Und das gilt nicht etwa nur für die Frauen. Die Menschen, die in einem afrikanischen Kraal weitestgehend ohne technische Hilfsmittel leben, wirken doch viel geduldiger als wir, obwohl sie eine geringere Lebenserwartung aufweisen als die Unsrige, ihnen also objektiv weniger Zeit für ihr Dasein zur Verfügung steht. Sind wir Technikentwickler also grandios gescheitert? Da es doch unbestreitbar ist, dass man mit dem Auto schneller von A nach B kommt als zu Fuß oder mit dem Pferd, liegt die Vermutung nahe, dass wir alle einen Effekt übersehen haben, der anscheinend stärker ist als die einfache Arbeitserleichterung durch die Technik. Was aber könnte das sein?

Geldmacher grübelt. Was hat sich verändert, was kann man als die wesentliche Veränderung nehmen? Er schaut aus dem Fenster, man blickt direkt auf die besch-graue Fertigungshalle von der Firma neben an, die Türgriffe und Türinnenverkleidungen herstellt. Und der Groschen fällt ganz langsam in seinem Kopf, es ist die Energie, die wir unserem Gemeinwesen ständig zuführen. Wir verwenden heute vielmehr Energie als früher. In seiner Vorstellung nimmt er also einen Topf mit Wasser und stellt ihn auf den Herd. Geldmacher kocht gerne ausgesprochen fantasievoll und diese Vorstellung liegt ihm also. Der Topf ist sowas wie unser gesellschaftlicher Handlungsrahmen und wir sind die Wassermoleküle im Topf, denkt er. So jetzt machen wir mal den Herd an, führen also unserer Gesellschaft Energie zu. Was passiert jetzt? Erst einmal ne Ganze Weile nichts besonderes, dann aber hört man plötzlich ein Rauschen im Topf, richtig sichtbar ist noch nichts, irgendwann sieht man Gasblasen aufsteigen und man muss den Deckel richtig dolle festhalten, damit der sich bildende Wasserdampf nicht aus dem Topf abhaut. Wartet man lange genug und hält den Deckel nicht dolle genug fest, sind die Wassermoleküle irgendwann aus dem Topf verwchwunden, und, was ganz wichtig ist, es gibt keine Möglichkeit und keine Technik auf der ganzen Welt, die bewirken kann, dass genau diese Wassermoleküle wieder im Topf landen. Und was sagt mir das jetzt, fragt sich Geldmacher. Hmm, also erstmal passiert ne ganze Weile nichts offensichtliches, wir leben also in demselben Handlungsrahmen, nur mit mehr Energie ausgestattet. Das nennen wir wohl den Fortschritt. Dann entsteht dieses Rauschen, die einzelnen Moleküle der Gemeinschaft werden beweglicher und das Rauschen ist ja nur ein Ausdruck ganz vieler kleiner Molekülkollisionen im Topf. Aha, wir fangen an, uns gegenseitig auf den Geist zu gehen, denkt Geldmacher. Das Rauschen ist ein Symbol für die zunehmende Aggressivität. Na klar, irgendwann ist der Druck so groß, dass wir alle aus dem Topf rauswollen. Und der Schäuble muss immer mehr Druck aufwenden, um das zu verhindern. Wir rasen da jetzt schon ziemlich hektisch hin und her und stoßen deshalb auch gegen andere.

Natürlich, sagt sich Jürgen, deshalb gibt's auch kaum noch Fahrgemeinschaften und man sieht immer seltener Tramper und die Autos werden immer schneller und auch größer, weil man ja immer mehr Schutz vor diesen Zusammenstößen braucht. Und die Ehen gehen kaputt, weil man die permanenten Kollisionen nicht mehr aushält. Geldmacher nimmt das Gummiband von seinem Schreibtisch mit dem er seine Kugelschreiber für gewöhnlich zusammenhält, da er beobachtet hat, dass 5 Kugelschreiber nie auf einmal geklaut werden. Er nimmt es zwischen seine Daumen und spannt es langsam auf. Er stellt sich vor, dass er der rechte Daumen ist und sie der linke. Jetzt fängt er an die Daumen immer schneller hin und her zu bewegen. Die Kollegen schauen etwas irritiert hinter ihren Bildschirmen hoch als sie ihn so vor sich grummelnd mit seinem Gummiband hantieren sehen. So hektisch kennt man ihn gar nicht. Jetzt sind die Arme auch in vollem Einsatz und das Band springt plötzlich ab und trifft natürlich genau auf seinen rechten Daumen, Autsch, ruft er aus, aber der Schmerz am Daumen ist nicht das was eigentlich weh tut in diesem Augenblick, vielmehr ist es die tiefe Melancholie dieser Erkenntnis, schmerzlich wird ihm bewußt, dass die Krise seiner Ehe anscheinend nur die logische Folge seines Handelns als technischer Entwickler ist, und er versteht im Moment des Schmerzes mit einem Schlag, warum er so wenig gegen den Kollaps der Beziehung mit Katrin getan hat.

Es ist ihm damals schlichtweg nichts eingefallen, um das sich anbahnende Unheil zu verhindern. Und jetzt weiß er auch warum: Sie sind an das Wirken eines Naturgesetzes gebunden, der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, jetzt hat er ihn endlich wirklich verstanden. Alles strebt einem Maximum der Unordnung zu, so hatte er es gelernt, heute würde man wohl eher das Wort Unordnung durch den Begriff Komplexität ersetzen. Begrenzt wird die Komplexität der Welt da draußen nur durch die Energie, die in ihr steckt. Ja, mein Gott, wo soll das denn hinführen, schießt es ihm durch den Kopf. Die Bahnen , die wir ziehen werden also immer schneller und auch immer individueller. Die Töpfe werden auch schmelzen, irgendwann, denkt er, also werden sich Nationalstaaten, Gewerkschaften, gesellschaftliche Klassen wie Bildungsbürgertum, Arbeiterschaft Unternehmertum langsam auflösen und er sieht jetzt diesen mit seinen liebgewordenen Töpfen und Pfannen, denn wie wir wissen kocht er ja wirklich gern und benutzt auch gern anständiges Handwerkszeug. Jetzt sieht er das alles ineinander verschmolzen auf einem total kaputten Herd vor sich. Und seine Gedanken halten plötzlich inne. Der Prozess kommt also doch irgendwann zum Erliegen.

Erleichtert atmet Geldmacher auf. Puh, nochmal davon gekommen, denkt er, aber schon gleich meldet sich die nächste Frage. Wie und wann wird das passieren? Wieder muss er an Katrin denken und es schießt ihm ein Naturfilm über irgendwelche Wasservögel in den Kopf. Der Sprecher hatte erklärt, dass der Autoverkehr dazu führt, dass bei diesen Vögel so häufig der Fluchtinstinkt ausgelöst wird, dass sie nicht mehr genügend Zeit für die Partnersuche übrig haben, die Vermehrungsrate wird zu klein und der Population droht das Aussterben. So wird´s uns wohl auch ergehen, denkt er und wir haben die kritische Energie schon überschritten, die Menschen finden keine Partner mehr, da ihre Bahnen zu schnell und individuell sind, und die Begegnung mit Anderen immer kürzer und heftiger werden (die Kollisionsenergie nimmt ständig zu), so dass auch sie keine Zeit mehr zur Vermehrung haben und ganz besonders, was ihm schon auf vielen Elternabenden aufgefallen ist, es bleibt ihnen keine Zeit mehr zur Aufzucht ihrer Brut, oh, Verzeihung, es bleibt keine Zeit mehr für die Erziehung der Kinder. Noch schlimmer, auf ihren Bahnen sind die Menschen irgendwann so abgekapselt, schon aus Angst vor dem nächsten Zusammenprall, dass sie auch niemand anderen mehr erziehen können.





  • [NDS-Gifhorn] Das Tao der technischen Entwicklung, Ralf S, 14.06.2014

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